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Zehntes Kapitel.
Über die Erinnerung.

§ 1. Betrachtung. – Das nächste Vermögen des Geistes, wodurch er einen weiteren Fortschritt zur Erkenntnis macht, ist das, was ich Erinnerung nenne, oder das Festhalten der einfachen Ideen, die er durch Sinneswahrnehmung oder Selbstbeobachtung erworben hat. Das geschieht in doppelter Weise: zuerst dadurch, daß er die ihm zugeführte Idee eine Zeitlang thatsächlich im Auge behält, was man Betrachtung nennt.

§ 2. Gedächtnis. – Die andere Weise der Erinnerung ist die Kraft, in unserem Bewußtsein solche Ideen wieder zu beleben, die nach dem ersten Eindruck verschwunden, oder gewissermaßen aus den Augen beiseite gelegt waren, was wir thun, wenn wir uns Wärme oder Licht, gelb oder süß vorstellen, nachdem das Objekt entfernt worden. Für das Verständnis unserer Bewußtseinsfunktionen überhaupt ist es von wesentlicher Bedeutung, den Unterschied und das wechselseitige Verhältnis von Wahrnehmung, Erinnerung und Vorstellung schärfer aufzufassen und genauer zu bestimmen, als Locke hier und weiter unten im Kapitel XIX, § 1, gethan hat. Die Wahrnehmung ist durch einen gleichzeitigen Sinneseindruck bedingt, aus dem sie durch den Verstand gebildet wird, und mit dessen Aufhören sie verschwindet. Der Sinneseindruck scheint uns dadurch veranlaßt zu werden, daß Dinge oder Vorgänge außerhalb oder innerhalb unserer leiblichen Person auf unsere Sinnesorgane und durch deren Vermittelung auf unser großes Gehirn einwirken; wie aber schon in den Anmerkungen zu Kapitel VIII, § 15, und Kapitel IX, § 3, angedeutet worden, dürfen wir dies nicht so verstehen, als ob darin eine Einwirkung von Dingen oder Vorgängen außerhalb unseres Bewußtseins auf uns als Subjekt des letzteren läge. Der transcendente (außerbewußte) Realgrund unserer Sinneseindrücke ist und bleibt für uns ebenso unerkennbar wie der transcendente Realgrund der subjektiven Funktionen (Geistesthätigkeiten), wodurch sich aus dem Rohmaterial der Sinneseindrücke in unserem Bewußtsein die objektive Welt der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken aufbaut. Wir unterscheiden und benennen jedoch unsere Sinneseindrücke nach ihrem scheinbaren Ursprung aus Affektionen unserer Sinnesorgane, und sagen, daß sie entweder außerhalb oder innerhalb unserer leiblichen Person lokalisiert seien, je nachdem diese Affektionen von Dingen oder Vorgängen außerhalb oder innerhalb dieser herrühren. Mit Hilfe des Verstandes liefert uns in solcher Weise der allgemeine Gefühlssinn unseres Leibes innere Wahrnehmungen oder Empfindungen, die übrigen Sinne – Geschmack, Geruch, Gehör, Tastsinn und Gesicht – teils auch noch solche, teils aber in zunehmendem Maße (der Reihe nach, zuletzt das Auge ausschließlich) äußere Wahrnehmungen, wobei der Verstand die Wahrnehmungen der übrigen Sinne denen des Auges dergestalt unterordnet, daß sie uns durch das Außending des Gesichtes verursacht zu sein scheinen. Die äußeren Wahrnehmungen sind aber gerade ebenso gut wie die Empfindungen innerhalb unseres individuellen Bewußtseinskreises lokalisiert. – Bestimmte Sinneseindrücke können sich, nachdem sie verschwunden waren, in gleicher Art wiederholen, dann wiederholt sich auch die von dem Verstande aus ihnen gebildete Wahrnehmung (so z. B. jedesmal, wenn wir unsere Augen schließen und wieder öffnen), wobei wir uns der Übereinstimmung beider bewußt werden; gleichwohl aber bleibt die zweite der ersten gegenüber eine neue und selbständige Wahrnehmung. Jede Wahrnehmung wird, auch ohne daß sie aufhört, sofort »erinnert«, d. h. zu etwas innerlich Beharrendem gemacht, denn nur dadurch werden wir uns nicht