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Nach vielen Erlebnissen und Abenteuern, die in diesem Buche nicht erzählt sind, und nach noch einer lebensgefährlichen Bootfahrt über den westlichen See langten wir eines Nachts bei heftigem Sturme und Schneetreiben müde und frierend wieder in Turdu Bais Lager an. Die Kamele und Pferde hatten sich neu gekräftigt, und Aldat überraschte mich mit vier fetten Orongoantilopen, deren Fleisch uns über die nächste Zukunft hinweghalf. Dieses Lager, das 44., wurde der Wendepunkt; noch weiter nach Süden durften wir uns nicht wagen; wir hatten nur für 2½ Monate Proviant mitgenommen und waren schon beinahe 50 Tage unterwegs.
Doch ehe ich von diesem Teile Tibets schied, wollte ich noch eine Exkursion machen. Im Süden erhob sich ein Firnmassiv, das verlockend aussah; ich wollte südlich um diesen Gebirgsstock herumziehen und wählte Tscherdon und Aldat als Begleiter. Die Karawane sollte nördlich davon auf ebenem Boden marschieren; nach vier Tagen mußten wir uns am Westfuße des Berges treffen. Die zuerst anlangende Gesellschaft sollte dort auf die andere warten. Wir würden einander kaum verlieren können, da wir ja stets die Spur der Kamele als Wegweiser hatten. Der Sicherheit halber nahmen wir aber doch den ganzen Rest von Aldats Pulvervorrat mit für den Fall, daß wir die Unseren nicht mehr wiederfinden würden.
Mit meinen beiden Leuten ritt ich in gewundenen Tälern nach dem Berge hinauf. Zwei große weiße Wölfe verfolgten uns eine Strecke weit, und Jolldasch, der über diese Frechheit schlechter Laune war, mußte angebunden werden; er wäre verloren gewesen, wenn er nach seinem Willen auf die Isegrimme hätte losstürmen dürfen. Am Abend des zweiten Tages lagerten wir müde und steifgefroren auf einer Halde, auf der die letzten jämmerlichen Grashalme wuchsen.
Als das Lager fertig war – wir schliefen auf solchen Ausflügen unter provisorischen Filzzelten – meldete Aldat, daß ein wenig höher am Abhange ein großer Yak grase, und bat, ihn erlegen zu dürfen. Ich sah Aldat zu, wie er katzenartig in den Bodenvertiefungen hinschlich, um hinreichend nahe an das nichts Böses ahnende Tier heranzukommen. Er verdankte es dem starken Gegenwinde, daß er sich dem Yak auf dreißig Schritt nähern und die Flinte unbemerkt auf die Gabel legen konnte. Der Schuß krachte, der Yak sprang empor, daß die Erde umherflog, lief dann aber nur noch einige Schritte, blieb stehen, taumelte, versuchte sich im Gleichgewicht zu halten, stürzte, erhob sich aber wieder und wiederholte diese Bewegungen mehrere Male, bis er schließlich kopfüber hinfiel und liegen blieb. Aldat lag noch immer regungslos wie eine Bildsäule hinter seiner Flinte, um nicht die Aufmerksamkeit und die Rachgier des sterbenden Tieres zu wecken.
Es war ein fünfzehnjähriger, großer, fetter Stier, dessen prächtige Fettmassen wir mit scharfen Messern herausschnitten. Unser Lager befand sich auf einer Höhe von 5143 Meter. Es strengte sehr an, zu Fuß zum Yak hinaufzugehen; man kann immer nur wenige Schritte hintereinander machen, das Herz klopft und droht zu zerspringen und man erstickt beinahe vor Atemnot. Wir wurden mit der Arbeit vor Dunkelwerden nicht mehr fertig, aber früh am nächsten Morgen ging Aldat wieder zu seinem Yak hinauf. Da wir nichts von ihm hörten, schickte ich ihm Tscherdon nach. Er war erkrankt und lag neben seinem Opfer. Er taumelte herab mit heftigem Kopfweh und Nasenbluten, den deutlichen Symptomen der Bergkrankheit, an die wir gewöhnt waren und die sich bald zu legen pflegte.
Mein Kosak und ich packten nun alles zusammen und beluden unsere beiden Packpferde, Aldat wurde in seinen Sattel gehoben, und dann traten wir den Marsch nach dem Passe hinauf an, dessen flache Schwelle sich im Westen zeigte. Zur Rechten hatten wir den mächtigen Gebirgsstock mit seinen Gletscherzungen. Der Boden war locker, die Pferde sanken in den Schlamm ein, die Stunden verrannen, und wir erreichten die Schwelle. Aber hinter ihr erhob sich eine neue und dann wieder eine; immer höher hinauf ging es in dieser dünnen, mörderischen Luft. Der Sturm ging uns gerade entgegen, und wir wurden von ihm bis ins Mark durchkältet. Manchmal mußten wir im Schutze großer Granitblöcke verweilen. Endlich erreichten wir die höchste, 5426 Meter hoch liegende Schwelle. Man denke sich zwei Eifeltürme übereinander auf den Gipfel des Montblanc gestellt! Es ist eine schwindelnde Höhe, und wir hatten hier die halbe Atmosphäre unter uns!
Ein im Schlamm versinkendes Kamel.
Unser nächster Lagerplatz befand sich in einer völlig vegetationslosen Gegend. Am Tage darauf sahen wir in der Ferne drunten auf der Ebene einige dunkle Punkte. Es waren Turdu Bai und Kutschuk, die mit dem Anstürmen eines gewaltigen Steinhaufens beschäftigt waren, der uns als Wegmarke dienen sollte.
