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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
In Gefangenschaft der Tibeter.

Am 2. August war der Himmel uns hold; es regnete nicht, aber beide Pferde waren vor Müdigkeit erschöpft und einige Maulesel hatten sich den Rücken wund gescheuert. Unser Weg führte über einen kleinen Paß, in dessen Nähe ein schwarzes Zelt stand, bei dem zwanzig Yake und vierhundert Schafe weideten. Bald darauf passierten wir eine Teekarawane, die an einer Quelle lagerte. Sie bestand aus 25 Leuten mit 300 Yaken, und die Lasten – in Sackleinwand eingenähte Stücke Ziegeltee – waren in einem Dutzend Haufen aufgestapelt. Einige Leute kamen herbei, um uns genauer anzusehen, und der Lama, unser Dolmetscher, führte die Unterhaltung. Wie gewöhnlich war die erste Frage: »Wie viele seid ihr?« – ganz, als müßte zunächst festgestellt werden, wer im Falle eines Handgemenges die größte Aussicht auf den Sieg haben würde. Dann folgten Fragen nach dem Zwecke unserer Reise, woher wir kämen, ob wir etwas zu verkaufen hätten, und dergleichen. Die Männer sahen wie leibhaftige Straßenräuber aus; das lange, schwarze Haar ist bei manchen in zwei Zöpfe geflochten. Alle tragen den wettergebräunten Oberkörper bloß; der Pelz, durch den Gürtel gehalten, hängt rückwärts herunter, so daß die Ärmel den Boden berühren. Sie baten uns, dazubleiben, damit wir den Abend zusammen verbringen könnten, wir zogen es aber vor, weiterzureiten, und lagerten eine Strecke weiter auf einem offenen Weideplatze.

Der nächste Tag wurde der Ruhe gewidmet. Um 9 Uhr zog die Yakkarawane in musterhafter Ordnung vorbei. Die Tiere marschierten in Abteilungen von 30–40, und jede Gruppe begleiteten einige Treiber. Diese hielten die Yake durch scharfe Pfiffe und kurze, gellende Rufe in Ordnung. Jetzt schienen sie unser Zelt nicht einmal zu bemerken, obgleich sie es beinahe streiften; sie waren ausschließlich mit dem Treiben der Yake beschäftigt, und keiner sprach bei uns vor. Die ganze Gesellschaft war kohlschwarz, die Yake, die Hunde, die Leute, ihre Anzüge und ihre Flinten; sie zogen vorüber wie ein Schattenspiel oder eine Prozession von Dämonen; ihnen stand der Weg nach dem Tempel von Taschi-lumpo offen, wo der hochwürdige Lama Bantsching Bogdo residiert, und auch nach den Basaren von Schigatse, wo der Tee verkauft werden sollte.

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Eine Gruppe Tibeter.

Der Tag wurde zum Ausruhen und Trocknen benutzt. Alle unsere Sachen wurden auf der Erde ausgebreitet, die Sattelkissen losgemacht und in der Sonne umgedreht, die Stiefel mit warmem Sande gefüllt, der die Feuchtigkeit aufsog, und der Lama suchte soviel wie möglich von dem Inhalte seiner Arzneibeutel zu retten. Er überraschte uns auch mit einem großen Beutel Rosinen, die er in Tscharchlik gekauft hatte. Die Tiere weideten so nahe beim Zelte, daß wir sie jeden Augenblick zählen konnten. Mir selbst bereitete es den größten Genuß, die Sonne wiederzusehen. Ich lag auf der Erde und ließ mich von den Sonnenstrahlen durchwärmen; dann schminkte mich der Lama wieder. Im übrigen übten wir unsere Rollen ein und überlegten, was wir auf die dreisten Fragen, die man früher oder später an uns richten würde, antworten sollten. Dies war jedoch ein eigenes Ding, denn nach Ansicht des Lama war der Dalai-Lama allwissend und wußte sogar, wovon wir in diesem Augenblicke sprachen. Doch er sei auch gut und werde nicht erlauben, daß uns etwas Böses widerfahre, um so mehr als er wisse, daß wir gegen sein heiliges Land und seine Stadt nichts Böses im Schilde führten.