bloß ihrer etwaigen Veränderung, sondern auch ihrer unveränderten Fortdauer bewußt, aber erst, wenn der Sinneseindruck, und mit ihm die Wahrnehmung erlischt, tritt die Erinnerung für sich allein als solche im Bewußtsein auf. Diese Erinnerung kann nach und nach völlig erlöschen, aber auch nur zeitweilig latent werden, und später unwillkürlich oder willkürlich wieder auftauchen, oder von neuem aktuell werden, und dann bringt sie auch das Bewußtsein ihres Ursprungs aus einer bestimmten vergangenen Wahrnehmung wieder mit sich. Sie unterscheidet sich aber von einer selbständigen Wahrnehmung nicht bloß durch diese Zurückbeziehung, sondern vor allem durch ihre Unabhängigkeit von einem gegenwärtigen Sinneseindruck und das Bewußtsein dieser Unabhängigkeit, sowie dadurch, daß sie, eben weil der Sinneseindruck fehlt, nicht so fest und inhaltsreich ist, wie die Wahrnehmung, sondern viel unsicherer und undeutlicher als diese, nur ein mehr oder minder stark verblaßtes und verschwommenes Abbild derselben. Aus diesen zurückbleibenden und reproduzierten Erinnerungen bilden sich Vorstellungen, indem die untereinander verwandten Erinnerungen zusammenfließen, wodurch der Zusammenhang der einzelnen mit vergangenen individuellen Wahrnehmungen sich löst, und nur ein generischer Zusammenhang zwischen der Welt der Wahrnehmungen und der Welt der Vorstellungen übrigbleibt. Die Vorstellungen sind deshalb schon Abstrakta, wenn sie auch noch von verschwommenen Phantasiebildern begleitet und gewissermaßen getragen werden. Erhalten sie statt solcher die Wörter einer Sprache als Stütze, so werden aus den Vorstellungen Begriffe. Der Begriff ist die Bedeutung eines Wortes, und diese ist stets etwas Allgemeines, auch bei Eigennamen, die nicht eine einzelne früher zu bestimmter Zeit an einem gewissen Orte stattgehabte Sinneswahrnehmung des Individuums bezeichnen, sondern eine aus allen vergangenen Wahrnehmungen desselben vermittelst ihrer Erinnerung zusammengeflossene Vorstellung. Locke hat Wahrnehmungen und Empfindungen, Erinnerungen, Vorstellungen und Begriffe alle unter dem einen Ausdruck »Idee« zusammengefaßt, was freilich dem heutigen deutschen Sprachgebrauch dieses Wortes nicht entspricht. Dies ist das Gedächtnis, gleichsam die Vorratskammer unserer Ideen. Denn da der beschränkte Geist des Menschen nicht imstande ist, viele Ideen gleichzeitig ins Auge zu fassen und zu betrachten, so bedurfte er eines Repositoriums, um darin die Ideen aufzubewahren, die er zu einer anderen Zeit könnte gebrauchen müssen. Da aber unsere Ideen nur dem Geiste gegenwärtige Wahrnehmungen sind, die aufhören irgend etwas zu sein, wenn sie nicht mehr percipiert werden, so bedeutet die Aufbewahrung unserer Ideen in dem Repositorium des Gedächtnisses nur soviel, daß der Geist die Kraft hat, in vielen Fällen Wahrnehmungen, die er früher einmal gehabt hat, mit dem ihnen anhängenden Zusatze wieder zu beleben, daß sie früher einmal in seinem Besitze gewesen seien. In diesem Sinne sagt man, daß uns Ideen im Gedächtnis seien, während sie in der That nirgends wirklich vorhanden sind, vielmehr nur im Geiste eine Fähigkeit besteht, sie nach Belieben wieder zu beleben, sie gleichsam von neuem sich selber vorzuzeichnen, wenn auch einige mit mehr andere mit weniger Schwierigkeit, einige lebhafter und andere dunkler. Und so sagt man um des Beistandes dieser Fähigkeit willen, wir hätten alle die Ideen in unserem Verstande, die wir zwar nicht gegenwärtig wirklich betrachten, aber doch vor Augen bringen, wieder erscheinen lassen, und zum Gegenstande unseres Denkens machen können ohne Hilfe der sinnlichen Eigenschaften, wodurch sie uns zuerst eingeprägt wurden.

