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Drittes Kapitel.
Es giebt keine angeborenen praktischen Grundsätze.

§ 1. Keine moralischen Grundsätze sind so klar und so allgemein angenommen wie die vorerwähnten spekulativen Axiome. – Wenn den spekulativen Axiomen, die wir in dem vorigen Kapitel behandelt haben, thatsächlich kein allgemeiner Beifall von seiten aller Menschen zu teil wird, wie dort bewiesen ist, so ist es bei den praktischen Prinzipien noch weit augenscheinlicher, daß sie hinter einer allgemeinen Annahme zurückbleiben, und ich glaube, es wird schwierig sein, als Beispiel irgend eine moralische Regel anzuführen, die auf so allgemeinen und unverzüglichen Beifall Rechnung machen könnte, wie der Satz: »was ist, das ist«, oder für eine so offenbare Wahrheit gelten, wie der Satz: »kein Ding kann zugleich sein und nicht sein«. Daraus ergiebt sich, daß sie noch weniger Anspruch darauf machen können, angeboren zu sein; und dagegen, daß moralische Grundsätze dem Geiste von Natur eingeprägt sein könnten, erheben sich noch stärkere Zweifel wie bei den anderen. Nicht in dem Sinne, daß ihre Wahrheit dadurch irgendwie in Frage gestellt würde; sie sind ebenso wahr, aber nicht ebenso evident. Jene spekulativen Axiome sind durch sich selber einleuchtend, moralische Grundsätze erfordern aber Begründung und Erörterung und eine gewisse Anstrengung des Geistes, um die Gewißheit ihrer Wahrheit zu entdecken. Sie liegen nicht offen zu Tage wie von Natur dem Geiste eingegrabene Schriftzüge, die, falls es solche gäbe, notwendig durch sich selber sichtbar und vermöge ihres eigenen Lichtes gewiß und jedermann bekannt sein müßten. Das thut jedoch ihrer Wahrheit und Gewißheit keinen Abbruch, ebensowenig wie der Wahrheit oder Gewißheit des Satzes, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zweien rechten sind; weil dieser Satz nicht so einleuchtend ist wie der: »Das Ganze ist größer als ein Teil«, und nicht so geeignet, beim ersten Hören Beifall zu finden. Es genügt, daß die moralischen Regeln des Beweises fähig sind, und es ist deshalb unser eigener Fehler, wenn wir zu keiner sicheren Erkenntnis derselben gelangen. Die Unkenntnis derselben aber, worin sich viele Menschen befinden, und die Langsamkeit des Beifalls, womit andere sie aufnehmen, sind augenfällige Beweise dafür, daß sie nicht angeboren sind und sich ihrem Blick nicht ohne Nachforschung von selbst darbieten.

§ 2. Treue und Gerechtigkeit werden nicht von allen Menschen als Grundsätze anerkannt. – Ob es irgend welche Grundsätze der Moral giebt, worüber alle Menschen einverstanden sind, das möge jeder entscheiden, der nur einigermaßen mit der menschlichen Geschichte vertraut ist und sich über den Rauch seines eigenen Herdes hinaus umgesehen hat. Wo findet man eine praktische Wahrheit, die ohne Zweifel und Frage allgemein angenommen ist, wie sie sein müßte, wenn sie angeboren wäre? Die Gerechtigkeit und das Halten von Verträgen ist das, worüber die meisten Menschen einverstanden zu sein scheinen. Das ist ein Grundsatz, von dem man meint, er erstrecke sich bis in die Diebshöhlen und die Vereine der größten Schurken; auch die, die sich der Menschlichkeit am vollständigsten entäußert hätten, hielten untereinander doch Treue und befolgten die Regeln des Rechtes. Ich gebe zu, daß dieses sogar innerhalb ausgetretener Räuberbanden geschieht, aber nicht, weil sie darin angeborene Naturgesetze erblickten. Sie üben dieselben als Regeln, die im Kreise ihrer Gesellschaft zweckdienlich sind, undenkbar ist es jedoch, daß jemand die Gerechtigkeit als praktischen Grundsatz sollte angenommen haben, der zwar gegen seinen Miträuber ehrlich handelt, zugleich aber den nächsten besten ehrlichen Mann, der ihm begegnet, ausplündert oder tötet. Gerechtigkeit und Treue sind die allen Gesellschaften gemeinsamen Bindemittel, deshalb müssen selbst Ausgetretene und Räuber, die mit der ganzen übrigen Welt gebrochen haben, untereinander Treue halten und die Regeln der Billigkeit befolgen, sonst fehlt ihnen der Zusammenhalt. Kann aber wohl irgend jemand behaupten, daß diejenigen, die von Betrug oder Raub leben, angeborene Grundsätze der Treue und Gerechtigkeit haben, denen sie Anerkennung und Beifall zollen?

§ 3. Erwiderung auf den Einwand: obgleich die Menschen in ihren Handlungen sie verleugnen, erkennen sie die Grundsätze doch in ihrem Denken an. – Vielleicht wird man geltend machen, daß sie stillschweigend in ihrem Sinne dem beipflichten, womit ihr Thun in Widerspruch steht. Darauf erwidere ich erstens, daß ich immer die Handlungen der Menschen für die besten Anzeiger ihrer Gedanken gehalten habe. Weil es aber gewiß ist, daß die Handlungen der meisten Menschen und die offenen Bekenntnisse einiger jene Grundsätze entweder in Frage gestellt oder geleugnet haben, so läßt sich (auch wenn wir uns nur unter den Erwachsenen danach umsehen) ein allgemeiner Beifall für sie nicht feststellen, und ohne den ist der Schluß auf ihr Angeborensein unmöglich. Zweitens ist es höchst seltsam und unvernünftig, angeborene praktische Grundsätze anzunehmen, die nur auf eine Betrachtung hinauslaufen. Praktische Grundsätze, die aus der Natur entspringen, sind da, um bethätigt zu werden, und müssen eine Gleichförmigkeit des Handelns bewirken, nicht bloß eine theoretische Anerkennung ihrer Wahrheit, sonst ist ihre Unterscheidung von spekulativen Axiomen bedeutungslos. Ich gebe zu, daß die Natur dem Menschen ein Verlangen nach Glück und eine Abneigung vor dem Unglück eingepflanzt hat; das sind in der That angeborene praktische Prinzipien, die (wie es praktische thun müssen) unausgesetzt fortfahren, alle unsere Handlungen unaufhörlich zu bewirken und zu beeinflussen; sie lassen sich beständig und überall an allen Personen in jedem Lebensalter beobachten; aber das sind Neigungen der Begierde nach Wohlfahrt, nicht dem Verstande eingeprägte Wahrheiten. Ich leugne nicht, daß den Gemütern der Menschen natürliche Bestrebungen eingeprägt sind, und daß von dem ersten Erwachen der Sinne und des Verstandes an, es gewisse Dinge giebt, die ihnen angenehm und andere, die ihnen unangenehm sind, gewisse Dinge, wofür sie Zuneigung haben und andere, die sie zu vermeiden suchen; aber das verschlägt nichts für die Annahme von angeborenen Schriftzügen im Geiste, die als Prinzipien der unser Handeln regelnden Erkenntnis dienen sollen. Weit entfernt, daß das Vorhandensein von natürlichen Eindrücken auf den Verstand hiedurch bestätigt würde, ist dies vielmehr ein Argument dagegen, denn wenn es gewisse, dem Verstände als Erkenntnisprinzipien von Natur ausgeprägte Schriftzüge gäbe, so müßten wir ebenso gut wahrnehmen, daß sie beständig in uns wirkten und unsere Erkenntnis beeinflußten, wie wir das mit Bezug auf den Einfluß jener anderen auf den Willen und die Begierde thun, die niemals aufhören, die beständigen Springfedern und Motive aller unserer Handlungen zu sein und uns zu diesen, wie wir beständig fühlen, kräftig antreiben.