Ein ganze Stunde herrschte schon tiefes Dunkel, als der Mond aufging und still und freundlich wie ein Engel auf die sternbesäte Flur des nächtlichen Himmels hinaustrat. Ich hatte die Wache; die ganze Gegend lag so still und friedlich wie ein Friedhof da, kein Laut war zu hören, nur die Hunde knurrten ein paarmal. Das Bewußtsein, daß wir Nomaden in der Nähe hatten, gab mir ein Gefühl der Beruhigung; es ist ja auch leichter, sich mitten in einer gefährlichen Lage zu befinden, als ihr Herannahen abzuwarten.

Am 4. August ging es nach Lhasa weiter. Sehr bald begegneten wir einer großen Transportkarawane, deren Führer hohe, gelbe Hüte mit großen Krempen und lange Gabelflinten trugen. Uns gingen die Tibeter nichts an, und wir wollten an ihnen ruhig vorbeiziehen, aber unsere Maulesel, die von dem guten Grase der letzten Tage recht lebhaft geworden waren, hatten ihren Kopf für sich; sie machten Kehrt und gesellten sich zu den Yaken, was diese derart ärgerte, daß sie sich in wilder Flucht zerstreuten. Die Tibeter pfiffen und gestikulierten, wir riefen und schrien, Jollbars und Malenki machten fürchterlichen Krakehl mit ihren tibetischen Kollegen, und der größte Wirrwarr herrschte auf dem Schlachtfelde. Mit vieler Mühe wurden wir der Tiere Herr und trennten uns in guter Ordnung.

Auf einem niedrigen Passe war ein Steinhaufen mit der Inschrift »Om mani padme hum« aufgetürmt worden. Wir sahen in der Gegend verschiedene schwarze, stets von Schaf- und Yakherden umgebene Zelte. Menschen waren jedoch selten, und als wir schließlich einen alten Mann erwischten, dachten wir, er werde uns saure Milch verkaufen. Er antwortete uns aber ganz ruhig, Milch habe er allerdings, aber verkäuflich sei sie nicht, und überdies brauche er sie selbst; etwas anderes wollte der Geizhals uns auch nicht überlassen.

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Der Lama im Gespräche mit Tibetern.

Je weiter wir kamen, desto zahlreicher wurden die Zelte; manchmal gaben sie der Landschaft ein schwarzpunktiertes Aussehen. Vor jedem Zelte erhob sich ein großer Stapel Yakmist zur Winterfeuerung. Um nicht zu sehr von Neugierigen überlaufen zu werden, ritten wir weiter und machten in der Nähe von vier einsamen Zelten Halt, wo sich der Lama einen »Domba« (Napf) mit saurer Milch füllen ließ, während Schagdur und ich von einem jungen Tibeter, der wie ein Spion aussah, Besuch hatten. Er sprach unausgesetzt auf uns ein, aber wir begriffen kein Wort davon.

Am Montag, 5. August, ritten wir 35 Kilometer in südsüdöstlicher Richtung nach dem 53. Lager, von Tscharchlik an gerechnet. Erst jetzt spürten wir, daß es Sommer war, und in der Nähe des Tso-nekk, des »Schwarzen Sees«, stieg die Temperatur auf 20° C. Überall sah man Zelte und Herden. Auf einer großen, überall von ziemlich hohen Bergen umgebenen Ebene machten wir in der Nähe von zwölf Zelten Halt. Wir waren hier 270 Kilometer vom Hauptquartiere entfernt.

Da die Tibeter uns gar keine Aufmerksamkeit schenkten, sondern ruhig an ihren Feuern sitzen blieben, während ihre Kinder mit jungen Hunden und Lämmern spielten, fühlten wir uns vollkommen ungeniert. Aber als es dunkel wurde, näherten sich drei Tibeter zu Fuß unserem Zelte. Der Lama und Schagdur gingen ihnen entgegen. Als sie lange fortblieben, fing ich an, mich ihretwegen zu beunruhigen. In stockfinsterer Nacht kam Schagdur endlich wieder. Er war ebenso ruhig wie gewöhnlich, aber als er mich auf Russisch anredete, wußte ich, daß er schlechte Nachrichten brachte.