§ 3. Aufmerksamkeit, Wiederholung, Freude und Schmerz machen die Ideen dauernd. – Aufmerksamkeit und Wiederholung tragen viel dazu bei, gewisse Ideen im Gedächtnis fortbestehen zu lassen; diejenigen aber, welche natürlicherweise zuerst die tiefsten und dauerndsten Eindrücke machen, sind die von Freude oder Schmerz begleiteten. Da die Hauptaufgabe der Sinne darin besteht, uns das, was dem Körper schadet oder nützt, bemerkbar zu machen, so ist es, wie schon gezeigt worden, eine weise Anordnung der Natur, daß sich mit der Entstehung mancher Ideen in uns Schmerz verbindet, der bei den Kindern die Stelle der Überlegung und des vernünftigen Nachdenkens vertritt, und bei Erwachsenen schneller wirkt, als die Überlegung, so daß er beide, alt wie jung, schmerzbringende Gegenstände mit der für ihre Erhaltung notwendigen Eile vermeiden lehrt, und dem Gedächtnis beider Vorsicht für die Zukunft einschärft.

§ 4. Die Ideen verschwinden allmählich aus dem Gedächtnis. – Anbelangend das verschiedene Maß der Dauer, womit Ideen dem Gedächtnis eingeprägt werden, so kommt in Betracht, daß einige von ihnen in dem Verstande durch ein Objekt hervorgebracht sein können, das nur ein einziges Mal und nicht öfter auf die Sinne eingewirkt hat; andere, die sich mehr als einmal den Sinnen dargeboten haben, doch wenig beachtet sein mögen, weil der Geist, entweder aus Flüchtigkeit wie bei den Kindern, oder wegen anderweitiger Inanspruchnahme wie bei Erwachsenen, nur auf eine Sache bedacht, die Eindrücke nicht tief in sich aufgenommen hat. Und bei anderen, wo sie aus wiederholten Eindrücken sorgfältig aufgenommen waren, ist vielleicht das Gedächtnis, sei es nun wegen der Leibesbeschaffenheit oder wegen eines sonstigen Mangels, sehr schwach. In allen diesen Fällen verblassen die Ideen im Geiste rasch und verschwinden oft ganz aus dem Verstande, in dem sie nicht mehr Fußspuren oder Schriftzüge von sich zurücklassen wie über ein Kornfeld dahinfliegende Schatten, und der Geist wird so leer von ihnen, als ob sie niemals dagewesen wären.

§ 5. So gehen viele von den Ideen, die im Bewußtsein der Kinder beim Beginn ihrer Sinneswahrnehmung entstanden (einige vielleicht wie gewisse Empfindungen von Freude und Schmerz schon vor der Geburt, andere in den ersten Lebensjahren), wenn sie im weiteren Verlauf ihres Lebens sich nicht wiederholen, völlig verloren, ohne daß der geringste Schimmer von ihnen zurückbliebe. Dies läßt sich an denen beobachten, die in frühester Jugend durch einen Unfall ihr Gesicht verloren haben, bei welchen die Ideen der Farben, da von ihnen nur oberflächlich Kenntnis genommen war, und sie nicht wiederholt wurden, sich gänzlich verlieren, so daß nach einigen Jahren eine Vorstellung oder Erinnerung von Farben in ihrem Geiste ebensowenig mehr übrig ist, wie in dem der Blindgeborenen. Das Gedächtnis einzelner Menschen ist allerdings sehr fest, bis zum Wunderbaren; gleichwohl scheint ein beständiges Schwinden aller unserer Ideen stattzufinden, auch der am tiefsten eingeprägten und in den stärksten Gedächtnissen, so daß, wenn sie nicht zuweilen durch wiederholten Sinnesgebrauch oder Erinnerung an solche Objekte, die sie zuerst veranlaßt hatten, erneuert werden, der Eindruck sich verwischt, und schließlich nichts davon zu sehen übrigbleibt. So sterben oft die Ideen so gut wie die Kinder unserer Jugend vor uns, und unser Gedächtnis zeigt nur bei unserer Annäherung die Gräber, worauf, wenn auch Erz und Marmor noch vorhanden, doch die Inschriften von der Zeit verwischt und die Bildwerke zerbröckelt sind. Die in unserm Geiste hergestellten Gemälde sind in verbleichenden Farben angelegt, sie erlöschen und verschwinden, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit aufgefrischt werden. Wie weit unsere Leibesbeschaffenheit und die Natur unserer Lebensgeister hiebei beteiligt sind, und ob die Zusammensetzung des Gehirns den Unterschied begründet, daß es bei einigen die ihm eingeschriebenen Charaktere wie Marmor bewahrt, bei anderen wie Sandstein und bei noch anderen kaum besser als Sand, will ich hier nicht untersuchen, obgleich es wahrscheinlich ist, daß die Leibesbeschaffenheit zuweilen das Gedächtnis beeinflußt, weil wir mitunter finden, daß eine Krankheit den Geist aller seiner Ideen beraubt, und die Fieberhitze alle Bilder, die so dauernd zu sein schienen, wie in Marmor eingegraben, in wenigen Tagen zu Staub und Asche verbrennt.