Die Herbstkälte begann jetzt fühlbar zu werden, und jeden Morgen und Abend wurde ein Topfdeckel mit glühenden Kohlen in meine Jurte gebracht, – sonst gefror die Tinte in der Feder, was die Geduld sehr auf die Probe stellt. Dank einem vorteilhaften Terrain konnten wir am 14. September volle 30 Kilometer zurücklegen. Im Lager überfiel uns ein sehr heftiger Schneesturm. Draußen war es so finster wie in einem Sacke. Wie gewöhnlich wollte ich um 9 Uhr zum Ablesen der Thermometer hinausgehen. Unsere Ableselaterne gehörte zu den angegriffensten Invaliden der Karawane; drei ihrer Glasscheiben waren durch Pappe ersetzt, und die vierte hatte zwanzig mit Papierstreifen und Syndetikon verklebte Risse. Das Zelt der Leute war nicht zu sehen, obgleich man das Zelttuch im Winde flattern hörte. Man hörte das müde, schwere Atmen der Kamele. Der Schnee knirschte unter den Füßen. Vollgeschneit und frierend eile ich wieder hinein. Draußen heult der Sturm die ganze Nacht entsetzlich; es saust und prasselt, wenn der Schnee gegen den Filzbehang schlägt, aber diese neue Decke hält die Jurte warm.
Tibetisches Gebirgspanorama.
Der viele Schnee taute während der folgenden Tage auf und machte das schlammige Land, das wir zu durchziehen hatten, noch weicher als sonst. Bis Mittag bleibt jedoch die Erdoberfläche gefroren, und es geht sich darauf wie auf dünnem Eise. Dann aber taut sie auf. Eine Stelle hatten fünf Kamele in schönster Ordnung passiert, das sechste aber, das letzte, sank mit beiden Vorderbeinen ein. Es steckte im Schlamme fest und sank immer tiefer. Die anderen gingen, von Turdu Bai geführt, einige Schritte weiter; der Nasenstrick, an dem das Kamel geführt wurde, straffte sich und riß, und das Kamel brüllte vor Schmerz. Alle Leute eilten herbei und nahmen ihm seine Last ab. Dabei fiel es auf die Seite; der Boden wurde immer weicher, und das Tier lag so unbeweglich wie im Wasser und wollte keine Anstrengungen machen. Wir patschten und rutschten in dem Schmutze um das Tier herum, und ich fürchtete, daß es verloren sein werde. Wir befestigten ihm Stricke um die Beine, um sie nacheinander herauszuziehen; der Packsattel, der sich im Schlamme festgesogen hatte, wurde losgeschnallt, aber das Kamel sank immer tiefer ein. Ich wollte dieses prächtige, treue Tier nicht auf so gemeine Weise verlieren. Schnell wurden einige Filzdecken abgeschnallt und zusammengefaltet unter jedes herausgezogene Bein gelegt. Auf diese Weise erhielt das Kamel einen Stützpunkt und konnte wieder aufgerichtet werden. Nachdem es sich ein paar Minuten ausgeruht hatte, zwangen wir es durch Rufen, Peitschenschläge und Ziehen am Nasenstricke zu einer verzweifelten Kraftanstrengung. Endlich stand es glücklich auf den Beinen und taumelte nach festerem Boden hin, während ihm Schlamm und Schmutz in Klumpen von den Beinen und Seiten trieften. Als es dort zitternd, atemlos und verwirrt stand, mußte ihm der Lehmpanzer, der seinen Körper bedeckte, mit einem Messer abgekratzt werden.
Tibetisches Gebirgspanorama.
So zogen wir in dem öden Tibet dahin. Wir sehnten uns nach Menschen, waren aber noch 400 Kilometer von unserem Hauptquartier entfernt. Unsere Tiere waren todmüde und konnten nur noch kurze Tagemärsche machen. Drei Tage Marsch, den vierten Ruhe, war jetzt die Marschordnung.
Der arme Aldat wurde immer kränker. Er hatte die Herrschaft über Körper und Geist verloren und starrte mit wirren Bücken ins Leere. Nachts phantasierte er von seiner toten Mutter und seinem alten Vater in Tschertschen. Oft schwebten ihm seine früheren Jagdzüge vor, und er rief mich und bat, ob er auf die Jagd nach wilden Yaken gehen dürfe, obgleich er kein Glied rühren konnte. In der ersten Zeit konnte er wenigstens noch – festgebunden – zu Pferde sitzen, aber bald mußten wir ihn gut zugedeckt in ein provisorisches Bett, das ein Kamel trug, legen. Seine Füße waren hart und kalt wie Eis und blauschwarz; bald rieb ich sie mit Schnee, bald bekam er heiße Fußbäder, aber die dunkle Farbe stieg immer höher nach den Knien hinauf. In den Füßen hatte er gar kein Gefühl, aber das Herz tat ihm weh. Eines Abends bat er, im Freien zwischen zwei Kamelen schlafen zu dürfen. Die Mohammedaner glauben nämlich, daß die von diesen Tieren ausstrahlende Körperwärme für einen Kranken, dessen eigene Kräfte abnehmen, heilsam und stärkend sei. In Tschertschen hatte Aldat einmal, als er krank war, kleine, mit Sprüchen aus dem Koran beschriebene Papierstreifen verschlucken müssen, aber jetzt hatten wir keinen der heiligen Schriften kundigen »Mollah« bei uns. Eine zweite mohammedanische Kur wurde eines Tages versucht, als Tscherdon eine Orongoantilope geschossen hatte. Der Kranke wurde ganz nackt ausgezogen und in die weiche, noch warme Antilopenhaut gewickelt, die, mit den Haaren nach außen, fest an seinen Leib gepreßt wurde und daran festklebte. Es war recht bitter, ihm nicht helfen zu können.
