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Von Leh, der Hauptstadt von Ladak, trennte uns noch eine Entfernung von 1100 Kilometer. Diese Strecke kostete uns fast drei Monate. Unsere Karawane war schwach, wir hatten nur noch 22 Kamele, die sämtlich sehr entkräftet waren. Mit unserer Eskorte standen wir auf dem freundschaftlichsten Fuße und wir konnten beim Beladen und Lageraufschlagen stets auf die Hilfe der guten Tibeter rechnen.
Die ersten Tage ritten wir am Ufer des Flusses Boggtsang-sangpo nach Westnordwesten. Wenn man tagaus, tagein nach dieser Himmelsrichtung reitet, wird die linke Seite des Gesichtes so von der Sonne angegriffen, daß sie in großen Stücken abblättert, indeß die rechte Seite eiskalt bleibt. Der linke Fuß hat es schön warm, der rechte erfriert beinahe im Schatten.
Klar und schön rauschte der Fluß neben uns hin. Eines Tages blieb Schagdur zurück, doch als er uns wieder einholte, schwenkte er mit triumphierender Miene ein Bündel schöner Fische in die Luft. Daher wurde am 1. Oktober am Boggtsang-sangpo gerastet, das Boot zusammengesetzt und so viel gefangen, daß wir vierzehn Tage hauptsächlich von Fischen lebten.
Am 3. Oktober machte ich mit Tschernoff und dem Lama einen Abstecher nach dem dominierenden Berge Erenak-tschimmo, um dann der Spur der Karawane zu folgen. In einer Schlucht fanden wir Hamra Kul, der dort regungslos lag und versicherte, daß er keinen Schritt mehr gehen könne. Einige unserer Tibeter mußten sich seiner annehmen und ihn nach dem Lager bringen. Mit unserer Karawane, die zwei Tage später einen ihrer schwersten Märsche machte, ging es zu Ende. Die Kälte war scharf, und wir hatten heftigen Gegenwind. Man ist wie gelähmt, durcheist und zu Tode erschöpft. Sowohl unsere Leute wie die Tibeter gehen zu Fuß, ich aber muß reiten, ich kann nicht gehen, da wir uns noch immer auf mehr als 5000 Meter Höhe befinden. Ein Kamel wird zurückgelassen, ich bleibe bei ihm, lasse den Packsattel auftrennen, und das Kamel frißt das Stroh mit gutem Appetit, aber es ist noch nicht weit gelangt, so muß es geschlachtet werden. Ich reite eine Strecke weiter und finde wieder zwei Kamele, die nicht haben mitkommen können. Die nächsten Invaliden sind zwei Pferde, die Kutschuk führt; das eine ist das, auf dem ich Kaschgar vor mehr als zwei Jahren verließ, das andere ist eines von Kamba Bombos Pferden. Es war ein trauriges Lager. Mohammed Tokta war es nicht besser geworden, Almas erklärte sich für beinahe blind, Chodai Kullu litt an Bergkrankheit; sie wurden alle aufs beste gepflegt. Beinahe die halbe Karawane stand auf der Krankenliste.
Das Tal des Boggtsang-sangpo.
In der Gegend Setscha (5048 Meter) war Rasttag, denn jetzt sollten die versprochenen Yake ankommen, und die Lasten sollten daher in kleineren Portionen verteilt, und außerdem mußten wir alle die Leute und Tiere, die zurückgeblieben waren, erwarten. Die Kälte sank auf -18° C., der Winter hielt seinen Einzug.
Mit Tschernoff, dem Lama und einer kleinen, leichten Karawane machte ich, zur Verzweiflung der Tibeter, einen Abstecher von vier Tagen nach Süden, um einen Überblick über die großartige Berglandschaft zu erhalten, die sich nach dieser Richtung hin ausbreitete. Es war meine Absicht, einen längeren Ausflug in das verbotene Gebiet hinein zu machen, aber der erbärmliche Zustand unserer Pferde verbot alle Extravaganzen, und wir mußten, mit einer Schar Tibeter auf den Fersen, zur Karawane zurückkehren. Großartig und majestätisch erhob sich unmittelbar vor uns im Süden der gewaltige, mit ewigem Schnee bedeckte Bergstock Schah-gandschum.