§ 6. Beständig wiederholte Ideen gehen kaum verloren. – Was aber die Ideen selbst anbetrifft, so läßt sich leicht bemerken, daß diejenigen, die durch eine öftere Rückkehr der Gegenstände oder Vorgänge, die sie hervorbringen, am häufigsten aufgefrischt werden (worunter sich auch die befinden, die auf mehr als einem Wege in das Bewußtsein gelangen), sich am besten im Gedächtnis festsetzen, und am hellsten und längsten dort verbleiben; also die von den ursprünglichen Eigenschaften der Körper, nämlich Solidität, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und Ruhe, und die, welche fast beständig auf unsere Körper einwirken, wie Wärme und Kälte, und die, welche sich an allen Arten von Dingen zeigen, wie Dasein, Dauer und Zahl, die fast jeder Gegenstand, der auf unsere Sinne einwirkt, jeder Gedanke, der unsern Geist beschäftigt, mit sich bringt: diese, sage ich, und dergleichen Ideen gehen selten ganz verloren, so lange der Geist überhaupt noch irgend welche Ideen festhält.

§ 7. Bei der Erinnerung ist der Geist häufig aktiv. Bei dieser sekundären Wahrnehmung – wenn ich mich so ausdrücken darf – oder dem Wiedersehen der im Gedächtnis untergebrachten Ideen ist der Geist oftmals mehr als bloß passiv, indem das Erwachen der schlafenden Bilder zuweilen vom Willen abhängt. Der Geist macht sich häufig daran, eine verborgene Idee aufzusuchen, und wendet gleichsam die Augen der Seele ihr zu, obgleich sie mitunter auch in unserem Bewußtsein von selbst auftauchen und sich dem Verstande darbieten, und sehr oft durch ungestüme und stürmische Leidenschaften aufgejagt und aus ihren dunkeln Zellen an das offene Tageslicht hinausgetrieben werden, indem unsere Gemütsbewegungen uns Ideen ins Gedächtnis rufen, die sonst ruhig und unbeachtet liegen geblieben wären. Ferner ist in betreff der im Gedächtnis untergebrachten und gelegentlich durch den Verstand wieder belebten Ideen dies zu beachten, daß nicht nur (wie das Wort »wiederbeleben« andeutet) unter ihnen keine neu ist, sondern der Verstand auch von ihnen als von früheren Eindrücken Kenntnis nimmt, und seine Bekanntschaft mit ihnen als mit Ideen, die er früher gekannt hat, erneuert. So daß, obgleich die früher eingeprägten Ideen nicht alle fortdauernd vor Augen bleiben, sie doch bei der Erinnerung beständig als solche erkannt werden, die früher eingeprägt worden, d. h. vor Augen gestanden haben, und von denen der Verstand vormals Kenntnis genommen hat.

§ 8. Zwei Mängel kann das Gedächtnis haben: Vergeßlichkeit und Langsamkeit. – Nächst der Wahrnehmung ist das Gedächtnis für ein denkendes Wesen das Notwendigste. Seine Bedeutung ist so groß, daß, wo es fehlt, alle unsere übrigen Fähigkeiten großenteils nutzlos sind; in unseren Gedanken, Schlußfolgerungen und Erkenntnissen könnten wir nicht über die gegenwärtigen Objekte hinauskommen ohne den Beistand unseres Gedächtnisses, worin sich zwei Mängel zeigen können:

1. Daß es eine Idee ganz verliert; und insofern veranlaßt es vollständige Unwissenheit. Denn weil wir alles nur insoweit wissen können, als wir eine Idee davon haben, so befinden wir uns, wenn diese verschwunden ist, in völliger Unwissenheit.