Das Tierleben fing wieder an, reicher zu werden. Eines Morgens weckte mich ein entsetzlicher Lärm im Lager, die Hunde bellten, daß ihnen bald die Luft ausging, und die Leute schrien sich heiser. Ich eilte hinaus und sah einen großen Bären ganz ruhig vom Lager, das er recht gewissenhaft visitiert hatte, fortgehen. Als die Hunde ihn anfielen, hielt er es für ratsam, abzuziehen; er muß geahnt haben, daß es mit unserem Munitionsvorrat schlecht stand. Einige Schüsse waren freilich noch da, und zwei von ihnen jagte Tscherdon in die Brust eines kolossalen Jaks, dessen Bild ich vorführen kann. Ein zudringlicher Wolf mußte ebenfalls ins Gras beißen, aber der Bär durfte nicht geschossen werden, so gern Tscherdon ihm auch zu Leibe gehen wollte; er hatte ja nichts Böses getan und das letzte Schaf, das stets zwischen zwei Kamelen schlief, wo es am wärmsten war, nicht angerührt.
Mollah Schah, Turdu Bai und Kutschuk vor Tscherdons Yak.
In dieser Gegend von Tibet war der Boden wie ausgehöhlt von Murmeltieren, deren Baue überall ihre gähnenden Löcher zeigten. Diese großen, kräftig gebauten Nagetiere sehen unbeschreiblich komisch aus, wenn sie sich einzeln oder paarweise auf der Erddecke über dem Höhleneingange sonnen. Wenn wir uns nähern, rollen sie wie Billardbälle in ihre Löcher hinein; vorher aber begrüßen sie uns mit schrillen Pfiffen, die von allen Abhängen widerhallen. Wir wurden von diesen kritischen Zuschauern regelrecht ausgepfiffen. Ein alter Murmelonkel, der taub gewesen sein muß und sich ungebührlich weit von seiner sicheren Höhle entfernt hatte, mußte für seine Unvorsichtigkeit büßen. Er lag, sich sonnend, auf dem Rücken an einem Abhange, beide Vordertatzen auf dem Magen; er sah einem Menschen oder wenigstens einem Affen verwünscht ähnlich. Jolldasch fuhr wie ein Pfeil auf ihn los und störte ihn in seiner Siesta; während er sich verteidigte, eilten die Männer herbei und banden ihn, und dann wurde er unverletzt auf einem Kamel untergebracht. Wir wollten ihn zähmen; er blieb zwei Monate lang unser Gast, aber die Wildheit war ihm nicht auszutreiben. Sobald man sich näherte, setzte er sich auf die Hinterbeine, bereit, mit seinen messerscharfen Vorderzähnen zuzubeißen. Eine derartige Bißwunde soll sehr schwer heilen. Hielt man ihm einen Stock hin, so biß er große Späne davon ab. In den Lagern war er an einen kurzen Stock gefesselt, dessen anderes Ende mit einem Tau an einem in den Boden eingerammten Pflocke verankert war. Er sprang im Kreise um den Pflock herum und begann jeden Abend, an einer ihm geeignet scheinenden Stelle eine Höhle zu graben, wahrscheinlich in der Hoffnung, sich in dieses Versteck hineinretten zu können. Vergebliches Bemühen! Ehe er noch fußtief gekommen war, wurde er am nächsten Morgen auf sein Kamel gepackt, um abends wieder eine neue Höhle zu beginnen. In seine Heimat sollte er nie zurückkehren; er gewöhnte sich aber bald daran, auf dem Kamelrücken zu schaukeln. Brachte er uns auch weiter keinen Nutzen, so war er doch der Bajazzo und Spaßmacher der Karawane; er war gar zu komisch, wenn er seine kleinen Pläne an dem Pflocke verfolgte. Einen unauslöschlichen Haß hegte er gegen die Hunde, die ihm indessen nie etwas zuleide taten.
Die Kulane waren häufig. Mit ihren eleganten Bewegungen boten sie eine wirkliche Augenweide. Sechs von ihnen liefen während eines Tags lange ganz dicht hinter uns her, als wünschten sie, sich zu erbieten, unseren müden Pferden beim Tragen ihrer Lasten zu helfen. Ihre schlanken Formen sind geradezu vollendet; sie laufen im Halbkreise, 45º gegen die Erde geneigt, machen ein unerwartetes Manöver und bleiben plötzlich in einer Reihe ein wenig vor oder neben uns stehen. Ihre Bewegungen sind so bewundernswert regelmäßig und sicher, daß man glauben könnte, sie trügen unsichtbare Kosaken auf dem Rücken.