§ 4. Moralische Regeln bedürfen des Beweises, sind also nicht angeboren. – Ein anderer Grund, der mir die Existenz angeborener praktischer Grundsätze zweifelhaft macht, ist, daß sich, wie ich glaube, keine moralische Regel namhaft machen läßt, wofür man nicht mit Recht einen Beweis verlangen könnte, was vollkommen lächerlich und absurd wäre, wenn sie angeboren oder so gut wie von selbst einleuchtend wären; das aber muß jeder angeborene Grundsatz sein und weder einen Beweis zur Feststellung seiner Wahrheit nötig haben, noch einer Begründung bedürfen, um Billigung zu finden. Wer einerseits nach einem Grunde dafür fragte, weshalb kein Ding zugleich sein und nicht sein könne, oder anderseits einen Grund hierfür angeben wollte, von dem würde man glauben, daß ihm der gesunde Menschenverstand fehle. Dieser Satz ist durch sich selber einleuchtend und augenscheinlich wahr und bedarf keines anderen Beweises; wer die Ausdrücke versteht, pflichtet ihm um seiner selbst willen bei, sonst würde ihn dazu niemals irgend etwas bestimmen können. Würde aber die unerschütterlichste Regel der Moral und die Grundlage jeder socialen Tugend, »daß man gegen andere so handeln soll, wie man von ihnen behandelt zu werden wünscht«, jemandem vorgetragen, der sie noch nie gehört hätte, aber doch imstande wäre, ihren Sinn zu verstehen, würde der nicht, ohne etwas Ungereimtes zu thun, nach einem Grunde dafür fragen können? Und wäre nicht der, welcher diese Regel aufstellte, gehalten, ihm deren Wahrheit und Vernunftmäßigkeit nachzuweisen? Dies aber zeigt klar, daß sie nicht angeboren ist; denn wäre sie das, so könnte sie einen Beweis weder bedürfen noch erhalten, sondern müßte notwendig (wenigstens sobald sie gehört und verstanden wäre) als zweifellose Wahrheit, die auf keine Weise in Frage gestellt werden könnte, angenommen und bekräftigt werden. Die Wahrheit aller dieser moralischen Regeln hängt deshalb offenbar von einer anderen, höher stehenden ab, aus der sie hergeleitet werden müssen, was nicht der Fall sein könnte, wenn sie entweder angeboren oder so gut wie von selbst einleuchtend wären.

§ 5. Das Beispiel der Vertragstreue. – Daß man halten muß, was man versprochen hat, ist gewiß eine große und unbestreitbare Regel der Moral. Wenn aber ein Christ, der die Seligkeit und das Elend in einem anderen Leben im Auge hat, gefragt wird, warum man sein Wort halten muß, so wird er zur Antwort geben: »weil Gott, in dessen Macht das ewige Leben und der Tod stehen, das von uns verlangt.« Wird dagegen ein Hobbist gefragt, warum? so wird er antworten: »weil das öffentliche Wesen es verlangt und der Leviathan den bestraft, der es nicht thut.« Und wenn man einen von den alten Philosophen gefragt hätte, so würde er geantwortet haben: »weil es unehrenhaft, unter der Manneswürde, und der Tugend, der höchsten Vollendung der menschlichen Natur, zuwider wäre, anders zu handeln.«

§ 6. Die Tugend wird allgemein gebilligt, nicht weil sie angeboren, sondern weil sie nützlich ist. – Hieraus fließt natürlicherweise die große Mannigfaltigkeit der Ansichten über moralische Regeln, die sich unter den Menschen finden gemäß den verschiedenen Arten des Glücks, die sie im Auge haben oder zum Ziele nehmen, eine Mannigfaltigkeit, die es nicht geben könnte, wenn die praktischen Grundsätze angeboren und unseren Gemütern unmittelbar durch die Hand Gottes eingeprägt wären. Ich räume ein, das Dasein Gottes ist auf so manche Weise offenbar, und der Gehorsam, den wir ihm schuldig sind, stimmt mit dem Lichte der Vernunft so gut überein, daß ein großer Teil der Menschen für das natürliche Gesetz Zeugnis ablegt; aber ich glaube doch, es muß zugegeben werden, daß manche moralische Regeln sehr allgemein die Billigung der Menschen finden können, ohne daß diese den wahren Grund der Moralität wissen oder anerkennen, der nur in dem Willen und dem Gesetze eines Gottes bestehen kann, der die Menschen im Dunkel sieht, der Belohnungen und Strafen in seiner Hand hat, und Macht genug, um die hochmütigsten Übertreter zur Rechenschaft zu ziehen. Denn da Gott in unzertrennlicher Verbindung Tugend und öffentliches Wohl einander zugesellt und die Übung jener für die Erhaltung der Gesellschaft notwendig und für alle, mit denen ein tugendhafter Mensch zu thun hat, sichtbar nützlich gemacht hat: so ist es nicht zu verwundern, daß jedermann anderen gegenüber solche Regeln, aus deren Befolgung ihrerseits für ihn selbst sicher Gewinn zu erwarten ist, nicht nur einräumt, sondern empfiehlt und anpreist. Er kann ebensowohl aus Interesse wie aus Überzeugung das für heilig ausschreien, was nicht mit Füßen getreten und entweiht werden kann, ohne daß seine Wohlfahrt und Sicherheit verloren ginge. Obwohl die moralische und beständige Verbindlichkeit, die jenen Regeln augenscheinlich zukommt, hierdurch keinen Abbruch leidet, so zeigt dieses doch, daß die äußere Anerkennung, welche die Menschen in ihren Worten ihnen zollen, nicht beweist, daß sie angeborene Grundsätze sind; ja, es beweist nicht einmal, daß die Menschen ihnen als unverletzlichen Regeln ihres eigenen Handelns innerlich in ihrem eigenen Gemüte beipflichten; denn wir finden, daß Eigennutz und die Bedürfnisse dieses Lebens viele Menschen zu einem äußerlichen Bekenntnis und einer Billigung derselben bestimmen, deren Handlungen hinlänglich darthun, daß sie sich wenig um den Gesetzgeber bekümmern, der jene Regeln vorgeschrieben, und um die Hölle, die er zur Bestrafung ihrer Übertreter angeordnet hat.

§ 7. Die Handlungen der Menschen beweisen uns, daß das Gesetz der Tugend nicht ihr innerliches Prinzip ist. Denn wenn wir nicht aus Höflichkeit den Äußerungen der meisten Menschen zu viel Aufrichtigkeit zutrauen, vielmehr ihre Handlungen als die besten Anzeiger ihrer Gedanken betrachten wollen, so werden wir finden, daß sie für jene Regeln nicht solche innerliche Verehrung und von ihrer Gewißheit und Verbindlichkeit keine so volle Überzeugung hegen. Das große Prinzip der Moral: »anderen zu thun, was man wünscht, daß sie uns thun sollen«, wird mehr empfohlen als geübt. Aber die Verletzung dieser Regel kann nicht mehr sündhaft sein, als es wahnsinnig erscheinen würde und dem Interesse zuwiderlaufend, was die Menschen bei deren eigener Verletzung verfolgen, wenn jemand anderen lehren wollte, daß sie keine moralische Regel und nicht verbindlich sei. Vielleicht wird man geltend machen, daß uns das Gewissen wegen solcher Verletzungen strafe und so die innere Verbindlichkeit und Stabilität der Regel erhalten bleibe.

§ 8. Das Gewissen ist kein Beweis für irgend eine angeborene moralische Regel. – Darauf erwidere ich, daß meiner Meinung nach zweifellos, ohne daß sie ihnen ins Herz geschrieben wären, viele Menschen auf demselben Wege, wie sie zur Kenntnis anderer Dinge kommen, auch dazu gelangen mögen, manchen moralischen Regeln beizustimmen und sich von deren Verbindlichkeit zu überzeugen. Auch mögen andere infolge ihrer Erziehung, Gesellschaft und Landesgewohnheit desselben Sinnes werden, und ihre irgendwie gewonnene Überzeugung wird dazu dienen, das Gewissen in Thätigkeit zu setzen, was nichts anderes ist, als unsere eigene Meinung oder unser Urteil über den moralischen Wert oder Unwert unserer eigenen Handlungen. Und wenn das Gewissen ein Beweis von angeborenen Grundsätzen ist, dann mögen entgegengesetzte Dinge solche sein, weil manche Menschen mit demselben Gewissensdrange dem nachstreben, was andere vermeiden.