2. Daß es sich langsam bewegt, und die in seinem Besitz und seiner Verwahrung befindlichen Ideen nicht rasch genug wieder hervorbringt, um dem Geiste bei eintretender Gelegenheit nützlich werden zu können. Wenn die Langsamkeit einen hohen Grad erreicht, so entsteht Stumpfsinn, und wer wegen dieses Mangels an seinem Gedächtnis die in demselben verwahrten Ideen nicht zur Hand hat, wenn Bedürfnis und Gelegenheit sie erfordern, dem könnten sie beinahe ebensogut ganz fehlen, weil sie ihm kaum zu irgend welchem Zwecke dienen. Der stumpfsinnige Mensch, der die Gelegenheit verliert, während er in seinem Sinne nach den Ideen sucht, die ihm gerade zu statten kommen sollten, ist bei seinem Wissen nicht viel besser daran als ein vollkommen Unwissender. Die Aufgabe des Gedächtnisses besteht also darin, dem Geiste eben die schlafenden Ideen darzubieten, deren er in jedem Augenblicke bedarf; darin, daß jemand sie bei allen Gelegenheiten gleich bei der Hand hat, besteht das, was wir Erfindungsgabe, Phantasie und Lebhaftigkeit des Geistes nennen.

§ 9. Das sind Mängel, die sich beobachten lassen, wenn wir das Gedächtnis eines Menschen mit dem eines anderen vergleichen. Von einem anderen Mangel können wir uns vorstellen, daß er dem menschlichen Gedächtnis im allgemeinen anhafte im Vergleich mit höheren, erschaffenen, denkenden Wesen, bei denen dieses Vermögen das menschliche so weit übertreffen mag, daß sie die ganze Scene aller ihrer früheren Handlungen beständig vor Augen haben mögen, und auch nicht ein Gedanke, den sie jemals gehabt haben, ihnen entfallen könnte. Die Allwissenheit Gottes, dem alle Dinge, vergangene, gegenwärtige und künftige bekannt sind, und für den die Gedanken der menschlichen Herzen immer offen daliegen, kann uns als Gewähr für die Möglichkeit davon dienen. Denn wer kann bezweifeln, daß Gott jenen herrlichen Geistern, seinen unmittelbaren Dienern, von seinen eigenen Vollkommenheiten so viel, wie ihm gefällt, mitteilen mag, soweit erschaffene endliche Wesen dessen fähig sind? Von jenem wunderbar begabten Manne, Monsieur Pascal, heißt es, daß bevor der Verfall seiner Gesundheit sein Gedächtnis geschwächt hatte, er nichts von allem, was er zu irgend einer Zeit seines vernünftigen Alters gethan, gelesen oder gedacht hatte, vergessen habe. Dies ist ein den meisten Menschen so wenig bekanntes Privilegium, daß es für die, welche gewöhnlichermaßen alle anderen an sich selbst messen, fast unglaublich erscheint, während seine Betrachtung uns doch helfen mag, unsere Gedanken zu noch größerer Vollkommenheit desselben D. h. des Gedächtnisses. bei höheren Klassen von Geistern zu erheben. Denn Monsieur Pascals Gedächtnis war noch mit der Beschränktheit behaftet, worin der menschliche Geist hier befangen ist, daß es eine große Mannigfaltigkeit von Ideen nur nacheinander, nicht alle auf einmal, enthalten konnte, wohingegen die verschiedenen Rangordnungen der Engel wahrscheinlich weitere Gesichtskreise haben, und einige von ihnen mit der Fähigkeit begabt sein mögen, ihr ganzes vergangenes Wissen zusammen zu behalten, und sich beständig wie in einem Gemälde auf einmal vor Augen zu stellen. Begreiflicherweise würde es kein geringer Gewinn für die Erkenntnis eines nachdenkenden Menschen sein, wenn alle seine vergangenen Gedanken und Schlußfolgerungen ihm stets gegenwärtig sein könnten, und deshalb mögen wir darin einen der Wege vermuten, worauf das Wissen der reinen Geister außerordentlich weit über das unsrige hinauskommen mag.