Meine Leute sehnten sich jetzt aufrichtig aus dem unwirtlichen Tibet fort und zählten die Tage und Meilen, die uns noch von den Unseren trennten. Sie freuten sich auch gar nicht, als ich wegen des schlechter gewordenen Zustands Aldats für den 22. September einen Extrarasttag am Südufer eines mittelgroßen Salzsees anordnete. Doch als Aldat am folgenden Morgen weder besser noch schlechter schien, konnten wir nicht länger warten, sondern betteten ihn in weichen Filzdecken zwischen zwei Feuerungssäcken auf ein Kamel. Seine Füße wurden ebenfalls in Filzdecken gewickelt und ein zusammengerollter Pelz unter seinen Kopf gelegt.
Umbetten des kranken Aldat.
Das Lager war abgebrochen, alle Tiere standen beladen da. In dem Augenblick, als wir uns in Marsch setzen wollten, hörte Aldat auf zu atmen. Seine schönen grauen Augen standen halb offen und schienen in der Ferne ein Land zu suchen, das unseren Blicken nicht erreichbar war. Er, der früher mit leichten, schnellen Schritten auf der Spur der Yake über die Berge geeilt, war den Strapazen erlegen, sein seltsames, freudenarmes Leben war beendet.
Ernst und schweigend versammelten sich die Mohammedaner um das Totenbett. Schließlich brach Turdu Bai das Schweigen mit der Frage, was mit dem Toten geschehen solle. Einige stimmten für sofortige Beerdigung, ich aber fand, daß er wenigstens erst kalt werden müsse, und kommandierte daher »Marsch«. Das Kamel hatte ihn schon so manchen Tag getragen, und er war eine leichte Last.
Unsere Karawane hatte sich jetzt in einen Leichenzug durch Tibets öde Täler verwandelt. Keiner sprach; eine feierliche, gedrückte Stimmung herrschte. Kulane und Yake wurden heute in Ruhe gelassen; die schwarzen Todesraben folgten uns in weiten Kreisen. Am Westufer eines Sees wurde das Lager aufgeschlagen. Während die anderen ihre gewöhnlichen Arbeiten verrichteten, gruben Mollah Schah und Nias ein Grab für Aldat. Mollah Schah sah wild und eigentümlich aus und sprach fast nie. Seinem Aussehen nach hätte er recht gut ein eingefleischter Schurke sein können, doch wenn er es je gewesen ist, so hat er sich während unserer Reise geändert, denn sein Betragen war stets tadellos. Er schien nicht den geringsten Abscheu vor Leichen zu hegen und sollte seine Geschicklichkeit als Totengräber leider noch ein paarmal zeigen müssen. Jetzt aber war er, wie auch die anderen, zu müde, um die Leiche zu waschen, wie es mohammedanischer Brauch ist. Aldats einer Pelz wurde unter, der andere über den Toten gelegt, der in Kleidern, Mütze und Stiefeln begraben wurde. Es war das einfachste Begräbnis, bei dem ich je zugegen gewesen bin; keine Zeremonien, keine anderen Gebete als die, welche ich schweigend für die Seelenruhe des Toten in einer anderen besseren Welt emporsandte. Das Grab wurde wieder zugeschüttet und unser Kamerad seiner Ruhe in dieser feuchten, verräterischen Erde überlassen. Ein länglicher Hügel wurde darüber aufgeschüttet. An der Kopfseite wurde eine Zeltlatte eingerammt, an deren Spitze eine von Aldats eigenen Jagdtrophäen, ein Yakschwanz, festgebunden wurde, wie es auf den Gräbern der Mohammedaner üblich ist. Ich ritzte den Namen des Toten und die Daten mit arabischen und lateinischen Buchstaben in ein kleines Brettstück ein, für den Fall, daß das Schicksal jemand hierherführen sollte, ehe jede Spur von dem Grabe verwischt wäre.
Am Morgen wurde die Karawane früher als sonst fertig, – alle wollten von dieser traurigen Stelle fort. Unmittelbar vor dem Aufbruch versammelten sich die Mohammedaner am Grabe und murmelten leise ein Gebet, dann wurde der arme Aldat einer entsetzlichen Einsamkeit überlassen. Die wilden Tiere der Einöde waren die einzigen Pilger, die von nun an sein Grab besuchen würden. Der schwarze Yakschwanz, das Symptom des Todes, flatterte melancholisch im Westwind, entschwand aber bald unseren Blicken, als wir über die Hügel fortzogen.
Je mehr wir uns dem Arka-tag näherten, desto öder wurde wieder das Hochland. Eines Tages ritten Tscherdon und ich voraus und überschritten eine 5203 Meter hohe Kette. Erst bei Dunkelwerden machten wir in einer Gegend Halt, wo es keinen Grashalm gab, und erwarteten dort die anderen. Todmüde kamen sie in kleinen Abteilungen an. Ein Schimmel aus Jangi-köll war in hoffnungslosem Zustand zurückgelassen worden. Zwei Kamele und ein Pferd hatten schlimme Augen; sie blinzelten immerfort, als litten sie an Schlafsucht.
In mißlichen Zeiten inspizierte ich nach dem Abendessen stets das Lager und die Tiere. Die Kamele lagen nebeneinander, mager und erschöpft. Die Pferde waren festgebunden; die Männer schliefen, müde von den Anstrengungen des Tages. In der Nacht tobte ein Schneesturm, und am nächsten Morgen war die Landschaft wieder kreideweiß. Kutschuk ging zurück, um das Pferd zu holen, das noch lebte; es konnte jedoch das Lager nicht mehr erreichen, sondern fiel unterwegs tot nieder.