» Es sieht schlimm für uns aus!« sagte er, »ich verstand kein Wort, hörte aber unaufhörlich Schwed-Peling, Burjat, Lhasa. Der Lama weint beinahe und ist außerordentlich demütig.«

Erschüttert und geknickt kehrte der Lama mit dem Berichte zurück, daß einer der drei Tibeter ein Häuptling oder Offizier gewesen sei, der ihn höflich, aber doch in strengem, befehlendem Tone angesprochen habe. Ohne Umschweif habe er gesagt, sie hätten schon vor drei Tagen erfahren, daß ein »Schwed-Peling« (schwedischer Europäer) auf dem Wege nach Lhasa sei, und einige Yakjäger, die kürzlich in Nakktschu angelangt seien, hätten dort gemeldet, daß sie eine große europäische Karawane gesehen, die über das Gebirge nach Süden ziehe. Tausend Fragen hagelten dem Lama um die Ohren. Ob er etwas von diesen Europäern wisse, ob einer von ihnen unter uns sei, wieviele wir seien, wieviele Tiere wir hätten, ob wir bewaffnet seien, woher wir kämen, wohin wir gingen, weshalb wir diese versteckte Straße gewählt, statt die gewöhnliche Pilgerstraße der Mongolen einzuschlagen usw. »Sage nur die Wahrheit«, habe er hinzugefügt, »und wie kannst du, ein Lama, diese unbekannten Fremdlinge begleiten?«

Der Lama hatte erzählt, daß die europäische Karawane neun Tagereisen von hier Halt gemacht habe, daß wir drei aber Erlaubnis erhalten hätten, Lhasa zu besuchen, während die Tiere weideten. Über die Zusammensetzung der Karawane hatte er genaue Auskunft erteilt, da es auf ihn den Eindruck gemacht, als hätten die Tibeter sie schon ausspionieren lassen.

Der Bescheid des Häuptlings lautete: »Ihr bleibt morgen noch hier. Ich komme dann in euer Zelt, und wir werden weiter miteinander reden. Ich werde einen mongolischen Dolmetscher besorgen, der mit den beiden anderen reden kann.«

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Zwei tibetische Hirtenknaben.

In dieser Nacht hielten wir noch lange Rat. Daß uns der Weg nach Lhasa nun versperrt war, war ziemlich klar, aber würde man uns unbehelligt aus dem Lande ziehen lassen? Und woher hatten sie den Ausdruck »Schwed-peling«? Wahrscheinlich von der tangutischen Pilgerkarawane, die uns im vorigen Herbst in Tscharchlik gesehen hatte. Was würde uns der nächste Tag wohl bringen? Ja, dann würden wir wohl unser Urteil hören und uns einem Verhöre und einer Untersuchung, die uns wahrscheinlich teuer zu stehen kommen würde, unterwerfen müssen. Noch einmal gingen wir unsere Rollen durch. Jetzt, wenn je, waren wir mitten im Abenteuer drin; Klugheit und unerschütterliche Ruhe konnten uns jetzt vielleicht allein noch das Leben retten. Ich seufzte erleichtert auf in dem Bewußtsein, daß wir uns am nächsten Morgen ausschlafen durften und daß unsere unsichere Lage sich jetzt entscheiden würde.

Während der ganzen Nacht bellten die Hunde in den Nomadenlagern rings umher. Die Tibeter gingen augenscheinlich von Zelt zu Zelt, verbreiteten die Nachricht von unserer Ankunft und bereiteten sich auf etwas vor. An mehreren Stellen sah man in dem nächtlichen Dunkel Lagerfeuer glimmen.

Kaum war an dem Tage, der über unser Schicksal entscheiden sollte, die Sonne aufgegangen, so besuchten uns wieder drei Tibeter. Sie ließen ihre Pferde mit zusammengebundenen Vorderbeinen in gemessener Entfernung stehen, nahmen an unserem Feuer Platz und stopften ihre Pfeifen. Ihre eigentliche Absicht schien die Prüfung meiner Augen zu sein, denn sobald ich zwischen zweien von ihnen Platz genommen hatte, baten sie mich, ich möchte doch meine schwarze Brille abnehmen. Sie schienen zu glauben, daß alle Europäer blond seien und blaue Augen hätten, und konnten daher ihr Erstaunen gar nicht beherrschen, als sie sahen, daß meine Augen ebenso schwarz waren wie ihre eigenen. Sichtlich verdutzt, nickten sie mir freundlich zu und sprachen schnell und eifrig miteinander.