§ 10. Die Tiere haben Gedächtnis. – Diese Fähigkeit, die in das Bewußtsein eingeführten Ideen festzuhalten und aufzubewahren, scheinen manche andere Tiere in bedeutendem Grade ebensogut wie der Mensch zu besitzen. Denn von anderen Beispielen abgesehen macht der Umstand, daß Vögel Melodien erlernen, und die Versuche, die richtigen Noten zu treffen, die man bei ihnen beobachten kann, es für mich zweifellos, daß sie Wahrnehmung haben und Ideen im Gedächtnis behalten, die sie als Muster benutzen. Denn es scheint mir unmöglich, daß sie versuchen sollten, ihre Stimmen den Noten anzupassen (was sie augenscheinlich thun), wenn sie von diesen keine Ideen hätten. Denn, wenn ich auch zugeben wollte, daß der Ton mechanisch eine gewisse Bewegung der Lebensgeister in dem Gehirn der Vögel verursachen möge, während die Melodie thatsächlich gespielt wird, und daß die Bewegung sich zu den Muskeln der Flügel fortpflanzen, und der Vogel so mechanisch durch gewisse Geräusche fortgetrieben werden könne, weil das zur Erhaltung des Vogels dienen mag, so kann man doch hierin niemals einen Grund dafür finden, weshalb auch nur, während die Melodie gespielt würde, geschweige denn, nachdem sie aufgehört hätte, auf mechanische Weise solch eine Bewegung der Stimmorgane des Vogels entstehen sollte, daß sich dessen Laute den Noten der von außen kommenden Töne anpaßten, obwohl diese Nachahmung für die Erhaltung des Vogels von keinem Nutzen sein kann. Aber noch mehr, es läßt sich nicht mit irgend welchem Anschein von Vernunft annehmen (geschweige denn beweisen), daß Vögel ohne Sinneswahrnehmung und Gedächtnis ihre Laute nach und nach einer gestern gespielten Melodie immer näher bringen könnten, die, wenn sie keine Idee davon in ihrem Gedächtnis hätten, nirgends vorhanden wäre, und für sie kein Muster zur Nachahmung sein könnte, dem sie sich durch wiederholte Versuche anzunähern vermöchten. Denn es giebt keinen Grund dafür, weshalb der Ton einer Flöte in ihrem Gehirn Spuren hinterlassen sollte, die nicht sogleich, sondern erst nach wiederholten Versuchen dieselben Töne erzeugten, und es läßt sich nicht begreifen, weshalb die von ihnen selbst hervorgebrachten Töne nicht ebensogut wie die der Pfeife Spuren hinterlassen sollten, denen sie nachfolgen müßten. Ohne Zweifel besitzen die Tiere wenigstens in den höher organisierten Klassen nicht nur das Vermögen der Wahrnehmung, sondern auch das der Erinnerung; was der Mensch aber vor ihnen voraus hat, ist die Möglichkeit eines willkürlichen Gebrauches seiner intellektuellen Fähigkeiten überhaupt und insbesondere seines Gedächtnisses. Vgl. Vignoli, Über das Fundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreiche (Leipzig, Brockhaus, 1879), S. 210. Bei den Tieren fungiert der Intellekt oder dessen sogen. Organ (richtiger: seine sinnliche Selbstwahrnehmung), das große Gehirn, nur unwillkürlich (aber nicht etwa auch unbewußt!); darauf beruht die Möglichkeit ihrer Abrichtung und ihre Naivetät, wovon sich ein Analogon bei dem Menschen im frühesten Lebensalter zeigt. Bei dem heranwachsenden Menschen aber gewinnt der bewußte Wille oder die Willkür einen beherrschenden Einfluß auf den Intellekt oder das große Gehirn, und hierauf beruht es, daß diese bei dem Menschengeschlecht eine so viel größere und reichere Entwickelung gewonnen haben als selbst bei den am höchsten stehenden Tiergattungen. Denn ein Vermögen oder Organ, das willkürlich gebraucht werden kann, wird viel mehr und mannigfaltiger gebraucht als eins, was nur unwillkürlich fungiert, und davon ist eine stärkere und feinere Entwickelung des ersteren die notwendige Folge. – Vgl. auch Noiré, Die Lehre Kants und der Ursprung der Vernunft (Mainz, J. Diemer, 1882), S. 311, wo jedoch die menschliche Sprache, die selbst erst ein Ergebnis der Herrschaft des bewußten Willens über das Gehirn ist, als Vorbedingung für diese betrachtet wird.


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