§ 9. Beispiele von Greuelthaten, die ohne Gewissensbisse ausgeübt werden. – Ich sehe jedoch nicht ein, wie die moralischen Regeln jemals von irgend welchen Menschen mit Zuversicht und Heiterkeit übertreten werden könnten, wenn sie angeboren und ihren Gemütern eingeprägt wären. Betrachte nur ein Kriegsheer bei der Plünderung einer Stadt und siehe zu, welche Beobachtung moralischer Grundsätze, oder welcher Sinn für diese, oder welche Gewissensregungen wegen aller dabei ausgeführten Gewaltthätigkeiten bemerkbar sind. Raub, Mord und Notzucht dienen den Menschen zur Kurzweil, wenn sie Strafe und Tadel nicht zu besorgen haben. Hat es nicht ganze Völker gegeben, und zwar solche, die zu den civilisiertesten Menschen gehörten, bei denen die Aussetzung ihrer Kinder, die im freien Felde dem Untergang durch Hunger oder wilde Tiere preisgegeben wurden, ein übliches Verfahren war, was ebensowenig wie deren Erzeugung verdammt ward oder Bedenken erregte? Werden nicht jetzt noch in einigen Ländern die Kinder in dasselbe Grab mit ihren Müttern gelegt, wenn diese bei der Niederkunft sterben, oder getötet, wenn ein vermeinter Astrolog erklärt, daß sie unter ungünstigen Sternen geboren seien? Und giebt es nicht Länder, wo die Kinder ihre Eltern, wenn diese ein gewisses Alter erreicht haben, ohne irgend welche Gewissensbisse töten oder aussetzen? In einem Teile Asiens werden die Kranken, wenn man an ihrem Aufkommen zweifelt, noch bevor sie gestorben sind, hinausgetragen und auf den Erdboden hingelegt und dort, dem Wind und Wetter ausgesetzt, verlassen, um ohne Beistand oder Mitleid umzukommen. Gruber apud Thevenot, P. IV., p. 13. Bei den Mingreliern, einem Volke, das sich zum Christentum bekennt, ist es etwas Gewöhnliches, ihre Kinder ohne Bedenken lebendig zu begraben. Lambert apud Thevenot, p. 38. Es giebt Gegenden, wo die Eltern ihre eigenen Kinder aufessen. Vossius de Nili origine, c. 18. 19. Die Karaiben pflegten ihre Kinder zu verschneiden, um sie zu mästen und zu verzehren. P. Mart. Dec. 1. Und Garcilasso de la Vega erzählt uns von einem Volke in Peru, dessen Angehörige die Kinder zu mästen und zu essen pflegten, die sie mit ihren weiblichen Kriegsgefangenen erzeugten; indem sie letztere zu dem Zwecke als Konkubinen hielten; und wenn sie über das Alter der Fruchtbarkeit hinaus gekommen waren, wurden auch die Mütter selbst getötet und verzehrt. H ist, des Incas, 1. I. c. 12. Die Tugenden, wodurch die Tououpinambos das Paradies zu verdienen glaubten, waren Rache und das Aufessen ihrer Feinde in Menge. Sie haben nicht einmal einen Namen für Gott Lery, c. 16, 216, 231. , und haben keine Religion, keinen Kultus. Die bei den Türken kanonisierten Heiligen führen ein Leben, das sich nicht ohne Verletzung des Anstandes beschreiben laßt. Eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte Stelle aus der Reise von Baumgarten, einem Buche, das man nicht häufig antrifft, will ich in der Sprache, worin es publiziert worden, wörtlich mitteilen: Ibi (sc. prope Belbes in Aegypto) vidimus sanctum unum Saracenicum inter arenarum cumulos ita, ut ex utero matris prodiit, nudum sedentem. Mos est ut didicimus Mahometistis, ut eos, qui amentes et sine ratione sunt, pro sanctis colant et venerentur. Insuper et eos, qui cum diu vitam egerint inquinatissimam, voluntariam demum poenitentiam et paupertatem, sanctitate venerandos deputant. Ejusmodi vero genus hominum libertatem quandam effrenem habent, domos quas volunt intrandi, edendi, bibendi, et quod majus est concumbendi; ex quo concubitu si proles secuta fuerit, sancta similiter habetur. His ergo hominibus dum vivunt, magnos exhibent honores; mortuis vero vel templa vel monumenta extruunt amplissima, eosque contingere ac sepelire maximae fortunae ducunt loco. Audivimus haec dicta et dicenda per interpretem a Mucrelo nostro. Insuper sanctum illum, quem eo loco vidimus, publicitus apprime commendari, eum esse hominem sanctum, divinum ac integritate praecipuum; eo quod, nec foeminarum unquam esset, nec puerorum, sed tantummodo asellarum concubitor atque mularum. (Peregr. Baumgarten, 1. II, c. 1, p. 73.) Mehr von derselben Art über diese kostbaren Heiligen unter den Türken findet man bei Pietro della Valle in dessen Brief vom 25. Januar 1616. Wo bleiben denn hier die angeborenen Grundsätze der Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Dankbarkeit, Billigkeit, Keuschheit? Oder wo bleibt der allgemeine Beifall, der uns für das Dasein solcher angeborenen Regeln Gewähr leistet? Tötung im Duell wird, wo die Mode sie für ehrenhaft erklärt hat, ohne Gewissensbisse begangen; ja an manchen Orten ist Schuldlosigkeit in dieser Beziehung die größte Schande. Und wenn wir uns in der Fremde umsehen, um die Menschen kennen zu lernen, wie sie sind, so werden wir finden, daß sie an einem Orte bereuen, etwas gethan oder unterlassen zu haben, wodurch andere an anderen Orten sich ein Verdienst zu erwerben glauben.

§ 10. Die Menschen haben praktische Grundsätze, die einander widerstreiten. – Wer die menschliche Geschichte sorgfältig durchgeht, seinen Blick in die Ferne auf die verschiedenen Völkerstämme richtet und ihre Handlungsweisen unbefangen betrachtet, wird die Überzeugung gewinnen, daß sich kaum ein moralischer Grundsatz nennen, oder eine Tugendregel erdenken läßt (mit alleiniger Ausnahme derer, die schlechthin notwendig sind, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten; – aber auch die werden unter verschiedenen Gesellschaften gewöhnlich beiseite gesetzt), die nicht an dem einen oder dem anderen Orte durch die allgemeine Sitte ganzer menschlicher Gesellschaften vernachlässigt und verworfen werden, für welche praktische Ansichten und Lebensregeln maßgebend sind, die zu denen anderer Menschen in vollständigem Gegensatz stehen.