Darauf wünschten sie unsere Waffen zu sehen, und mit größter Fingerfertigkeit zeigte ihnen Schagdur die Teile seines russischen Magazingewehres und ich meinen schwedischen Offiziersrevolver. Wir waren kaum mit dein Vorzeigen fertig, als sie uns schon kopfschüttelnd baten, unsere Mordwaffen doch lieber wegzulegen, und dann aufstanden, weil sie es augenscheinlich für sicherer hielten, sich zurückzuziehen. Sie gingen geradeswegs und vorsichtig nach der Stelle, wo ihre Pferde standen, und saßen erst auf, als sie sich außer Schußweite glaubten.

Nach einer halben Stunde machten uns vier neue Gäste eine Visite, drei schmutzige Nomaden mit langen, schwarzen Haaren, an deren Gürteln Säbel und lange Metallpfeifen hingen, nebst einem alten, hochgewachsenen, kurzgeschorenen Lama in rotem Gewande und gelber Mütze. Das einzige, was dieser Wackere wissen wollte, war die Stärke der Hauptkarawane, und darüber erhielt er Bescheid. Beiderseits wurden die üblichen Höflichkeitsbezeigungen erwiesen, und mit Freundschafts- und Hochachtungsversicherungen wurde nicht gegeizt. Der Alte klärte uns über seinen eigenen priesterlichen Rang auf, dessen hohe Würde unserem guten Schereb Lama so imponierte, daß er sich erhob, die Handflächen gegeneinanderdrückte und mit seiner Stirn die des Greises berührte.

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Tibetische Kavallerie, zum Angriff bereit.

Schließlich sagte der Alte mit verblüffender Bestimmtheit: »Ihr müßt drei, höchstens fünf Tage hier bleiben. Heute früh haben wir Kuriere an den Gouverneur von Nakktschu geschickt, um anzufragen, ob ihr weiterreisen dürft oder nicht. Als Antwort auf dieses Schreiben kommt entweder ein Brief mit Verhaltungsbefehlen, oder es kommt der Gouverneur Kamba Bombo selbst; in jedem Falle seid ihr bis dahin unsere Gefangenen

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Tibetischer Soldat.

Jetzt glaubten wir, daß man uns in Ruhe lassen werde, aber schon nach wenigen Minuten begab sich etwas, das uns in Aufregung versetzte. Von allen Seiten her versammelten sich bei dem kleinen Zeltlager, wo unsere nächsten Nachbarn wohnten, kleine Gruppen von bis an die Zähne mit Speeren, Lanzen, Säbeln und langen schwarzen Gabelflinten bewaffneten Reitern. Einige trugen hohe weiße Filzhüte, andere dunkle Binden um den Kopf gewunden und alle rote oder schwarze Mäntel. Wie Banditen sahen diese Soldaten aus, die jetzt mobil gemacht worden waren, um Tibet vor einem eingebildeten feindlichen Einfalle zu schützen. Sie schossen wie Pilze aus der Erde auf, und bald konnten wir 53 Krieger zählen, die sich in zerstreuten Gruppen an ihren auf freiem Felde angezündeten Feuern niederließen.

Mit größter Spannung beobachteten wir alle ihre Bewegungen.

Der Lama war überzeugt, daß unsere letzte Stunde geschlagen hatte, aber ich dachte, wenn es wirklich ihre Absicht wäre, uns umzubringen, so würden sie dazu nicht so viele Leute aufbieten und das Blutbad lieber nachts ins Werk setzen. Nach einer Weile hatte es wirklich den Anschein, als sollte der Lama recht behalten. Sieben Reiter sprengten ostwärts nach Nakktschu, und einige galoppierten in der Richtung nach Lhasa davon, um den Dalai-Lama von unserer Ankunft zu benachrichtigen. Alle übrigen aber, die inzwischen immerfort Verstärkung erhalten hatten, ritten in geschlossenen Gliedern und in wildester Karriere gerade auf unser Zelt los. Wie Vieh wollten wir uns nicht abschlachten lassen, wir hielten also unsere Waffen bereit und saßen oder standen, auf das Schlimmste gefaßt, in der Zelttür. Die Tibeter näherten sich wie ein Sturmwind, und die Hufe der Pferde schlugen schmetternd auf den nassen Boden. Sie erhoben ein wildes Indianergeheul und schwangen mit kriegerischen Gebärden Lanzen und Speere über ihren Köpfen. Einige schwangen ihre Säbel auf dieselbe Weise und schienen die Schar zu kommandieren. Nur ein paar Minuten blieben uns noch, denn sie nahten sich, die Zügel schlaff herabhängend und die Fersen in die Weichen der Pferde gestemmt. Jetzt sind sie dicht vor uns und im nächsten Augenblick werden sie uns einer Lawine gleich erdrücken! Doch nein, sie zertreten uns nicht! Die Schar war uns so nahe, daß die ersten Pferde uns mit Schmutz bespritzten, als sie sich auf ein gegebenes Zeichen teilte; die eine Hälfte der Reiter machte rechtsum, die andere linksum Kehrt, darauf kehrten beide Abteilungen wieder nach ihrem Ausgangspunkte zurück.

Noch ein paarmal wiederholte sich dieses unbehagliche Manöver, das uns augenscheinlich den nötigen Respekt einjagen sollte. Dann fingen sie in ihrem Lager an, mit ihren langen schwarzen Gabelflinten nach der Scheibe zu schießen. Um 2 Uhr saßen sie wieder auf, hüllten sich in ihre Mäntel und ritten, während es platzregnete, in der Richtung, aus der sie gekommen waren, fort. Jetzt wurde ich wirklich unruhig und fürchtete, daß ein Anfall auf das Hauptquartier geplant würde; mich erfüllte nur die eine Sehnsucht, dorthin reiten und bei der Verteidigung helfen zu können. Doch wir waren ja gefangen und konnten uns nicht von der Stelle rühren.

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Die Tibeter schwangen mit kriegerischen Gebärden Lanzen und Schwerter über ihren Köpfen.

Nachdem das Feld auf diese Weise geräumt worden war, besuchten uns zwei Nomaden, die uns Fett und saure Milch brachten. Es war ihnen verboten, Entschädigung dafür anzunehmen. Am ausdauerndsten waren jedoch vier alte Männer, die ganz bei uns bleiben zu wollen schienen. Da wir sie auf andere Weise nicht loswerden konnten, gingen wir ins Zelt, legten uns nieder und stellten uns schlafend. Da es aber gerade wieder zu gießen begann, krochen die vier Gäste ebenfalls in das Zelt hinein, in dem es auch ohne sie schon eng genug war. Einer von ihnen ermunterte uns mit den Worten: »Wißt ihr nicht, daß es euch den Kopf kosten kann, daß ihr diesen Weg gegangen seid; alle, die von dieser Seite her Lhasa zu erreichen versuchen, werden enthauptet.«

Mitten durch das Zelt rieselte ein kleiner Regenbach, der allmählich immer breiter wurde und uns zwang, beiseite zu rücken. Um uns vor vollständiger Überschwemmung zu bewahren, mußten wir oberhalb des auf langsam abfallendem Boden stehenden Zeltes einen richtigen Kanal graben. Dieser Nacht sahen wir mit verhältnismäßiger Ruhe entgegen, wenigstens hinsichtlich unserer Tiere. Sie durften nach ihrem Belieben frei umherlaufen, und wir sahen uns nicht einmal nach ihnen um, sondern betrachteten sie als Kostgänger der Tibeter. Was uns selbst betrifft, so wurden wir von 37 Wachtposten bewacht, deren Feuer nachts einen schwachen Schein durch den Regennebel warfen, hauptsächlich auf der Seite nach Lhasa.

Während des ganzen 7. August waren wir Gegenstand vieler und recht lästiger Aufmerksamkeiten. Zuerst erschien der Mann, der uns mit Enthaupten gedroht hatte, und schenkte uns einen Napf saure Milch, einen Sack Argol und einen Blasebalg, der uns besonders willkommen war. Ein anderer Tibeter namens Ben Nursu blieb volle drei Stunden und erklärte ziemlich rückhaltlos, er sei beauftragt, bei uns zu spionieren. Er war jedoch so nett, uns so wichtige Auskünfte zu geben, daß wir gar nichts gegen seine Zudringlichkeit hatten. Von diesem Orte, der Dschallokk hieß, rechnete er bis nach Lhasa fünf Tagereisen, obgleich ein Reiter die Hauptstadt in einem Tage erreichen konnte. Wir sahen auch einmal einen Eilboten von Dschallokk nach Lhasa am zweiten Tage wiederkehren, aber derartige Kuriere wechseln unterwegs mehrmals die Pferde; die Entfernung beträgt ungefähr 200 Kilometer.

Einer der heutigen Besucher, ein alter, langhaariger Mann namens Dakksche, sagte, nach dem was der Lama aufschnappte, zu seinen Kameraden:

»Diese drei Männer sind nicht von der allerbesten Sorte; nach Lhasa dürfen sie natürlich nicht ziehen. Kamba Bombo kommt in einigen Tagen hierher, und dann wird man sehen. Inzwischen darf es ihnen an nichts fehlen, und keiner darf Bezahlung annehmen. Wenn sie zu fliehen versuchen, sollen die Wächter mich sofort davon unterrichten. Amgon Lama hat die heiligen Bücher befragt und gefunden, daß diese Männer zweideutige Personen sind, die man nicht nach Lhasa lassen darf. Der Jäger Ondschi hat sie vor langer Zeit im Gebirge gesehen und gesagt, ihr Gefolge sei fürchterlich groß. Die Nachricht davon ist sofort nach Lhasa geschickt worden.« Und auf mich zeigend, fügte er hinzu: »Amgon Lama konnte nicht feststellen, ob der da ein Burjat ist oder nicht.«

Die anderen erwiderten nur »lakso, lakso«, welches Wort Ehrfurcht und Unterwürfigkeit ausdrückt. Aus dieser Unterhaltung ging hervor, daß es hauptsächlich die Yakjäger beim 38. Lager gewesen waren, die uns diese Suppe eingebrockt hatten.

Auch an diesem Tage streiften Reiterpatrouillen in der Gegend umher. Die Tibeter boten ihre Truppen auf, um den von Norden her eindringenden Feinden entgegenzutreten und ihnen Halt zu gebieten. Ein Tibeter sagte aufrichtig, dies gelte der Hauptkarawane, ein anderer erklärte, es handle sich nur um die Verteidigung des heiligen Landes.

Am 8. August erwachte ich halberstickt von dem schauderhaften Rauche, der das Zelt erfüllte. Draußen regnete es in Strömen, darum wurde drinnen Brot gebacken. Auf das Fett, mit dem mein Gesicht kürzlich eingerieben war, hatte sich eine dicke Rußschicht gesetzt. Schaffleisch, Butter, Fett, süße und saure Milch wurden uns in weit größeren Mengen gebracht, als wir selbst mit Hilfe der Hunde bewältigen konnten.

Als das Kreuzverhör wieder begann, wurde ich böse und erklärte rund heraus, wenn sie das zudringliche Fragen nicht ließen, würde ich sie hinauswerfen und keine Seele mehr in unser Zelt lassen. Da schwiegen sie, verbeugten sich artig und sagten mir ihr bescheidenes »lakso, lakso«. Der Lama erklärte, sie hätten großen Respekt vor mir, und ich kam mir beinahe wie Karl XII. in der Türkei vor. Sie verhinderten mich, zu gehen, wohin ich wollte, wünschten aber selbst, mich möglichst schnell loszuwerden. Wir waren gleichzeitig ihre Gäste und ihre Gefangenen, ihre Freunde und ihre Feinde, und offenbar war von Lhasa Befehl ergangen, daß man uns mit der größten Rücksicht behandeln solle und uns kein Haar gekrümmt werden dürfe. Nur der Lama war traurig, seitdem wir erfahren hatten, daß Kamba Bombo selbst zur Untersuchung kommen werde. Der Lama hatte ihn in Nakktschu gesehen und wußte, daß er es war, der alle nach Lhasa ziehenden mongolischen Karawanen mit peinlicher Sorgfalt untersuchen ließ und der dafür verantwortlich war, daß keine Europäer durchschlüpften. Er erinnerte sich, daß einst ein mongolischer Lama um irgendeines Versehens willen das Recht verwirkt hatte, Lhasa zu besuchen, und daß dieser, um für seine Sünde zu büßen, den ganzen Weg von Urga nach der heiligen Stadt auf den Knien gekrochen war. Bei jedem Schritt hatte sich der Lama mit den Händen vornüber auf die Erde geworfen; er hatte zu dieser Promenade 6 Jahre gebraucht und war trotzdem nicht in Lhasa eingelassen worden. Unser Lama fürchtete daher, daß auch ihn ein entsetzliches Schicksal treffen werde. »Komme ich auch mit dem Leben davon«, sagte er, »so ist meine Laufbahn doch zu Ende, und ich darf Lhasa nie wiedersehen.«

Mittlerweile wurden wir es überdrüssig, hier faulenzend herumzuliegen, zu schlafen, zu kochen, zu essen und dem Tun und Treiben der Tibeter zuzuschauen. Gleichzeitig aber war es schön, daß wir ausruhen konnten und nicht in diesem ewigen Regen, der alles kalt und grau, naß, rauh und dunkel machte, zu reiten brauchten; nur quälte es mich, daß ich nicht mein freier Herr, sondern der Willkür der Tibeter preisgegeben war. Ich sehnte mich nach Kamba Bombo, der die Sache wohl zum Abschluß bringen würde.

Wir hatten uns jedoch über nichts zu beklagen. Unsere Hüter umgaben uns mit rührender Fürsorge und Freundlichkeit. Sie sagten, dies geschehe auf besonderen Befehl des Dalai-Lama. Die Reiter, die wir täglich auf der Lhasastraße sahen, waren Kuriere und Eilboten, die dem Dalai-Lama ständig Nachrichten aus Dschallokk brachten. Die mobil gemachten Soldaten sind berechtigt, ihren Bedarf von den Nomaden zu nehmen, die nachher aus der Hauptstadt Entschädigung dafür erhalten. Durch unseren friedlichen Zug hatten wir also eine schreckliche Last über das Land gebracht, und Dschallokk war gewissermaßen ein militärischer Knotenpunkt geworden. Es wimmelte überall von Stafetten, Spähern, Kundschaftern und Kurieren.

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Tibetische Kavallerie.

Wir plauderten nachmittags gerade mit sieben Tibetern, als eine Reiterschar sich zeigte, die auf unser Zelt zusprengte.

»Ha, hier haben wir den Bombo von Nakktschu!«

Es stellte sich jedoch heraus, daß es nicht der vornehme Herr selbst, sondern nur sein Dolmetscher für die mongolische Sprache war, ein netter, gemütlicher Tibeter. In dem Augenblick, als Kamba Bombo von unserer Ankunft benachrichtigt worden war, hatte er dem Dolmetscher befohlen, Tag und Nacht nach Dschallokk zu reiten; er selbst werde, sobald es gehe, nachkommen.

Jetzt begann das große Verhör von neuem. Alles kritische Kopfzerbrechen über meine Nationalität wurde von der Furcht der Tibeter verdrängt, daß die Hauptkarawane nur der Vortrab des gewaltigen Einfallheeres sei, das sie aus dem Norden zu erwarten schienen. Sie hatten einen panischen Schrecken vor dieser eingebildeten Armee, und schon jetzt wurde mir völlig klar, daß es den höchsten Behörden Tibets nie im Traume einfallen werde, sich unter den Schutz oder die Oberhoheit der Russen zu stellen. Der Dolmetscher versicherte uns. daß wir, einerlei wer wir seien, nicht nach Lhasa dürften, aber auf Befehl des Dalai-Lama solle uns kein Leid zugefügt werden.

Schagdur und ich machten uns jetzt mausig und hielten dem armen Dolmetscher eine Standrede, daß ihm der Kopf schwindelte. Wie könne man sich unterstehen, uns zu hindern, denen der russische Zar erlaubt habe, nach Lhasa zu wallfahrten, und habe der Dalai-Lama friedlichen Burjaten schon je den Zutritt verweigert! Kamba Bombo solle nur seinen Kopf inachtnehmen, er könne ihn verlieren, wenn er uns nicht – unsere völlige Freiheit wiedergebe. Der Dolmetscher und seine Leute machten sehr ernste Gesichter. Von Rußland wußten sie gar nichts, und von Indien hatten sie nur undeutliche Begriffe. Was wir von der Macht und Größe dieser Reiche sagten, machte nicht den geringsten Eindruck auf sie. Schließlich einigten wir uns dahin, einen Eilboten an Kamba Bombo zu senden mit der Bitte, er möge sich beeilen, und der Dolmetscher versprach, auch nach Lhasa einen Kurier zu schicken, der den Dalai-Lama von unserer letzten Strafpredigt unterrichten sollte.

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Tibetische Infanterie.


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