Von diesen hohen Regionen sollten wir jetzt in ein großes offenes Tal hinunter, in dessen Mitte sich die stürmisch bewegte Fläche eines Salzsees ausdehnte. Erst in der Nähe trat er jedoch aus dem dichten Nebel, der das Becken füllte, hervor. Der Weststurm jagte mit wohl 25 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde dahin. Man muß die Knie fest zusammendrücken, um nicht aus dem Sattel geweht zu werden. Die ganze Karawane neigt sich nach der Windseite hinüber, die Kamele liegen gewissermaßen auf dem Winde und schwanken in ihrem wiegenden Gange. Schwänze, Mähnen und Mäntelzipfel stehen wie flatternde Wimpel in der Richtung des Windes.
Im Lager wäre unser kleiner Maulesel beinahe krepiert. Er muß giftige Kräuter gefressen haben, denn er schwoll unförmlich auf und krümmte sich stöhnend am Boden. Tscherdon behandelte ihn auf Burjatenweise, indem er ihm einen Pfriemen bis an den Stiel in die Seite stieß. Es strömten Gase heraus, aber kein Tropfen Blut. Dann wurde das Tier zum Aufstehen gezwungen und ihm ein Seil um das Hinterteil gelegt. Ein Mann zog am Halfter vorwärts, ein zweiter prügelte das Tier mit einer Holzlatte. Jedesmal, wenn es hinten ausschlug, zogen zwei andere Männer an je einem Ende des Bauchstrickes, so daß das Tier nach links und rechts gerissen wurde. Man mag von dieser richtigen Pferdekur sagen, was man will, jedenfalls hat sie den Esel geheilt. Er wurde ganz gesund, begleitete mich auf dem Ritt nach Lhasa, zog mit der Karawane durch ganz Tibet nach Ladak, ging über den Kara-korum-Paß nach Kaschgar und befand sich vortrefflich, als ich ihm im Mai 1902 auf immer Lebewohl sagte.
Jetzt galt es, wieder die Schanzen des Arka-tag zu stürmen. Mit Tscherdon und Mollah Schah ritt ich voraus nach dem Passe hinauf. Der Anstieg war nicht gefährlich, doch bevor wir die Schwelle erreichten, bewölkte sich der Himmel, und ein ungemütliches Dunkel umgab uns in dieser Welt von Bergen. Der Paß lag der ganzen Wut des Schneesturmes offen, und wir hatten das Gefühl, in dem Toben der entfesselten Elemente am Ende gar verloren zu sein. Meine Hände waren vor Kälte gefühllos, und nur mit größter Mühe konnte ich am Aneroidbarometer die Höhe ablesen, die 400 Meter mehr betrug als die des Montblanc. Die Karawane ließ auf sich warten, und meine beiden Diener begaben sich in das Tal hinunter, um den anderen zu helfen. Ich blieb auf diesem scharfen Bergkamme, der wie ein Sprungbrett in den Weltraum hinausragt, in dessen unendliche Leere hinein man nur einen Schritt zu haben meint. Ich kroch in meinen Pelz, soweit ich konnte, und drehte dem Sturme den Rücken zu. Der Schnee wirbelte büschelförmig um meine Seiten.
Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute. Rechts der Schneider Ali Ahun.
Jetzt läuteten die Glocken ganz in der Nähe. Die Tiere zogen wie Schatten an mir vorüber, ihre Schritte waren unhörbar. An der Spitze ging Turdu Bai, vorgebeugt, den einen Arm zum Schutze des Gesichtes erhoben; er mühte sich ab, als arbeitete er sich durch ein Dickicht hindurch. Einen Augenblick Rast. Im Norden gähnt der Abgrund wie ein bodenloses Höllenloch, ein siedender Kessel voll wirbelnder Schneewolken; es heult und pfeift auf allen Seiten, es klagt und stöhnt, wenn der Wind sich über den scharfen Paßkamm wälzt.
Der Nordabhang ist jäh. Kutschuk ist Lotse, er verschwindet sofort im Schneegestöber; es ist, als habe er den Boden unter den Füßen verloren und sei in diesen scheußlichen Abgrund gefallen, in den wir uns nun der Reihe nach ohne Besinnen ebenfalls stürzen mußten. Der Lotse stieg in zahllosen Zickzackbiegungen abwärts. Alle zehn Schritt mußten wir halten und uns umdrehen, damit uns nicht das Gesicht erfror. Alle gehen zu Fuß, um die Kamele zu stützen. Eins von diesen gleitet aus, fällt, überschlägt sich einmal und verursacht einen Aufenthalt. Wir gleiten und rutschen immer tiefer in den Schnee hinunter. Alles um uns her tanzt, es dreht sich vor unseren Augen, – o, auf dieser abscheulichen Höhe kann man vor Atemnot vergehen. Bevor wir den Talgrund erreichten, war es stockfinster, und auf dem ersten, einigermaßen ebenen Flecke schlugen wir mitten im Schnee das Lager auf; hier bot sich uns nichts weiter als Gestein und Schnee.
Schwere Tage erwarteten uns noch. Wohl ging es abwärts, aber es stürmte in einem fort, und kaum waren wir aufgebrochen, so war auch der Weststurm wieder da und ließ uns auf unseren elenden Gäulen vor Kälte erstarren. Schließlich zeigte sich fern im Norden der Salzsee Atschik-köll, er schien aber vor uns zurückzuweichen. Wir marschierten den ganzen Tag, es dämmerte und wurde dunkel, nur das bleiche Licht des Mondes erhellte die kalte Einöde. Nias blieb mit einem Pferde zurück, Kutschuk mit einem zweiten. Wasser, Wasser! Wir mußten zum Abend Wasser haben; hier unten (4251 Meter) war kein Schnee gefallen, alle Bachfurchen waren trocken. Endlich machte Turdu Bai am Ufer eines Flusses Halt.