Im Lager Nr. 103 nahmen wir Abschied von Jamdu Tsering und seinen Leuten, die Revolver und andere Geschenke, sowie auf ihren Wunsch ein Zeugnis erhielten, daß sie sich höflich betragen und mich zu meiner Zufriedenheit bedient hätten. Eine neue Gesellschaft von Wachen unter Jarwo Tsering sollte uns jetzt weiterbegleiten, und neue Yake trugen unser Gepäck; alle unsere Tiere marschierten unbeladen. Am 18. Oktober lernten wir den Salzsee Lakkor-tso kennen, der jetzt so stark im Austrocknen begriffen ist, daß seine älteste Uferlinie 133 Meter über dem jetzigen Seespiegel liegt.
Weiter geht es nach Westen, heftigen Weststürmen gerade entgegen, unter Kälte und Entbehrungen; es ist eine via dolorosa, die Tränen, Leiden und Blut kostet. Die Kräfte der Tiere sind im Abnehmen, dann und wann bricht ein Pferd zusammen. Während des Marsches am 20. Oktober hatten wir ein merkwürdiges Abenteuer. Hamra Kul ging mit zwei Pferden am Zügel hinter der Karawane drein, als er Mohammed Tokta in einer Grube liegen sah. Der Alte erklärte ganz gemütlich, er sei des Reitens überdrüssig und habe sich vom Pferde fallen lassen. Der Kamerad nahm ihn mit, im Lager kümmerte man sich nach Kräften um ihn, und er lachte ganz vergnügt, als ich mich beim Arzneigeben nach seinem Befinden erkundigte. Er trank mit Wohlbehagen eine große Schale Milch aus. Als die Sonne aufging, lag er mit festgeschlossenen Augen tot in seinen Pelzen, ohne seine Lage verändert zu haben. Der Tod hatte den alten Kameltreiber im Schlafe überrascht.
Es war der vierte von meinen Dienern, der den Anstrengungen erlag. Eine Stunde später öffnete sich ein neues Grab dem kommenden Gaste. Auch jetzt wurden die üblichen Zeremonien beobachtet. Nachdem dem Toten der letzte Dienst erwiesen worden, zog die Karawane nach Westen weiter. Uns fehlten bis nach Ladak noch 800 Kilometer.
Schagdur und Ördek fischen im Boggtsang-sangpo.
Ich selbst blieb ein paar Stunden zurück, um noch einige Messungen vorzunehmen, und ritt dann, der Spur der Karawane folgend, über einen kleinen Paß nach einem neuen Salzsee, der, gleich den übrigen, von hohen Bergen und dazu noch von einem Ringe schneeweißer Salzkristallisationen umgeben war. Unterhalb des Passes saß Hamra Kul bei zwei sterbenden Pferden. Das eine kam noch lebendig ins Lager, aber das andere, einen Apfelschimmel aus Korla, ließ ich totstechen; es konnte nicht mehr auf den Beinen stehen. Nach dem tiefen, erlösenden Stiche in den Hals lag es mit geschlossenen Augen ganz still da, aber als der Blutstrom versiegt war und Todesmattigkeit und Ruhe folgten, öffnete es wieder die Augen, wie um diesem unwirtlichen Gebirge noch ein letztes Lebewohl zu sagen. Dabei sah es mit dem linken Auge gerade in die Sonne, die sich in ihm widerspiegelte und es wie einen Edelstein funkeln ließ. Ohne daß ich mich bei diesem traurigen Kapitel besonders aufzuhalten brauche, wird der Leser verstehen, daß eine Reise durch Tibet für Menschen und Tiere eine Kette steter Leiden ist. Man möchte blutige Tränen weinen, wenn man all diesen Jammer und all das Elend, das man nicht lindern kann, sehen muß. Nach den Todesfällen, die ich in der Karawane erlebt hatte, hoffte ich, daß wenigstens noch einige unserer Tiere Ladak erreichen würden. Ich wollte sie mit Zärtlichkeit überhäufen, sie frisch und gesund werden sehen, wollte sehen, wie die Augen der Kamele freudig glänzten, und wollte die Pferde vor gefüllten Krippen wiehern hören. Es sollte nach all den Opfern, die das grausame Tibet von uns gefordert hatte, ein Versöhnungsfest werden. Von all den 45 Pferden und Mauleseln waren jetzt nur noch 11 am Leben.