§ 11. Ganze Völker verwerfen gewisse moralische Regeln. – Vielleicht wird man hier einwenden, es folge nicht, daß eine Regel unbekannt sei, weil sie gebrochen werde. Ich räume ein, daß dieser Einwand zutrifft, wo Menschen, obgleich sie das Gesetz übertreten, es doch nicht verleugnen, wo Furcht vor Schande, Tadel oder Strafe als Anzeichen davon dient, daß es ihnen noch eine gewisse Achtung einflößt. Unmöglich aber läßt sich denken, daß die Angehörigen eines ganzen Volkes insgesamt öffentlich verwerfen und verleugnen sollten, was jeder von ihnen sicher und unfehlbar als ein Gesetz erkennte; denn das müßten die thun, deren Gemüt es von Natur eingeprägt wäre. Es kann sein, daß sich mitunter Menschen zu moralischen Regeln bekennen, die sie in ihren geheimen Gedanken nicht für wahr halten, bloß um unter denen, die von deren Verbindlichkeit überzeugt sind, sich selbst in gutem Rufe und Achtung zu erhalten. Man kann sich aber nicht vorstellen, daß eine ganze Gesellschaft von Menschen öffentlich und ausdrücklich eine Regel verleugnen und verwerfen sollte, deren Eigenschaft als Gesetz ihnen in ihren eigenen Gemütern unfehlbar gewiß sein mußte, die, wie ihnen bekannt sein mußte, von allen Menschen, mit denen sie zu thun hatten, ebenso angesehen ward, weshalb jeder von ihnen abseiten anderer die volle Verachtung und den Abscheu befürchten mußte, die dem gebühren, der sich selbst der Menschlichkeit für bar erklärt, und dem, den sie, weil er die bekannten und natürlichen Maßstäbe für recht und unrecht verwechsele, nur als den erklärten Feind ihrer Ruhe und ihres Glückes betrachten konnten. Jeder praktische Grundsatz, der angeboren ist, muß jedermann als gerecht und gut bekannt sein. Es ist deshalb nahezu ein Widerspruch, anzunehmen, daß die Angehörigen ganzer Nationen in ihren Worten wie in ihren Thaten einmütig und insgesamt eben das Lügen strafen sollten, was jedem von ihnen durch den unabweislichsten Augenschein als wahr, recht und gut bekannt wäre. Dies genügt, um uns davon zu überzeugen, daß keine praktische Regel, die irgendwo allgemein und mit öffentlicher Billigung oder Erlaubnis übertreten wird, für angeboren gelten kann. Aber ich habe meiner Entgegnung auf diesen Einwand noch etwas Weiteres hinzuzufügen.

§ 12. Der Bruch einer Regel, sagt man, beweist nicht, daß sie unbekannt sei. Das gebe ich zu, behaupte aber: wenn ihr Bruch irgendwo allgemein für erlaubt gilt, so beweist dies, daß sie nicht angeboren ist. Zum Beispiel, laßt uns eine von den Regeln nehmen, die sich am offenbarsten aus der menschlichen Vernunft ergeben und der natürlichen Neigung des größten Teiles der Menschen entsprechen, so daß die Zahl derer am geringsten ist, die unverschämt genug gewesen sind, sie zu leugnen, oder unbedachtsam genug, sie zu bezweifeln. Wenn irgend eine für von Natur eingeprägt gelten kann, so denke ich, kann keine einen besseren Anspruch darauf haben, angeboren zu sein als die: »Eltern, beschützt und verpflegt eure Kinder.« Wenn man nun sagt, dies sei eine angeborene Regel, was versteht man hierunter? Entweder, daß sie ein angeborenes Prinzip sei, wodurch bei jeder Gelegenheit die Handlungen aller Menschen angeregt und geleitet würden; oder aber, daß sie eine dem Geiste aller Menschen eingeprägte Wahrheit sei, die sie deshalb erkennten und genehmigten. Aber weder in dem einen noch in dem anderen Sinne ist sie angeboren. Erstens, daß sie kein Prinzip ist, was die Handlungen aller Menschen beeinflußt, habe ich durch die vorhin angeführten Beispiele bewiesen; auch brauchen wir nicht so weit in der Ferne zu suchen wie in Mingrelien oder Peru, um Beispiele dafür zu finden, daß Eltern ihre Kinder vernachlässigen, mißhandeln, ja sogar töten, oder darin nur ein Übermaß von Brutalität gewisser wilder und barbarischer Nationen zu erblicken, wenn wir uns erinnern, daß es ein gewöhnlicher und unanstößiger Gebrauch bei den Griechen und Römern war, ihre unschuldigen Kinder ohne Mitleid oder Reue auszusetzen. Zweitens, daß sie eine angeborene, allen Menschen bekannte Wahrheit sei, ist ebenfalls unrichtig. Denn: »Eltern, beschützt eure Kinder!« ist soweit davon entfernt, eine angeborene Wahrheit zu sein, daß es überhaupt keine Wahrheit ist; es ist ein Befehl und nicht eine Behauptung, so daß die Prädikate Wahrheit oder Unwahrheit darauf gar nicht anwendbar sind. Damit es möglich werde, ihm als wahr beizustimmen, muß es in eine Behauptung umgewandelt werden, etwa so: »es ist die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu beschützen.« Was aber Pflicht heißt, läßt sich ohne ein Gesetz nicht verstehen, und ein Gesetz läßt sich nicht erkennen oder voraussetzen ohne einen Gesetzgeber oder ohne Lohn und Strafe; deshalb kann weder dieser noch irgend ein anderer praktischer Grundsatz angeboren, d. h. dem Gemüte als eine Pflicht eingeprägt sein, ohne daß man die Ideen von Gott, Gesetz, Verbindlichkeit, Strafe und einem künftigen Leben für angeboren hält denn es leuchtet von selbst ein, daß in Ländern, wo die allgemein statthafte Handlungsweise ihr entgegenläuft, auf den Bruch jener Regel in diesem Leben keine Strafe folgt, und sie folglich keine Gesetzeskraft hat. Aber diese Ideen (die insgesamt angeboren sein müssen, wenn irgend welche Pflicht das ist) sind soweit davon entfernt, angeboren zu sein, daß sie nicht einmal in jedem wissenschaftlich forschenden oder nachdenkenden Menschen, geschweige denn in jedem, der geboren ist, sich klar und deutlich vorfinden, und daß eine von ihnen, die unter allen am meisten angeboren zu sein scheint, es nicht ist (ich meine die Idee Gottes), das wird hoffentlich im nächsten Kapitel jedem nachdenkenden Menschen völlig einleuchtend werden.