Vor uns erhebt sich eine neue Bergkette, die wir, nach einem notwendigen Rasttage, überschreiten müssen. Also wieder in den Sattel und aufwärts über Berghalden, Pässe und schreckliche Klüfte! Bald wird gemeldet, daß ein Pferd nicht weiter kann. Kaum ist es totgestochen, so legt sich ein zweites, um nicht wieder aufzustehen. Hinter diesem Passe war es jedoch nicht mehr weit bis an Weideland, und ich sehnte mich glühend danach, unseren sterbenden, im Begräbnisschritte schwankenden Tieren ihren wohlverdienten Lohn zu schenken. Ein drittes Pferd, das nicht beladen war, brach zusammen und wurde sofort getötet. Als wir den Paß erreichten, fehlte noch eins, mein treues Wüstengrauchen, das beide Wüstenreisen mitgemacht und das Ördeks geschnitzte Bretter nicht hatte tragen wollen.
In dem Lager gab es keine Spur von Weide. Ich untersuchte mit Turdu Bai den Rest unseres Reisvorrates. So viel, wie nur irgendwie zu entbehren war, wurde an die letzten Pferde verteilt, die, gebunden und mit Filzmatten zugedeckt, dastanden und die Köpfe hängen ließen. Am Morgen lag eines steif gefroren tot in der Reihe, den Hals ausgestreckt und die Augen starr. Niemand hatte gemerkt, wann und wie seine Leiden endeten, und die noch lebenden Kameraden schenkten ihm keine Beachtung. Sie waren zu müde und hinfällig, um Teilnahme zu empfinden; sie schienen sich nur nach Ruhe zu sehnen und starben ohne Seufzer, ohne Klagelaut, während es mir unsagbar schmerzlich war, an ihrem Untergange schuld zu sein. Bewunderungswürdig in ihrer Resignation lagen die Kamele, wie gewöhnlich, noch regungslos in derselben Stellung wie am Abend vorher. Sie waren vom Reif weißgepudert und warfen sehnsüchtige Blicke talabwärts, wo wir für die letzten Veteranen Rettung zu finden hofften. Wie lange würden wir auf diese Weise aushalten können? Die Tagemärsche wurden immer kürzer, die Kälte immer größer. Am 8. Oktober hatten wir -18,3°. Wir zogen ein enges, tief zwischen senkrechten Felswänden eingeschnittenes Tal hinab. Die Begräbnisglocken gaben ein helles Echo, es klang wie eine Siegeshymne in einem Tempelsaale, und die Tiere stolperten sterbend vorwärts zwischen den Millionen von Granitblöcken, die den Talgrund bedeckten. Wir waren hier wieder in Montblanchöhe, und um uns her pfiff der Schneesturm. Ein Kamel gleitet aus und fällt von der steilen Wand einer Terrasse hinab, trägt aber glücklicherweise keinen Schaden davon; seine Last zerstreut sich in kleinen Portionen im Gerölle. Ein langer Aufenthalt ist die Folge, mit dem Spaten muß ein Pfad geschaufelt werden. Ein zweites Kamel kann nicht mehr mit uns Schritt halten; es wird zurückgelassen, um am nächsten Morgen abgeholt zu werden. Es war Mitternacht, ehe das Glockengeläute zwischen den Bergen verstummte, und der Mond war wieder aus dem Dunkel der Schneewolken herausgetreten.
Das Kamel war schon so kalt und hart wie Eis, als Turdu Bai es holen wollte. Ohne einen traurigen oder vorwurfsvollen Blick in seinem brechenden Auge hatte es seinen Dienst beendet. Es war zu stolz, um auch nur den Versuch zu machen, zwischen diesen unfruchtbaren Granitfelsen Weide zu finden. Es behielt seine Würde und Majestät bis an die Stelle, wo seine Gebeine im Tale bleichen sollten. Erst als es keinen Schritt mehr weiter konnte, als die Todesschatten sein Bewußtsein umnebelten, nahm es zum letzten Male Abschied von dem fliehenden Tageslichte und legte sich so bequem nieder, wie das Schuttbett es gestattete. Die mahnenden Schläge nahm es mit stolzer Verachtung hin; es klagte nicht, einige Hiebe mehr oder weniger hatten für das Tier keine Bedeutung mehr. Der Mensch hatte kein Recht mehr darüber, es sehnte sich nur nach dem Tode als Herrn, jenem erlösenden Engel, der der herzlosen Tyrannei des Menschen tausendfach vorzuziehen ist.