Die Kälte ging auf -19° herunter, und der Wind, der keinen Augenblick nachließ, hatte eine Geschwindigkeit von 20 Meter in der Sekunde. Am 25. Oktober mußten wir schon beim Aufbrechen ein Pferd töten. Sechs Kamele, die schwächlich sind, folgen der Yakkarawane, die nur langsam geht. Auf dem ersten von ihnen reitet der kranke Almas. Ich war aufgehalten worden, holte sie aber bald wieder ein, und zwar gerade in dem Augenblicke, als sich eines von ihnen zum Sterben auf die Seite legte, Hals und Beine von sich gestreckt, und mit dem Messer von seinen Leiden befreit wurde. Dann blieb noch eines mit seinem Wächter zurück, und nachher noch eines. Eine Strecke weiter wurde auch mein treuer Wüstenwanderer, das Dromedar, allein zurückgelassen, um von den Nachzüglern mitgebracht zu werden. Schließlich bugsierte Almas nur noch ein Kamel, die Mutter des in Tscharchlik geborenen Kleinen, das noch immer am Leben war und mit Brot gefüttert wurde. Die Liebe zu ihrem Jungen hielt die Mutter aufrecht.
Berglandschaft in Westtibet.
Wir besaßen nur noch 18 Kamele. Langsam und schweigend zog diese zu sehr zusammengeschmolzene Karawane durch das endlose Tibet, während die ewigen Begräbnisglocken klingend von den gigantischen, überwältigend großartigen Felsen widerhallten, die sich auf beiden Seiten unseres Weges, versteinerten Ritterburgen ähnlich, erhoben. Dawo Tsering, unser neuer Trabantenoberst, reitet neben mir und gibt mir mit größter Bereitwilligkeit Auskunft.
Am folgenden Morgen ritten Sirkin und Turdu Bai zurück, um, wenn möglich, die drei zuletzt zurückgelassenen Kamele zu holen, anderenfalls aber sie zu töten. Erst als wir schon im nächsten Lager waren, kamen sie wieder, und zwar allein. Sie hatten das Dromedar an der Stelle, wo es liegen geblieben war, gefunden, aber es nicht dazu bewegen können, daß es überhaupt aufzustehen versuchte. Es hatte so geweint, daß unter seinen Augen lange Eiszapfen hingen. Sowohl das Dromedar wie seine beiden Kameraden hatten totgestochen werden müssen.
Am 28. Oktober erklommen wir einen Paß, von dem herab wir eine herrliche Aussicht nach Westen hatten. Eine ganz neue Welt rollte sich in dieser Richtung auf, alles Alte blieb wie ein zugeschlagenes Buch hinter uns zurück. Hauptsächlich fesselte den Blick der runde See Perutse-tso, an dessen Ufern wir vier Tage zubrachten. Das Gras war wunderschön, und dank dem Buschholze, das uns reichliches Brennmaterial bot, konnten wir uns Tag und Nacht an hellen, freundlich lodernden Feuern wärmen. Ein Pferd, dessen leerer Magen das Gras nicht vertragen konnte, starb in diesem Lager, und die Kamelmutter brach einige Steinwürfe weit von der Oase, die ihr Leben hätte retten können, tot zusammen. Das vergeblich nach ihr umhersuchende Junge wurde nun mit verdoppelter Fürsorge behandelt. Wir hatten jetzt noch 14 Kamele. Hier nahmen Dawo Tsering und seine Leute Abschied. Wölfe folgen der Karawane, schmausen an den gefallenen Tieren und lassen nachts ein unheimliches Geheul ertönen.