§ 13. Aus dem Gesagten können wir, denke ich, den sicheren Schluß ziehen, daß keine praktische Regel, die irgendwo allgemein und ohne Widerspruch gebrochen wird, für angeboren gelten kann, da es unmöglich ist, daß Menschen ohne Scham oder Furcht zuversichtlich und heitern Sinnes eine Regel brechen sollten, die sie nicht umhin konnten, mit Gewißheit als eine von Gott aufgestellte zu betrachten (was sie thun müßten, wenn sie angeboren wäre), Im englischen Texte ist diese Parenthese an unrechter Stelle eingesetzt. deren Bruch dieser in einem Maße strafen werde, die ihn zu einem sehr schlechten Geschäft für den Übertreter machen würde. Ohne eine Erkenntnis dieser Art kann jemand niemals dessen gewiß sein, daß irgend etwas seine Pflicht sei. Unkenntnis des Gesetzes, Zweifel an demselben, die Hoffnung, der Kunde oder der Macht des Gesetzgebers sich zu entziehen u. dgl. m. mögen die Menschen verleiten, einer gegenwärtigen Lust stattzugeben. Aber man lasse jemanden den Fehltritt erkennen und die Rute daneben, und zugleich mit der Übertretung ein Feuer bereit zu deren Bestrafung; eine verlockende Lust und die Hand des Allmächtigen sichtbar emporgehalten und fertig, um Vergeltung zu üben (denn dies muß der Fall sein, wo irgend eine Pflicht dem Gemüte eingeprägt ist), und dann sage man mir, ob es für Leute mit solcher Aussicht, solcher sicheren Kenntnis wie diese, möglich ist, mutwillig ohne Bedenken gegen ein Gesetz zu verstoßen, was sie in unauslöschlichen Schriftzügen mit sich führen und was ihnen, während sie es brechen, starr vor Augen steht? ob Menschen zu derselben Zeit, wenn sie in sich die ihnen eingeprägten Verordnungen eines allmächtigen Gesetzgebers empfinden, mit Zuversicht und Heiterkeit dessen heiligste Befehle geringschätzen und unter die Füße treten können? endlich ob es möglich ist, daß, während jemand in solcher Weise dem angeborenen Gesetz und dem höchsten Gesetzgeber offen Trotz bietet, alle Zuschauer, ja selbst die Lenker und Herrscher des Volkes, erfüllt von demselben Bewußtsein sowohl des Gesetzes wie des Gesetzgebers, ihm das stillschweigend nachsehen sollten, ohne ihr Mißfallen zu bezeigen, oder den geringsten Tadel laut werden zu lassen? In den Begierden der Menschen liegen allerdings Antriebe zum Handeln, aber diese sind soweit davon entfernt, angeborene moralische Grundsätze zu sein, daß, wenn sie ihrem vollen Schwunge überlassen würden, sie die Menschen dazu führen würden, alle Moralität über den Haufen zu werfen. Die moralischen Gesetze sollen für diese ausschweifenden Begierden als Zügel und Schranke dienen, was sie nur sein können mit Hilfe von Belohnungen und Strafen, die den Genuß überwiegen werden, den jemand sich als Folge der Übertretung des Gesetzes versprechen mag. Wenn deshalb irgend etwas den Gemütern aller Menschen als Gesetz eingeprägt ist, so müssen alle Menschen unvermeidlich mit Sicherheit wissen, daß auf den Bruch desselben sicher und unausbleiblich Strafe folgen werde. Denn wenn man über etwas Angeborenes unwissend oder im Zweifel sein kann, so hat es keinen Zweck, auf angeborenen Grundsätzen zu bestehen und Gewicht darauf zu legen; Wahrheit und Gewißheit (die verlangten Dinge) werden durch sie ganz und gar nicht gewährt, vielmehr befinden wir uns mit ihnen in demselben unsicher schwankenden Zustande wie ohne sie. Ein augenscheinlich unzweifelhaftes Wissen von einer unausbleiblichen Strafe, groß genug, um von der Übertretung stark abzuschrecken, muß ein angeborenes Gesetz begleiten, es sei denn, daß man zugleich mit einem angeborenen Gesetze auch ein angeborenes Evangelium annehmen dürfte. Man mißverstehe mich hier nicht dahin, als ob ich deshalb, weil ich angeborene Gesetze leugne, glaubte, es gebe nur positive Gesetze. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem angeborenen Gesetze und einem Naturgesetze, zwischen etwas unserm Geiste bei seinem ersten Ursprung Eingeprägtem und etwas uns Unbekanntem, zu dessen Erkenntnis wir durch den Gebrauch und gehörige Anstrengung unserer natürlichen Fähigkeiten gelangen können. Und ich denke, beide verfehlen gleichermaßen die Wahrheit und verlaufen sich in entgegengesetzte Extreme, die entweder ein angeborenes Gesetz behaupten oder leugnen, daß sich durch das natürliche Licht, d. h. ohne Hilfe einer positiven Offenbarung, ein Gesetz erkennen lasse.

§ 14. Die, welche angeborene praktische Grundsätze behaupten, sagen uns nicht, worin sie bestehen. – Die Verschiedenheit, die hinsichtlich ihrer praktischen Grundsätze unter den Menschen besteht, ist so augenscheinlich, daß ich glaube, ich brauche nicht mehr zu sagen, um darzuthun, daß es unmöglich ist, vermittelst des allgemeinen Beifalls als Kennzeichen irgend welche angeborene moralische Regeln ausfindig zu machen, und sie genügt, um den Verdacht zu erwecken, daß die Annahme solcher angeborenen Grundsätze nur eine beliebig aufgefaßte Meinung ist, weil die, welche so zuversichtlich von ihnen sprechen, so sparsam damit sind, uns zu sagen, worin sie bestehen. Mit Recht ließe sich das von Leuten erwarten, die auf diese Meinung Gewicht legen, und man hat Ursache, entweder das Wissen oder das Wohlwollen derer zu bezweifeln, die, während sie erklären, daß Gott den Gemütern der Menschen die Grundlagen der Erkenntnis und die Regeln der Lebensweise eingeprägt habe, doch der Belehrung ihrer Nachbarn oder der Ruhe des Menschengeschlechtes so wenig günstig gesinnt sind, daß sie mitten in der Meinungsverschiedenheit, die die Menschen verwirrt, es unterlassen, ihnen nachzuweisen, worin dieselben bestehen. Freilich aber wäre es nicht nötig, sie zu lehren, wenn es solche angeborene Grundsätze gäbe. Fänden die Menschen solche angeborene Sätze ihrem Geiste aufgestempelt, so würden sie leicht imstande sein, diese von anderen Wahrheiten zu unterscheiden, die sie später gelernt und von ihnen abgeleitet hätten, und nichts könnte leichter sein, als zu wissen, was sie enthielten und wie viele es seien. Über ihre Anzahl könnte nicht mehr Zweifel bestehen, als über die Zahl unserer Finger, und jedes System würde dann wahrscheinlich bereit sein, sie uns Stück für Stück vorzulegen. Da jedoch, soviel mir bekannt, noch niemand versucht hat, ein Verzeichnis derselben aufzustellen, so darf man diejenigen nicht tadeln, die solche angeborene Grundsätze bezweifeln, weil sogar die, welche verlangen, daß man an deren Existenz glauben soll, uns nicht sagen, worin sie bestehen. Es läßt sich leicht vorhersehen, daß wenn verschiedene Angehörige verschiedener Sekten es unternehmen sollten, uns eine Liste der angeborenen praktischen Grundsätze zu liefern, sie nur solche aufzeichnen würden, die ihren verschiedenen Hypothesen entsprächen und geeignet wären, die Lehren ihrer besonderen Schulen oder Kirchen zu unterstützen; ein klarer Beweis dafür, daß es keine solche angeborenen Wahrheiten giebt. Ja, ein großer Teil der Menschen ist soweit davon entfernt, irgend welche angeborene moralische Grundsätze in sich zu finden, daß sie, indem sie den Menschen die Freiheit absprechen und sie dadurch zu bloßen Maschinen machen, nicht nur die angeborenen, sondern alle und jede moralische Regeln beseitigen, und keine Möglichkeit, an irgend welche davon zu glauben, für diejenigen übrig lassen, die nicht begreifen können, wie es ein Gesetz für ein Wesen geben könne, das nicht frei zu handeln vermöge, und aus diesem Grunde müssen alle Grundsätze der Tugend notwendig von denen verworfen werden, die Moralität und Mechanismus – zwei nicht leicht miteinander verträgliche und zusammen bestehende Dinge – nicht miteinander vereinigen können.

§ 15. Prüfung der angeborenen Prinzipien des Lord Herbert. – Da mir, nachdem ich Vorstehendes geschrieben hatte, mitgeteilt ward, daß Lord Herbert in seinem Buche de veritate die angeborenen Prinzipen verzeichnet, zog ich ihn sofort zu Rate in der Hoffnung, bei einem Manne von so großen Fähigkeiten etwas zu finden, was mich in diesem Punkte zufriedenstellen und meiner Nachforschung ein Ziel setzen möchte. In seinem Kapitel de instinctu naturali, p. 72, edit. 1656 fand ich folgende sechs Kennzeichen seiner notitiae communes: 1. prioritas, 2. independentia, 3. universalitas, 4. certitudo, 5. necessitas, d. h. Wie er das Wort erklärt: faciunt ad hominis conservationem, 6. modus conformationis, i. e. assensus nulla interposita mora. Und später am Schlusse seiner kleinen Abhandlung de religione laici sagt er von diesen angeborenen Prinzipien: Adeo ut non unius cujusvis religionis confinio arctentur, quae ubique vigent veritates. Sunt enim in ipsa mente coelitus descriptae, nullisque traditionibus, sive scriptis, sive non scriptis obnoxiae, p. 3. Und: Veritates nostrae catholicae, quae tanquam indubia Dei effata in foro interiori descriptae. Nachdem er so die Kennzeichen der angeborenen Prinzipien oder gemeinsamen Erkenntnisse angegeben und behauptet hat, daß sie von der Hand Gottes dem menschlichen Geiste eingeprägt seien, schreitet er dazu fort, sie zu verzeichnen, und es sind folgende: 1. Esse aliquod supremum numen; 2. numen illud coli debere; 3. virtutem cum pietate conjunctam optimam esse rationem cultus divini; 4. resipiscendum esse a peccatis; 5. dari praemium vel poenam post hanc vitam transactam. Wenn ich auch zugebe, daß dies klare Wahrheiten sind, und solche, denen, falls sie recht erklärt werden, ein vernünftiges Wesen seinen Beifall schwerlich verweigern kann, so meine ich doch, daß er weit davon entfernt geblieben ist, zu beweisen, daß sie angeborene Eindrücke in foro interiori descriptae seien. Denn ich muß mir erlauben zu bemerken:

§ 16. Erstens, daß diese fünf Sätze entweder nicht alle oder mehr als alle gemeinsamen, von dem Finger Gottes unserem Geiste eingeschriebenen Erkenntnisse sind – wenn es vernünftig wäre, überhaupt an solche Erkenntnisse zu glauben – weil es andere Sätze giebt, die sogar nach seinen eigenen Regeln einen ebenso gerechten Anspruch auf einen derartigen Ursprung haben und ebenso gut für angeborene Prinzipien gelten können, wie wenigstens einige der fünf von ihm aufgezählten, z. B. »thue andern, was du willst, daß man dir thue«, und wohl erwogen vielleicht noch einige Hundert mehr.

§ 17. Zweitens, daß sich nicht alle seine Kennzeichen an jedem von seinen fünf Sätzen finden lassen; nämlich sein erstes, zweites und drittes Kennzeichen passen genau auf keinen von ihnen, und das erste, zweite, dritte, vierte und sechste Kennzeichen passen nur schlecht auf seinen dritten, vierten und fünften Satz. Denn abgesehen davon, daß die Geschichte uns viele Menschen, ja ganze Nationen kennen lehrt, die einige derselben oder alle bezweifeln oder für falsch halten, vermag ich nicht einzusehen, wie der dritte, nämlich: »Tugend mit Frömmigkeit verbunden ist der beste Gottesdienst«, ein angeborenes Prinzip sein kann, während der Name oder Wortlaut »Tugend« so schwer verständlich, in seiner Bedeutung so großer Unsicherheit unterworfen, und die damit bezeichnete Sache so bestritten und schwer erkennbar ist. Darum kann er nur eine sehr unsichere Regel für das menschliche Handeln und von sehr geringem Nutzen für unsere Lebensführung sein, weshalb er ganz ungeeignet dazu ist, als ein angeborenes praktisches Prinzip aufgeführt zu werden.

§ 18. Denn wenn wir diesen Satz nach seiner Bedeutung auffassen (weil der Sinn und nicht der Wortlaut das Prinzip oder die gemeinsame Erkenntnis ausmachen muß), nämlich: »Tugend ist der beste Gottesdienst«, d. h. ist das am meisten Gottgefällige, so ist er, wenn unter Tugend, wie gewöhnlich geschieht, Handlungen verstanden werden, die nach den voneinander abweichenden Meinungen verschiedener Länder für lobenswert gelten, so weit davon entfernt, gewiß zu sein, daß er nicht einmal wahr ist. Werden unter Tugend Handlungen verstanden, die mit Gottes Willen oder dem göttlichen Gesetz übereinstimmen, was der wahre und alleinige Maßstab der Tugend ist, wenn dieses Wort gebraucht wird, um das seiner eigenen Natur nach Rechte und Gute zu bezeichnen, dann ist der Satz: »Tugend ist der beste Gottesdienst«, vollkommen wahr und gewiß, aber von sehr geringem Nutzen im menschlichen Leben, weil er nur darauf hinausläuft, daß es Gott gefällt, wenn man thut, was er befiehlt; ein Satz, dessen Wahrheit man sicherlich erkennen kann, ohne zu wissen, was es ist, das Gott befiehlt, so daß man von irgend einer Regel oder einem Prinzip seines Handelns ebenso weit entfernt bleibt, wie vorher. Und einen Satz, der nicht mehr sagt, als daß es Gott gefällt, wenn man thut, was er befiehlt, den werden, glaube ich, wenige für ein angeborenes, dem Geiste aller Menschen eingeschriebenes moralisches Prinzip gelten lassen (so wahr und gewiß er auch sein mag), weil man allzu wenig aus ihm lernt. Wer das thut, wird mit Recht Hunderte von Sätzen für angeborene Prinzipien halten dürfen, weil es viele giebt, die einen ebenso guten Anspruch wie dieser darauf haben, als solche zu gelten, obwohl noch niemand sie jemals zu dem Range angeborener Prinzipien erhoben hat.

§ 19. Ebenso wenig läßt sich aus dem vierten Satze (die Menschen müssen ihre Sünden bereuen) eine Belehrung entnehmen, bevor bestimmt worden, welche Handlungen unter dem Ausdruck »Sünden« gemeint sind. Denn da das Wort peccata oder Sünden gewöhnlich gebraucht wird, um im allgemeinen böse Handlungen zu bezeichnen, die den Thätern Strafe zuziehen werden, was kann es dann für ein großes Moralprinzip sein, zu sagen, wir müßten bedauern und aufhören etwas zu thun, was uns Unheil zuziehen werde, so lange wir nicht erfahren, worin die Handlungen, die solche Folge haben, insbesondere bestehen? Freilich ist dieser Satz vollkommen wahr und wohl dazu geeignet, denen zur Beachtung eingeprägt zu werden, die, wie man annimmt, gelernt haben, welche Handlungen aller Art Sünden sind, aber er kann so wenig wie der früher besprochene für ein angeborenes Prinzip gelten, oder, wenn er angeboren wäre, irgend etwas nützen, es sei denn, daß die besonderen Maße und Grenzen aller Tugenden und Laster, dem menschlichen Geiste eingraviert, und ebenfalls angeborene Prinzipien wären, was ich für sehr zweifelhaft halte. Vielmehr wird es meiner Ansicht nach deshalb kaum möglich erscheinen, daß Gott dem menschlichen Geiste Prinzipien in Worten von so ungewisser Bedeutung eingravieren sollte, wie Tugend und Sünde, die unter verschiedenen Menschen verschiedene Dinge bezeichnen; ja es läßt sich das überhaupt nicht als in Worten geschehen annehmen, da diese in den meisten jener Prinzipien sehr allgemeine Ausdrücke sind, die nur verstanden werden können, wenn man die darunter befaßten Einzelheiten kennt. Und in den praktischen Beispielen müssen die Maßstäbe aus der Kenntnis der Handlungen selbst und ihrer Regeln entnommen werden, ohne Hilfe von Worten und vor der Kenntnis von Namen; Regeln, die man kennen muß, gleichviel welche Sprache man zufällig gelernt haben mag, ob Englisch oder Japanisch, oder ob man überhaupt keine Sprache lernt und sich niemals auf den Gebrauch von Worten versteht, wie das bei Taubstummen der Fall ist. Wenn es bewiesen sein wird, daß Menschen ohne Kenntnis von Worten oder ohne Belehrung durch die Gesetze und Gewohnheiten ihres Landes wissen, daß es zum Gottesdienst gehöre, keinen anderen Menschen zu töten, nur eine Frau zu haben, die Leibesfrucht nicht abzutreiben, ihre Kinder nicht auszusetzen, keinem anderen das Seinige zu nehmen, auch wenn man selbst es nötig hat, sondern im Gegenteil seinen Bedürfnissen abzuhelfen und sie zu befriedigen; und daß wir, so oft wir das Gegenteil gethan haben, Reue empfinden, es bedauern und uns entschließen müßten, nicht wieder so zu handeln; wenn, sage ich, es bewiesen sein wird, daß alle Menschen alle diese und tausend andere solche Regeln – die sämtlich unter die beiden oben gebrauchten allgemeinen Wörter virtutes et peccata, Tugenden und Sünden, fallen – thatsächlich kennen und annehmen, dann wird mehr Grund dazu vorliegen, diese und dergleichen mehr für gemeinsame Erkenntnisse und praktische Prinzipien zu halten. Und doch würde nach allem dem der allgemeine Beifall (wenn es für moralische Grundsätze einen solchen gäbe) kaum beweisen, daß Wahrheiten, zu deren Erkenntnis man auf andere Weise gelangen kann, angeboren seien, und das ist alles, wofür ich streite.

§ 20. Erwiderung auf den Einwand, daß die angeborenen Grundsätze verdorben werden könnten. – Auch wird es nicht sehr ins Gewicht fallen, wenn man mir hier die zwar naheliegende, aber wenig standhaltende Antwort giebt, daß die angeborenen Prinzipien der Moral durch Erziehung, Gewohnheit und die allgemeine Ansicht derer, mit denen wir verkehren, verdunkelt und zuletzt in dem Bewußtsein der Menschen ganz ausgelöscht werden könnten. Wenn diese Behauptung meiner Gegner wahr wäre, so würde sie das Argument des allgemeinen Beifalls, wodurch man die Theorie der angeborenen Grundsätze zu beweisen versucht, völlig beseitigen, es sei denn, sie hielten es für vernünftig, daß ihre persönliche Überzeugung oder die ihrer Partei als allgemeiner Beifall gelten solle, was nicht selten geschieht, wenn Leute, die sich selbst für die alleinigen Besitzer der wahren Vernunft halten, die Urteile und Meinungen der übrigen Menschen als keiner Beachtung wert beiseite werfen. Dann lautet ihre Beweisführung wie folgt: »Die Grundsätze, die alle Menschen als wahr anerkennen, sind angeboren; diejenigen, die von wirklich vernünftigen Leuten gebilligt werden, sind die von allen Menschen anerkannten; wir und die uns Gleichgesinnten sind die vernünftigen Leute, wo wir übereinstimmen, sind deshalb unsere Grundsätze angeboren«; was eine sehr hübsche Art der Beweisführung und der nächste Weg zur Unfehlbarkeit ist. Denn auf andere Weise läßt sich nicht wohl verstehen, wie es gewisse von allen Menschen einstimmig anerkannte Grundsätze geben kann, unter denen doch keiner ist, der nicht durch böse Sitten und schlechte Erziehung in den Gemütern vieler Menschen ausgelöscht wäre, was ebenso viel sagt, wie, daß zwar alle Menschen sie billigen, gleichwohl aber viele sie leugnen und verwerfen. In der That wird uns die Voraussetzung solcher obersten Grundsätze geringen Nutzen bringen, und wir werden uns mit ihnen in derselben Verlegenheit befinden wie ohne sie, wenn sie durch irgend welche menschliche Macht, wie z. B. den Willen unserer Lehrer oder die Ansichten unserer Gefährten, in uns umgewandelt oder vernichtet werden können, und trotz aller dieser Prahlerei von obersten Grundsätzen und angeborenem Licht werden wir uns ebenso tief im Dunkel und in Unwissenheit befinden, als wenn es dergleichen überhaupt nicht gäbe; da es gleichviel ist, keine Richtschnur zu haben und eine solche, die kein festes Ziel hat, oder unter verschiedenen und entgegengesetzten Vorschriften die rechte nicht zu kennen. Was aber die angeborenen Grundsätze anbetrifft, so bitte ich meine Gegner, zu sagen, ob sie durch Erziehung und Gewohnheit verwischt und ausgelöscht werden können oder nicht. Wenn nicht, dann müssen wir sie gleichmäßig bei allen Menschen finden, und sie müssen in jedem klar gegeben sein; wenn sie aber durch von außen hinzukommende Gedanken verändert werden können, so müssen wir sie am klarsten und deutlichsten zunächst bei der Quelle finden, in Kindern und ungebildeten Personen, die von fremden Meinungen am wenigsten Eindrücke empfangen haben. Für welche Alternative sie sich auch entscheiden mögen, sie werden dieselbe gewiß mit augenscheinlichen Thatsachen und der alltäglichen Erfahrung unvereinbar finden.

§ 21. Es giebt in der Welt einander widersprechende Grundsätze. – Ich gebe gerne zu, daß es eine große Anzahl von Meinungen giebt, die von Menschen aus verschiedenen Ländern, von verschiedener Erziehung und verschiedenem Temperament als oberste und unzweifelhafte Grundsätze betrachtet und angenommen werden, von denen manche sowohl wegen ihrer Absurdität, wie auch, weil sie einander widersprechen, unmöglich wahr sein können. Aber alle diese Sätze, so unvernünftig sie auch sein mögen, gelten doch hie und da für so heilig, daß selbst Leute von gutem Verstande in anderen Dingen eher ihr Leben und, was ihnen sonst am teuersten ist, einbüßen, als sich selber einen Zweifel oder anderen Einwendungen gegen deren Wahrheit gestatten wollen.

§ 22. Wie die Menschen gewöhnlich zu ihren Grundsätzen gelangen. – So seltsam dies auch aussehen mag, wird es doch durch die tägliche Erfahrung bestätigt, und es wird vielleicht nicht so wunderbar erscheinen, wenn wir die Wege und Schritte in Betracht ziehen, wodurch es herbeigeführt wird, und wie es zugehen mag, daß Lehren, die von keinem besseren Ursprung als dem Aberglauben einer Amme oder der Autorität eines alten Weibes herrühren, durch den Verlauf der Zeit und den Beifall der Nachbarn zur Würde von Prinzipien der Religion oder der Moral heranwachsen können. Denn Leute, die darum besorgt sind (wie sie es nennen), Kindern gute Grundsätze beizubringen (und es giebt wenige, die nicht ein Bündel solcher Grundsätze, an die sie glauben, in der Tasche hätten), flößen dem arglosen und noch vorurteilsfreien Verstande (denn weißes Papier nimmt alle Schriftzüge an) die Lehren ein, die die Kinder, wie sie wünschen, festhalten und bekennen sollen. Diese werden ihnen gelehrt, sobald sie irgend welche Fassungskraft haben, und werden ihnen während sie heranwachsen, fortdauernd bestätigt, entweder durch das offene Bekenntnis oder die stillschweigende Beistimmung aller derer, mit denen sie zu thun haben, oder wenigstens durch solche, von deren Weisheit, Kenntnissen und Frömmigkeit sie eine hohe Meinung haben, und die niemals dulden, daß jener Sätze in anderer Weise gedacht wird, als wie der Basis und Grundlage, worauf sie ihre Religion und Sittlichkeit bauen; und durch solche Mittel erlangen diese den Ruf unzweifelhafter, von selbst einleuchtender und angeborener Wahrheiten.

§ 23. Dazu kommt, daß, wenn so unterrichtete Menschen herangewachsen sind und auf ihr eigenes Bewußtsein reflektieren, sie darin nichts älteres finden können, als jene Meinungen, die ihnen gelehrt worden, bevor ihr Gedächtnis anfing, über ihr Thun und Lassen ein Register zu führen, oder die Zeit, wann ihnen etwas Neues begegnete, anzumerken; weshalb sie kein Bedenken tragen, zu schließen, daß jene Sätze, für deren Kenntnis sie in sich keinen Ursprung finden können, ihrem Geiste gewiß von Gott und der Natur eingeprägt, nicht aber von sonst jemand beigebracht seien. Sie bewahren diese und unterwerfen sich ihnen mit Ehrfurcht, wie man gegen seine Eltern thut; nicht weil es natürlich ist – wie auch Kinder nicht so handeln, wenn es ihnen nicht gelehrt wird – sondern weil sie es für natürlich halten, indem ihre Erziehung sie beständig hiezu angeleitet hat und sie sich des Ursprungs dieser Hochachtung nicht erinnern können.

§ 24. Daß dies geschehe, wird als höchst wahrscheinlich und fast unvermeidlich erscheinen, wenn wir die menschliche Natur und den Zustand der menschlichen Angelegenheiten in Betracht ziehen, worin die wenigsten Menschen leben können, ohne ihre Zeit auf die Alltagsarbeiten ihres Berufs zu verwenden, und nicht ruhigen Gemütes sein ohne eine Grundlage oder ein Prinzip, worauf sie ihre Gedanken stützen. Es ist kaum jemand von so schwankendem und oberflächlichem Verstande, daß ihm nicht einige hochgeachtete Sätze eigen wären, die ihm als Prinzipien zur Begründung seiner Ansichten dienten, und wonach er über Wahrheit und Lüge, über Recht und Unrecht urteilte; da es aber den einen an Fähigkeit und Muße, anderen an Lust fehlt, noch anderen gelehrt ist, daß sie nicht prüfen dürfen, so giebt es nur wenige, die nicht infolge ihrer Unwissenheit, Trägheit, Erziehung oder Übereilung Gefahr laufen, sie auf Treu und Glauben hin annehmen zu müssen.

§ 25. Augenscheinlich ist dies bei allen Kindern und jungen Leuten der Fall, und da die Gewohnheit, eine größere Macht als die Natur, selten verfehlt, sie etwas als göttlich verehren zu lassen, wenn sie gelernt haben, beständig ihr Gemüt davor zu beugen und ihren Verstand dem zu unterwerfen, so ist es nicht zu verwundern, daß erwachsene Menschen, die entweder in den notwendigen Geschäften des Lebens verwickelt, oder hitzig auf der Jagd nach Vergnügen sind, sich nicht ernsthaft hinsetzen, um ihre eignen Glaubensartikel zu prüfen, besonders wenn es einer ihrer Grundsätze ist, daß Grundsätze nicht in Frage gestellt werden dürfen. Und wenn die Menschen Muße, Fähigkeit und guten Willen hätten, wo fände man wohl einen, der es wagte, die Grundlagen aller seiner früheren Gedanken und Handlungen zu erschüttern, und der es ertragen könnte, sich selbst die Beschämung zuzuziehen, daß er lange Zeit hindurch völlig in Irrtum und Täuschung befangen gewesen sei? Wer ist kühn genug, mit den Vorwürfen zu kämpfen, die überall für die bereit stehen, die sich unterfangen, von den herkömmlichen Ansichten ihres Landes oder ihrer Partei abzuweichen? Und wo ist der Mann anzutreffen, der sich geduldig darauf zu rüsten vermag, mit den Namen eines Sonderlings, Skeptikers, oder Atheisten belegt zu werden, die sicherlich den erwarten, der irgend eine der gemeingültigen Ansichten im mindesten bezweifelt? Und noch vielmehr wird er sich scheuen, diese Grundsätze in Frage zu ziehen, wenn er, wie die meisten Menschen thun, in ihnen die von Gott in seinem Geiste aufgestellten Normalmaße erblickt, die als Regel und Prüfstein aller anderen Meinungen dienen sollen. Und was könnte ihn daran hindern, sie für heilig zu halten, wenn er findet, daß sie die frühesten von allen seinen Gedanken sind und die von anderen am meisten verehrten?

§ 26. Man kann sich leicht vorstellen, wie es auf diese Weise geschehen mag, daß Menschen die in ihrem Bewußtsein aufgestellten Idole verehren, daß sie die Gedanken liebgewinnen, mit denen sie daselbst seit lange bekannt geworden, und Absurditäten und Irrtümern die Merkmale der Göttlichkeit aufprägen; daß sie eifrige Anbeter von Rindern und Affen werden, Diese Exemplifikationen sind wohl eine Finte, denn alles, was in den §§ 21-27 gesagt worden, paßt auf nichts besser als auf die Tradition des christlichen Dogmas und seiner konfessionellen Modalitäten. Die vortrefflichen Ausführungen dieser Paragraphen zeigen, daß Lockes Polemik gegen die angeborenen Wahrheiten auch heute noch keineswegs gegenstandslos geworden ist. Der Name ist freilich verschollen, aber die Sache ist geblieben. und zur Verteidigung ihrer Meinungen kämpfen, fechten und sterben. » Dum solos credit habendos esse deos, quos ipse colit.« Denn weil das Denkvermögen der Seele, welches fast beständig, obgleich nicht immer vorsichtig und weise, angewandt wird, bei den meisten Menschen (die wegen Trägheit oder Abhaltung, aus Mangel an Zeit und rechten Hilfsmitteln oder aus anderen Gründen, in die Prinzipien des Wissens nicht eindringen, und die Wahrheit nicht bis zu ihrer Quelle und ihrem Ursprung verfolgen, oder nicht eindringen und verfolgen können) wegen Mangels einer Grundlage und eines Stützpunktes nicht weiß, wie es sich bewegen soll, so ist es für diese natürlich und beinahe unvermeidlich, sich mit einigen erborgten Grundsätzen zu begnügen, die selbst keine weiteren Beweise nötig zu haben scheinen, weil sie für die augenscheinlichen Beweise anderer Dinge gelten und gehalten werden. Wer Grundsätze dieser Art in sein Gemüt aufnimmt und sie dort mit der Ehrfurcht hegt, die gewöhnlich Grundsätzen gezollt wird, so daß er niemals wagt, sie zu prüfen, sondern sich gewöhnt, an sie zu glauben, weil man an sie glauben müsse, der ist imstande, aus seiner Erziehung und der in seiner Heimat herrschenden Mode jede beliebige Absurdität als angeborene Wahrheit aufzunehmen, und durch langes Hinstarren auf dieselben Gegenstände sein Gesicht so zu verdunkeln, daß er in seinem eigenen Gehirn wohnende Ungeheuer als Abbilder der Gottheit und Werke von deren Hand betrachtet.

§ 27. Grundsätze bedürfen der Prüfung. – Wie viele auf diesem Wege zu Grundsätzen gelangen, die sie für angeboren halten, läßt sich leicht aus der Mannigfaltigkeit entgegengesetzter Prinzipien abnehmen, die von allen Klassen und Stufen der Menschen behauptet und verteidigt werden. Und wer leugnen sollte, daß dies die Methode ist, wodurch die meisten Menschen zu der Gewißheit gelangen, die sie von der Wahrheit und Augenscheinlichkeit ihrer Grundsätze haben, der wird es vielleicht schwierig finden, auf irgend eine andere Weise die Verschiedenheit der Lehren zu erklären, die fest geglaubt und zuversichtlich behauptet werden, und die eine große Anzahl von Menschen bereit ist, jederzeit mit ihrem Blute zu besiegeln. Und wenn es das Vorrecht der angeborenen Prinzipien ist, auf Grund ihres eigenen Ansehns hin ohne Prüfung angenommen zu werden, so weiß ich in der That nichts, was nicht zum Glaubensartikel werden könnte, oder wie die Grundsätze irgend jemandes in Frage gestellt werden dürften. Wenn sie untersucht und geprüft werden dürfen und müssen, so möchte ich wissen, wie eine Prüfung oberster und angeborener Grundsätze möglich ist; oder es ist wenigstens vernunftgemäß, nach den Merkmalen und Kennzeichen zu fragen, wodurch die echten angeborenen Prinzipien sich von anderen unterscheiden, damit ich inmitten einer so großen Mannigfaltigkeit von Mitbewerbern, bei einem so wichtigen Punkt wie diesem, Mißgriffe vermeiden möge. Wenn das geschehen ist, werde ich so willkommene und nützliche Sätze gerne annehmen, bis dahin aber erlaube ich mir bescheidene Zweifel zu hegen, weil ich besorge, daß der allgemeine Beifall, das allein namhaft gemachte Merkmal, kaum genügen werde, um meine Wahl zu lenken und mich über irgend welche angeborene Prinzipien zu vergewissern. Aus dem oben Gesagten geht meines Erachtens zweifellos hervor, daß es keine praktischen Grundsätze giebt, worüber alle Menschen einverstanden sind, und deshalb keine angeborenen.


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