Seit 84 Tagen hatten wir kein menschliches Wesen gesehen, als wir am 10. Oktober an einem von mongolischen Lhasapilgern zusammengetragenen Steinhaufen lagerten, dessen Steine mit heiligen Inschriften versehen waren. Hier erblickten wir in der Ferne zwei Reiter. Mollah Schah, der gute Lungen hatte, lief ihnen wie ein Toller nach, holte sie ein und führte sie zu mir. An jenem Abend herrschte Jubel in unserer kleinen Schar. Zunächst kauften wir den Männern ihren Proviant ab, einen kleinen Beutel mit Weizenmehl, und Tscherdon begann sofort Brot zu backen, welche Delikatesse wir manch lieben Tag nicht gesehen hatten. Dann kaufte ich auch ihre Pferde und beauftragte Togdasin – so hieß der eine Jäger –, Tag und Nacht hindurch nach unserem Hauptquartier in Temirlik zu reiten und Islam zu befehlen, uns schleunigst mit einer ganzen Ersatzkarawane bis an die Jussup-alik-Quellen entgegenzukommen. Togdasin nahm ein paar leere Konservenbüchsen mit, um zu zeigen, daß er wirklich mein Kurier sei. Ich beneidete ihn nicht um seinen nächtlichen Ritt, denn die Kälte war unter -20° gesunken, aber eine gute Geldentschädigung sollte er haben, wenn er sich seiner Mission wie ein ganzer Mann entledigte. Das Geld für die Pferde hatte er in seiner Tasche, und er hätte sich natürlich mit seiner Beute aus dem Staube machen können, aber daran dachte ich gar nicht, ich vertraute ihm blind, – und er vertraute mir.
Drei Tage später brachen wir in Feststimmung auf, denn gegen Abend sollten wir die Jussup-alik-Quellen erreichen, dafür standen Mollah Schah und Nias, welche die Gegend kannten, ein. Es dämmerte, es wurde dunkel, ja stockfinster, und noch war nichts von irgendwelchen Quellen zu sehen. »O, jetzt ist es gar nicht mehr weit«, versicherte Mollah Schah ein über das anderemal und stiefelte, von seinen grünen Katzenaugen geführt, weiter. Wir kamen von dem Pfade ab, auf dem wir gezogen waren, solange Tag herrschte. Dank dem harten, ebenen Boden hielten die Tiere diesen langen, die Geduld auf die Probe stellenden Marsch aus.
Vor Müdigkeit und Schlaflust fielen wir beinahe um, als die beiden Führer plötzlich mit dem Rufe stehen blieben: »Ein Feuer, ein Feuer in der Ferne!« Ein elektrischer Schlag schien alle getroffen zu haben, ohne Verabredung wurde der Marsch beschleunigt. Die lebhafteste Unterhaltung kam in Gang in unserem kleinen Wanderstaate, in dem eben noch Grabesstille geherrscht hatte. Aller Blicke hingen wie festgebannt an dem kleinen hellen Punkte. War es ein großes Feuer, so war es so weit entfernt, daß wir es während der Nacht nicht mehr erreichen würden; war es aber klein, so würden wir noch dorthin gelangen. Wir mußten es erreichen, sollten wir auch vor Müdigkeit zusammenbrechen, wenn wir nur endlich dazu kamen, unsere steifen Glieder an seinen funkensprühenden Scheitern zu wärmen, wo die Rettung uns mit offenen Armen erwartete. Bald würden wir die Unseren treffen, in ihrem Kreise sitzen und von unseren Abenteuern erzählen, während Reispudding mit Fleisch, Fett und Gemüse über dem Feuer kochte. Wir elenden, erschöpften, hungrigen Wanderer würden uns dann endlich satt essen können.
Steinhaufen mit heiligen Inschriften.
Wie dem auch sei, Togdasin hatte seinen Auftrag mannhaft ausgeführt und sollte für seine Zuverlässigkeit auch einen ordentlichen Klumpen chinesischen Silbers erhalten.
In stockfinsterer Nacht gingen wir gerade auf das Feuer zu; bald verschwand es, bald flammte es wieder auf. Unsere Lotsen warnten vor Rinnen und trockenen Bachbetten. Ich sah nichts und mußte mich bald auf der einen, bald auf der anderen Seite, je nachdem mir die Hand vor Kälte erstarrte, an dem Boote, das ein Kamel trug, festhalten. Während der letzten Tage war auch ich zu Fuß gegangen, denn unsere letzten Pferde konnten sich kaum noch selbst schleppen.
Das Feuer war nicht mehr sichtbar, unsere Hoffnung erlosch, und die Müdigkeit machte sich wieder geltend. Einmal machten wir in einer Gegend Halt, wo Stauden wuchsen; ein paar davon wurden angezündet und bei ihrem Scheine eine gewaltige Menge von ihnen gesammelt und auf das Feuer geworfen. Gierige Flammen flackerten empor und warfen einen rotgelben, tanzenden Schein über die öde Steppe. Doch kein Zeichen von Einverständnis ließ sich wahrnehmen. Nun gut, wenigstens erwärmten wir uns ordentlich. Ein paar Revolverschüsse wurden abgegeben, die in der dunkeln Leere klanglos verhallten, ohne auch nur ein Echo hervorzurufen. Wir riefen, wir horchten mit verhaltenem Atem, die Gegend lag grabesstill da, und der Feuerschein zeigte sich nicht mehr. Vielleicht schliefen die anderen schon fest nach einem forcierten Ritte.
Als wir unser eigenes Feuer verließen, gähnte vor uns noch undurchdringlichere Finsternis als vorher. Ein Blinder kann keine schwärzere Nacht vor Augen haben, und unwillkürlich schaute ich zu den Sternen empor, um mich davon zu überzeugen, daß ich meine Sehkraft noch nicht eingebüßt hatte. Stunde auf Stunde schleppten wir uns nach Osten weiter, und die Tiere gingen mit, als witterten sie Weide.