Am Westende des Sees Tsolla-ring-tso, wo wir die Grenze der Provinz Rudok überschritten, waren sieben Zelte aufgeschlagen. Hier erwartete uns der Gouverneur von Tschokk-dschalung mit hundert Bewaffneten. Dieser Herr, der mit bewundernswerter Dreistigkeit und Anmaßung auftrat, erklärte, daß, wenn wir keinen Paß vom Dalai-Lama vorzeigten, wir nie im Leben durch Rudok ziehen dürften, sondern gefälligst auf demselben Wege, den wir gekommen, wieder umkehren könnten. Die Kosaken kochten vor Wut und baten mich, mit ihren Repetiergewehren antworten zu dürfen, aber mich ließ die Sache kalt, und ich setzte dem Bombo auseinander, daß ich am folgenden Tage nach Lhasa zurückkehren werde, aber von ihm eine schriftliche Bescheinigung des Inhaltes verlange, daß er uns die Erlaubnis, durch das Gebiet von Rudok zu ziehen, verweigert habe. Jawohl, die werde er mir gern geben und überdies jetzt sofort einen Kurier nach Lhasa senden; wir möchten uns gedulden, bis die Antwort angelangt sei, er werde dann seine Maßregeln treffen.
Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, hier einen Handstreich auszuführen. Wir hatten vier Repetiergewehre, zwei Berdan- und zwei Jagdgewehre, eines davon mit Explosivkugeln, während die Tibeter nur über primitive Vorderlader, ungeschlachte, unbequeme Musketen verfügten. Unseren Waffen gegenüber hätten die ihrigen keine Rolle gespielt, da wir nur eine feste Position hätten einnehmen brauchen, um sie Mann für Mann niederschießen zu können, ehe sie so weit herankamen, daß wir im Bereiche ihrer einfachen Flinten waren. Es wäre ein leicht erkaufter Sieg geworden, – aber welch ungeheure Schande, von seiner Übermacht in so gemeiner, feiger Weise Gebrauch zu machen! Und ich hatte die Kosakeneskorte ja nicht erhalten, um sie zu kriegerischen Abenteuern zu benutzen. Ich verfiel keinen Augenblick auf einen solchen Gedanken und machte den Kosaken den Standpunkt klar. Nein, ein anderer Gedanke bemächtigte sich jetzt meiner. Wir wollten nach den Weideplätzen am Perutse-tso zurückkehren und dort aus Erdschollen eine Festung errichten. Von diesem Stützpunkte aus würden wir Ausflüge in die Gegend machen, von der Jagd leben und im Frühling, wenn unsere Karawane sich wieder erholt hätte, von neuem nach dem verbotenen Lande ziehen. Der Plan erschien mir verführerisch und interessant, leider aber kam er nicht zur Ausführung. Der hochfahrende Gouverneur wurde anderer Meinung und versprach uns neue Yake, Proviant und freien Durchzug, wenn wir nur nicht die Stadt Rudok besuchten, was ich überdies auch durchaus nicht beabsichtigt hatte.
Das Tempeldorf Noh.
Am 7. November war herrliches Wetter, und der beständige Wind war in seinem hohen Wohnsitze im Westen geblieben. Nur die Leute der Eskorte waren unliebenswürdig; sie schalten den Lama einen Heidenhund, der mit solchen »Russenleuten« umherstreife. Der sonst so ruhige Priester wurde so wütend, daß er seine Reitpeitsche auf den Rücken der Tibeter tanzen ließ, und ich ließ ihnen sagen, wir würden sie in unsere Kisten sperren und mit nach Hause nehmen, wenn sie sich noch einmal mausig machten.
Der Lama im Streite mit dem Anführer der Tibeter.
Nomaden sahen wir nicht und auch keinen Tropfen Wasser, aber die Tibeter führten uns nach der Quelle Tsebu, an der wir die Nacht über rasteten. Es ist so still, daß es in den Ohren klingt und man den Nachtfrost sich in die Erde bohren zu hören glaubt. Nur das Heulen der Wölfe und die auf dem steinhart gefrorenen Boden widerhallenden, eintönigen Schritte der Nachtwachen unterbrechen das tiefe Schweigen. Mein Wasserbecher ist am Morgen bis auf den Grund gefroren, und die Tinte wird mir in der Feder zu Eis, wenn ich mich beim Schreiben nicht über das Kohlenbecken beuge. Die Kälte ging auf -27° herunter, und ich wunderte mich nicht, daß die Tibeter sich nach ihren Zelten zurücksehnten, sie hatten ja keine Hosen an.
Das Lager Nr. 130 erreichte das kleine Kamelfüllen nicht mehr, es mußte unterwegs getötet werden. Die kräftigsten in der Karawane sind, außer den Hunden, unsere beiden Schafe, Wanka und das letzte aus Abdall. Die Muselmänner würden lieber hungern als sie schlachten.
Noch einige Tagemärsche in mörderischem, eisigem Gegenwinde, und wir haben bis Leh nur noch 400 Kilometer zurückzulegen. Ich wollte um jeden Preis vor dem Weihnachtsabend dort anlangen, um nach Hause zu telegraphieren.
In der Nacht auf den 21. November sank die Kälte unter -28°, und die Wölfe wurden zudringlich. Die Hunde stimmten in ihr Geheul ein, es war ein ohrenbetäubendes Konzert. Eine neue Eskorte begleitete uns; dem Anführer wurde ein Revolver versprochen, wenn er möglichst wenig löge. Unser Weg führte am Flusse Tsangar-schar abwärts, an dessen Ufer wir am 26. zwischen dichtem Buschholze rasteten. Mein Zelt wurde unmittelbar an dem rauschenden, hier nicht zugefrorenen Strome aufgeschlagen, ich höre stets gern das klangvolle, fröhliche Rauschen fließenden Wassers. Imposante, wilde Felsen türmten sich an seinem anderen Ufer auf und sahen im Mondlichte beinahe unheimlich aus. Eines der Pferde war so ungeschickt, in den Fluß zu fallen, und konnte nur mit Mühe wieder herausgezogen werden. Es wurde, in Filzdecken gewickelt, an einem großen Feuer getrocknet, aber nach einigen Stunden lag es tot neben dem Feuer.
Am folgenden Morgen wurde mir gemeldet, daß Li Loses Pferd über Nacht gestorben sei. Unweit des nächsten Lagerplatzes starb ganz plötzlich Turdu Bais alter Rappe, und während des Marsches stürzte auch das letzte von unseren tibetischen Pferden. Von der stattlichen Karawane, die vor einem halben Jahre Tscharchlik verließ, sind nur noch ein Pferd – das, auf dem ich reite –, dreizehn Kamele und fünf Maulesel am Leben. Man erkauft die Tage und Meilen mit dem Leben von Menschen, Pferden und Kamelen. Eine Winterwanderung durch Tibet ist keine Vergnügungsreise, lieber will ich zehnmal die Wüste Gobi durchqueren!
Endlich sind wir bei dem Tempeldorfe Noh mit seinen rot und weißen zwiebelförmigen Kuppeln, Fahnen und vergoldeten Spitzen. In kurzer Entfernung davon sehen wir von einem Passe aus den wunderbaren, langen, schmalen, zugefrorenen See Tso-ngombo, den »Blauen See«, mit seinen großartigen Felswandkulissen auf beiden Ufern. Wir lagerten am Ufer, die Tibeter ließen sich auf einer kleinen Insel in der Nähe nieder, und ihre großen Feuer warfen am Abend rotglänzende Reflexe auf das spiegelblanke Eis. Unser tibetischer Anführer schickte von hier aus einen Kurier nach Leh, damit wir auf der Grenze zwischen Tibet und Kaschmir fänden, was wir brauchten; ich benutzte die Gelegenheit zur Absendung eines Briefes an die britischen Behörden jener Stadt.
Lager am Tsangar-schar.
Auf dem Nordufer, auf dem wir am Fuße der Felswände entlang zogen, begegneten wir dann und wann tibetischen Handelskarawanen, die von Leh kamen und ihre Waren auf Schafen beförderten. Der Weg ist für Kamele schwierig, und einige unserer Leute gehen voraus, um scharfkantige Steine fortzuräumen oder Gruben auszufüllen. Um einen tückischen Felsvorsprung herum gingen die Kamele im Wasser, das Gepäck wurde von den Tibetern hinübergetragen, nur die Yake kletterten mit gewohnter Leichtigkeit über die Felsen.
Am 3. Dezember stellte sich uns ein weit größerer Felsvorsprung in den Weg, der für die Kamele absolut unübersteigbar war. Die Felswand steigt hier senkrecht aus dem Wasser empor, und auf dem über sie hinüberführenden Pfade hat man Schieferplatten in die Ritzen gezwängt, die Fußgängern, Yaken und Schafen als leidliche Treppe dienen, auf denen Kamele aber nicht gehen können. Hier war guter Rat teuer. Sollten wir nicht auf dem Südufer vordringen können? »Unmöglich«, versicherten die Tibeter, doch ich hatte keinen Grund, ihren Angaben blind zu glauben, und beschloß, es zu versuchen. Tschernoff prüfte das Eis an einer schmalen Stelle, wo der See in seiner ganzen Breite zugefroren war; er stand dafür ein, daß es hielt. Ich maß die Dicke des Eises in einer Reihe von Waken; führte man die Kamele einzeln hinüber, so würde die Sache kinderleicht sein. Am Abend mußte jedoch Ördek am Südufer entlang gehen, um es zu untersuchen, und wenn er dort auf unpassierbare Felsvorsprünge stieße, sollte er ein Signalfeuer anzünden. Unterdessen warteten wir am Nordufer, und bald verkündeten uns drei große Feuer, daß ein Weiterziehen auf dem südlichen Ufer unmöglich sei.
Der gefährliche Felsenpfad. (Die Yake gehen teils auf, teils über dem Wege.)
Beförderung des Gepäcks über das Eis des Tso-ngombo.
Gab es denn kein Mittel, diese greuliche Felswand zu bezwingen; sollten wir wirklich einen zeitraubenden Umweg über die nördlichen Bergketten machen müssen? Nein, mir kam ein Gedanke; in der Nähe wuchs üppiges Buschholz, und es gab dort auch dürre Stämme und trockene Wurzeln genug, um daraus eine Fähre herzustellen, mit welcher die Kamele sich um das Vorgebirge herumbugsieren ließen. Es waren ihrer jetzt nur noch zehn, und wir hatten schon größere Schwierigkeiten überwunden.
Am westlichen Tso-ngombo.
Doch während wir überlegten, zeigte sich noch ein anderer Ausweg. Als die Stelle zuerst rekognosziert worden, war der See gerade dort offen gewesen, aber schon in der ersten Nacht überzog er sich mit einer dünnen Eisschicht, und nach weiteren 24 Stunden war das Eis, dank der Kälte, 5 Zentimeter dick. Auf einem großen, breiten Schlitten aus Kamelleitern mit darüber gebreiteten Filzdecken würde man die schweren Kolosse über das Eis ziehen können. Der Schlitten wurde hergestellt und mit so vielen Leuten beladen, daß die Belastung dem Gewichte eines Kameles entsprach. Er wurde an dem Vorgebirge vorbeigeschoben, doch als das Eis zu knacken begann, lief die Besatzung, zur unbeschreiblichen Heiterkeit der Ziehenden, einer nach dem anderen davon.
Das Eis war kristallhell, ohne alle Blasen, und man hatte das Gefühl, auf einer stillen Wasserfläche zu gehen, unter der man dunkelrückige Fische zwischen den Algen am Grunde hinhuschen sah. Es knackt und pufft in dieser glashellen Decke; manchmal klingt es, als würden längs des Eises Projektile abgeschossen, und man glaubt, sie pfeifend davonsausen, schwächer werden und in der Ferne verstummen zu hören.
Noch einen Tag mußten wir geduldig warten und das Dickwerden des Eises in der Kälte beobachten. Vor dem nächsten Sonnenaufgang wurde sämtliches Gepäck auf den Schlitten hinübergezogen und dann mit Hilfe von etwa dreißig Säcken Sand ein Pfad auf dem Eise aufgeschüttet, auf dem die Kamele vorsichtig hinübergeführt wurden. Alles lief glücklich ab, und wir konnten an den märchenhaft reizenden Ufern weiterziehen.
Der Leser sehnt sich wohl schon ebenso sehr wie der Verfasser nach wärmeren Gegenden; es tat uns wirklich not, nach der tibetischen Kälte wieder aufzutauen. Noch bis zum 17. Dezember zogen wir am Nordufer des Salzsees Panggong-tso entlang, dessen prachtvolle Naturszenerien zu schildern meine Feder viel zu schwach ist. Nach ungeheuren Anstrengungen gelang es uns, über noch einen widerwärtigen Gebirgsausläufer hinüberzukommen. Am 13. Dezember erreichten wir endlich die Westgrenze von Tibet. Mit unbeschreiblicher Freude trafen wir hier die Entsatzkarawane von 12 Pferden und 30 Yaken, die der Gouverneur von Ladak uns zu Hilfe geschickt hatte. Ihre Führer waren zwei Ladakis, Gulang Hiraman, ein klassischer, gemütlicher Alter, der von eitel Wohlwollen strahlte, und Anmar Dschu, der Persisch sprach und mit dem ich mich dank meiner mangelhaften Erinnerungen aus dem Lande der Sonne und des Löwen unterhalten konnte. Sie hatten Schafe, Mehl, Reis, Dörrobst, Milch, Zucker und Gerste für unsere Tiere mitgebracht. Unsere Leidenszeit war zu Ende, und die Trümmer der Karawane, die in der Tat auf dem letzten Loche pfiff, waren gerettet.
Am Panggong-tso.
Der letzte Faden, der uns noch mit dem rätselhaften, seltsamen Tibet verband, zerriß hier, als wir der Eskorte, die uns bis an die Grenze begleitet hatte, Lebewohl sagten. Alles alte »Eisen«, dessen wir jetzt nicht mehr bedurften, Kasserolle, Tassen, Kannen, alte abgetragene Kleidungsstücke usw., und ein Revolver wurden den Tibetern geschenkt, die als reiche Leute nach ihren Zelten zurückkehrten. Wir waren in den letzten Einsiedlerstaat der Erde, in die stärkste natürliche Festung der Welt eingedrungen; das ganze Land hatte sich vier Monate lang im Kriegszustand befunden, und wir hatten entsetzlich viel Last und Mühe verursacht. Erst jetzt würden die Priester wieder ruhig schlafen können. Als die Sonne an diesem Abend unterging und ein neues Dunkel im Osten heraufstieg, war es mir, als verschlinge diese Nacht das Land des Dalai-Lama mit all seinen Geheimnissen. Aber in meinen Mappen und Tagebüchern barg ich doch die Eroberungen, die ich auf meinem Heereszuge gemacht und die über große Strecken des unbekannten Landes Licht verbreiten würden.
Noch einen der Veteranen unserer Karawane forderte Tibet als Pfand für unseren Durchzug. Jolldasch hatte wie gewöhnlich die Nacht auf den Filzdecken zu meinen Füßen zugebracht; bei Sonnenaufgang schüttelte er sich, eilte über die Berge nach Osten und kam nie wieder. In dem Augenblick, als uns die äußersten Fühlhörner der Zivilisation berührten, gerade auf der Grenze zwischen Tibet und Kaschmir kehrte er um und verließ seinen alten Herrn. Vielleicht glaubte er, ja vielleicht glaubt er noch heute, daß ich wiederkommen und ihn holen werde.