Jetzt flammt das Feuer wieder auf! Wir passieren den ersten Gebüschgürtel, sichtlich der Vorbote der Wassernähe; wir können nicht mehr weit von den Quellen entfernt sein. Von Zeit zu Zeit riefen die Männer so laut, wie es ihre Lungen erlaubten, aber ihre Stimmen verhallten ungehört in der Nacht. Das trügerische Feuer wurde schwächer und verschwand. War es ein Irrlicht, ein Elmsfeuer, das uns irreführte, uns lockte und in dem Maße, wie wir uns ihm näherten, vor uns zurückwich?
In der Karawane erstarb das Gespräch, und unsere eben aufgeflackerte Hoffnung erlosch mit dem Feuer. Das Marschtempo wurde unheimlich langsam, wir gingen nicht, wir schwankten vorwärts. Als ich nicht mehr konnte, gebot ich zu allgemeiner Zufriedenheit Halt. Wir hatten mehr als genug von der zwölfstündigen ununterbrochenen Wanderung.
Schnell zündete Tscherdon ein Feuer an. Die Karawane sah in dem fahlen Lichte zum Erbarmen aus. Die Leute lagen am Boden, jeder an der Stelle, wo er Halt gemacht hatte. Infolge des Fehlschlagens unserer Hoffnung fühlten wir die Erschöpfung doppelt. Die Kamele waren ruhig unter ihren Lasten stehen geblieben, und ihr Atem bildete in der Kälte Rauchsäulen.
Unsere Ausdauer sollte indessen nicht ganz unbelohnt bleiben. Es stellte sich heraus, daß wir von Weide und Brennmaterial umgeben waren, derengleichen wir seit Monaten nicht gesehen hatten. Eine Kanne Wasser hatten wir noch, und unser spätes Mittagessen bestand aus einer kleinen Tasse Tee und einem Stücke gerösteten Kulanfleisches pro Person. Das Lager wurde provisorisch aufgeschlagen, und das Feuer mußte eine gute Stunde als Signal für die Entsatzkarawane brennen, – falls es nämlich wirklich das Feuer der Unseren gewesen und sie möglicherweise schon nachts aufbrächen, um uns weiter westlich zu suchen. Und dann versanken wir in einen bleischweren Schlaf unter dem funkelnden, klaren Sternengewölbe. Wir befanden uns jetzt wieder in einer Höhe von nur 3471 Meter Höhe.
Am Morgen des 15. Oktober schliefen alle gründlich aus. Die Gegend war still und öde, nirgends zeigten sich Menschen. Eine Quelle lag in der Nähe, und wir konnten daher bleiben, wo wir waren. Tscherdon, der von Togdasin Kugeln und Pulver erhalten hatte, versuchte sein Glück auf der Jagd, kam aber um 2 Uhr mit leeren Händen wieder. Dafür meldete er aber, daß er fern im Westen etwas Schwarzes gesehen habe, das er anfangs für eine Kulanherde gehalten, nachher aber sei er zu der Ansicht gelangt, daß es Reiter seien, die sich dem Lager näherten.
Ich eilte mit dem Fernglase hinaus. Es ist in der Tat eine berittene Schar in einer Staubwolke. Wir besteigen einen Hügel und beobachten die Schar mit der größten Spannung. Noch ist sie weit, weit entfernt und scheint ein wenig über dem Vegetationsgebiete, das sie noch nicht erreicht hat, zu schweben. An den auf und nieder hüpfenden Bewegungen sieht man, daß sie angestrengt reiten. Jetzt verschwinden sie in dem dunkeln Vegetationsgürtel, aber die Staubwolke steigt noch über diesem auf. Es müssen die Unseren sein, die unser Signalfeuer nicht bemerkt haben, sondern beim Morgengrauen weitermarschiert sind, bis sie auf die Kamelspuren stießen und dann einsahen, daß wir aneinander vorbeigezogen waren.
Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als zwei Reiter hinter den Büschen auftauchen; dann zeigen sich noch zwei, die eine ganze Herde von Rossen vor sich herjagen. Sie reiten Karriere. Jetzt erkenne ich Islam an seinem Lederbaschlik. Er reitet auf einem Schimmel voran. Er treibt sein Pferd an und sprengt ein wenig vor den anderen heran, sitzt ab, grüßt und meldet, daß »im Schipkapasse alles ruhig« ist. Die übrigen waren Musa aus Osch, Chodai Värdi und Tokta Ahun aus Abdall.
Die wechselseitige Freude, die wir empfanden, das Leben, das während einiger Ruhetage im Lager herrschte, das großartige Festmahl mit Reispudding, das gefeiert wurde, – alles dieses kann sich der Leser selbst denken, und ich brauche nicht davon zu sprechen. Nur ein paar Tagereisen trennten uns noch von dem großen Hauptquartiere in Temirlik, wo wir, unserer Meinung nach, alles besaßen, was diese Welt uns bieten konnte. Damit war diese mühevolle Reise zu Ende. Sie hatte zu großen geographischen Entdeckungen geführt, aber diese hatten auch große Opfer an Strapazen, Leiden und Leben gekostet. Von den 12 Pferden lebten nur noch 2, von den Kamelen nur 4. Eines von ihnen erreichte glücklich Temirlik und stand dort zwei Tage lang wie eine Bronzestatue in dem gelbgewordenen Grase; am dritten Tage legte es sich nieder und starb, ohne die Weide auch nur berührt zu haben. Und, was das Traurigste von allem war, einer meiner Diener war den Anstrengungen erlegen, und zwar einer, den wir alle sehr lieb gehabt hatten.
Im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll.