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Vierzehntes Kapitel.
In das öde Tibet.

Das Warten dauerte meinem unruhigen Blute schließlich zu lange, und am 30. Juni gab ich Befehl, daß die Karawane am selben Abend gerüstet auf unserem Hofe stehen solle. Kaum waren die Kamele aus ihrem Verstecke herausgeführt, so wurden sie auch schon von den abscheulichen Bremsen umschwärmt. Zu jedem fertig beladenen Kamele wurden vier Männer gestellt, die nach Möglichkeit die Insekten mit Schilfbüscheln zu verscheuchen suchten. Die königlichen Tiere betrugen sich jedoch würdevoll und zeigten ihre gewöhnliche erhabene, schweigende Geduld.

Als die Karawane fortgezogen und der Glockenklang wieder einmal verhallt war, blieb mir noch eine harte, schwere Pflicht zu erfüllen, es galt, Sirkin und Tschernoff Lebewohl zu sagen. Ich dankte ihnen gerührt für ihre Dienste, drückte ihnen die Hand und sah sie ihre Rappen besteigen und in einer Staubwolke auf dem Wege nach Tscharchlik und Kaschgar verschwinden.

Jetzt war ich in Abdall ganz allein; alle meine Leute waren wie Spreu vor dem Winde verweht, aber ich würde sie mir nach und nach wieder zusammensammeln. Es war schon Nacht, als ich mit zwei Ruderern in einem bequemen schlanken Kahne Platz nahm und das letzte Stück des Tarim hinabsauste. Der Mond ging gerade unter, aber die Luft war klar, und die Sterne leuchteten wie Fackeln über den wandernden Seen, auf die wir bald hinausglitten und wo ein schwaches Lüftchen in dem Schilfe raschelte. Bald aber verloren wir uns in dichten Schilfdickichten, in die die Luftzüge der Sommernacht nicht hineindrangen; es war dort erstickend heiß, moderig und drückend, und von den lauwarmen Wasserflächen der Sümpfe stiegen Miasmen auf. Da ich von dieser Gegend schon eine Karte aufgenommen hatte, konnte ich ruhig schlafen und dann und wann ein bißchen schnarchen. Gegen Morgen begannen die Leute zu singen, um sich wach zu halten. Es war nicht mehr weit nach dem Vereinigungspunkte, wo die Karawane im ersten Morgengrauen, nach dem Takte ihrer Glocken marschierend, anlangte.

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Aufbruch ins tibetische Hochgebirge.

Ich bestieg ein Pferd, und wir verließen die Seen, um die trostlos einförmige, völlig ebene Sandwüste an ihrem Südufer zu durchziehen. Die Sonne erhob sich majestätisch über dem Horizont und goß ein Meer von Licht und Wärme über die Wüste aus. Sie ging in seltener Pracht auf, und ihre Strahlen brachen sich in den seinen, leichten Wolken, die wie ein Schleier vor ihrem Antlitz schwebten. Ihre Ränder waren von der Rückseite erleuchtet und glühten wie Kränze von flüssigem Golde. Die Farbe des Himmels war ein reines, fleckenloses Türkisblau.

Ein außerordentlich fesselndes Schauspiel gewährte auch das Panorama der Gebirge, die scharf und klar in der schrägen, beinahe horizontalen Beleuchtung hervortraten. Die Ketten schimmerten in rosa und violetten Schattierungen, die durch die Entfernung gedämpft waren und einen reizenden, harmonischen Hintergrund für die trockene Wüste bildeten.

Kaum ist die Sonne ganz aus ihrem Bette im Osten gekrochen, so wird die Wärme lästig, und die Luft füllt sich wieder mit Myriaden von Bremsen, mit denen wir einen verzweifelten Kampf mit Hilfe der Reitpeitschen führen. Früh am Vormittag lagerten wir an einem Brunnen mit salzigem Wasser und hatten viel zu tun, die Kamele gegen ihre Todfeinde zu verteidigen.

Am nächsten Morgen wurde ich um 3 Uhr geweckt; Lichter und Laternen wurden angezündet und das Frühstück, Tee, Eier und Brot aufgetragen. Eine Stunde später ging es weiter. Wir hatten einen langen Weg, beinahe 70 Kilometer, vor uns. Wasser wurde in einigen kupfernen Kannen mitgenommen. Der Boden ist hart und mit Kies bestreut; der Pfad steigt langsam nach dem Fuße des Gebirges an, kein Grashalm ist zu sehen. In launenhaft wechselnden Abständen sind kleine Steinpyramiden aufgetürmt, um dem Wanderer bei Sturm als Wegweiser zu dienen. Die Asiaten glauben, Wegen und Pfaden gegenüber eine gewisse Dankbarkeitspflicht zu haben, und legen daher beim Vorübergehen einen oder mehrere Steine auf die Haufen.

Unsere beiden jungen Hunde wurden bald müde, wir legten sie daher in einen mit Filzdecken überzogenen Weidenkorb. Jolldasch und Maschka konnten die Hitze nicht vertragen. Von Zeit zu Zeit erhielten sie einen Schluck Wasser, blieben aber unaufhörlich zurück. Schließlich hörten wir sie gar nicht mehr. Schagdur ritt zurück und fand sie im Schatten einer kleinen Lehmterrasse, wo sie frischen Sand aufgekratzt hatten, auf dem sie keuchend lagen. Jolldasch kam gutwillig mit, aber Maschka wollte sich nicht rühren. Schagdur nahm ihn daher vor sich auf den Sattel. Er war jedoch noch nicht weit gelangt, als der Hund sich ganz merkwürdig gebärdete und den Kopf hinundher zu werfen begann, bis dieser schlaff hängen blieb. Der Kosak flößte ihm den letzten Rest seines Trinkwassers ein, aber es nützte nichts; Maschka war schon tot und mußte am Wege liegen bleiben. Der Verlust dieses schönen, treuen und mutigen Hundes war ein harter Schlag. Um Jolldasch zu retten, banden wir ihn auf ein Kamel und bedeckten ihn mit einer Filzmatte. Dort lag er knurrend und fühlte sich entsetzlich krank. Unsere große Karawane, die uns nach Mandarlik vorausgegangen war, hatte unter ihren Hunden noch mehr Verluste gehabt als wir. Nicht weniger als acht waren teils gestorben, teils nach den Seen zurück geflohen.

Ja, es war eine mühselige Strecke, dieser Wüstenstreifen, der uns vom Gebirge trennte. Als aber die Sonne ihren Bogen über den Himmel gespannt hatte, waren auch wir, nach einem Marsche von 14½ Stunden, angelangt. In der ersten kleinen Talmündung, wo ein kleiner Bach durch üppiges Gras rieselte, wurde eine Weile gerastet. Man stelle sich Jolldasch vor, als er in seinen Banden das Wasser über die Kiesel rauschen hörte! Er spitzte die Ohren, kläffte und biß um sich. Und als er und seine beiden Kameraden, die zuerst beide ein wenig steifbeinig und taumelig waren, schnell herunter gehoben worden waren, stürzten sie sich in den Bach und begannen das frische Wasser hinunter zu schlucken, während ihre Augen wie Kohlen glühten. Manchmal ging es zu schnell, und das Wasser kam in die unrechte Kehle; dann husteten sie und räusperten sich, hierauf wurde das Schlürfen wieder fortgesetzt. Schließlich legten sie sich in ihrer ganzen Länge ins Wasser, Vorder- und Hinterbeine so lang ausgestreckt, wie es nur irgend möglich war, rollten sich im Grase, bellten vor Freude und tranken von neuem. Hätten wir nur auch Maschka dabei gehabt, so wäre alles gut gewesen.

Unser Zug schritt langsam aufwärts über die doppelte Bergkette Astin-tag, die eine Grenzmauer zwischen der zentralasiatischen Wüste und Tibet bildet. Frische Luft, sternklare Nächte, gelegentlich ein wohltuender, leichter Regen, keine Bremsen, – wie herrlich war es! In Temirlik in dem großen, breiten Tschimentale waren wir schon 2961 Meter über dem Meere. Hier begegneten uns zwei Boten aus dem Hauptquartiere mit der Nachricht, daß dort alles gut stehe. Sie waren uns beide neue Erscheinungen. Der eine hieß Chodai Värdi; er war ein Schafskopf, der mir später einmal beinahe einen verhängnisvollen Streich gespielt hätte. Der andere war ein junger Afghane aus Tschertschen und hieß Aldat. Er hatte den Winter im Gebirge zugebracht, um Yake, tibetische Grunzochsen, zu schießen, deren Fell er an Kaufleute aus der Stadt Kerija zu verkaufen pflegte. Jung, hübsch und stattlich, streifte er alljährlich wie ein Nimrod in diesen hohen Gebirgsgegenden umher. Flinte, Pelz, Messer und Feuerstahl waren das einzige, was er bei sich hatte; er nährte sich von dem Fleische der erlegten Yake und trank aus den Quellen des ewigen Schnees.

Aldat war ein sympathischer, eigentümlicher Mensch. Er lachte nie, sprach kein überflüssiges Wort, antwortete auf Fragen kurz und bestimmt und ging, die Flinte auf der Schulter, fast stets allein. Sein Blick war wehmütig und schweifte forschend umher, sein Gang war königlich, er schien ebenso leicht über den Boden hinzuschweben wie die Antilopen, und er ermüdete nie in dieser dünnen Luft, die bei uns heftiges Herzklopfen erzeugte. Ohne Zandern nahm er mein Anerbieten an, mich auf meinem ersten Zuge nach Tibet zu begleiten.

Welch ein seltsames Leben, so unerklärlich und anziehend zugleich!

»Was fängst du an, wenn die Jagd fehlschlägt und du nichts zu essen hast!« fragte ich.

»Dann hungere ich«, antwortete er.

»Wo schläfst du nachts?«

»In Schluchten und Rinnen, manchmal in Höhlen.«

»Fürchtest du nicht, von Wölfen angefallen zu werden?«

»Ich habe Zunder und Feuerstein und zünde jeden Abend ein Feuer an; überdies habe ich die Flinte.«

»Nun, kommt es denn nicht vor, daß du dich in diesem Gewirre von Bergen verirrst?«

»Ich kann mich nicht verirren; ich bin unzähligemal über die Pässe durch die Täler gewandert.«

»Ist es dir nicht leid, stets ganz allein zu sein?«

»Nein, aber ich sehne mich nach dem Frühling, wenn meine Brüder kommen und die Yakfelle abholen!«

Ein unruhig umherirrender Geist in Menschengestalt! Ich kann mir für das Alleinsein kaum ein düstereres Land denken als Nordtibet. Bei Tage geht es noch an, aber nachts, wenn beißende Kälte die Haut packt und die dunkeln Bergketten sich unheimlich und drohend im Mondscheine erheben! Wie manchen Abend wohl war der arme Aldat müde und erschöpft mit getäuschten Hoffnungen an die einsame Quelle gekommen, wo nur die Antilopen zu trinken pflegten; an ihrem Rande hüllte er sich fester in seinen Pelz und wartete den langsamen Gang der nächtlichen Stunden ab. Der neue Tag brach nur an, um ihn zu mahnen, ohne Rast und Ruhe wie ein Spürhund die Jagd auf wilde Yake von neuem zu beginnen. Er war mir ein Rätsel. Ich hatte alles Nötige, Diener, eine Leibwache von Kosaken, Nachtwächter und Hunde, aber dennoch, wenn der Schneesturm klagend um das Zelt sauste und die Wölfe in den Bergen heulten, war mir oft recht wunderlich zumute.

Ein paar Tage später stiegen wir im Hauptquartiere im Tale von Mandarlik (3437 Meter über dem Meere) ab, wo alle die Unseren, Menschen und Tiere, es vortrefflich hatten. Die neue Karawane, die hier ausgerüstet wurde, war folgendermaßen zusammengesetzt. Tscherdon, meine rechte Hand, war Zeltaufschlager, Kammerdiener und Koch, Turdu Bai wurde Führer der sieben Kamele, Mollah Schah Aufseher der elf Pferde und eines Maulesels und Kutschuk fungierte als Ruderer auf den geplanten Seefahrten; Nias, ein Goldsucher, den wir im Gebirge getroffen hatten, sollte 16 Schafe, unseren lebenden Proviant, treiben, und Aldat war unser Führer, soweit seine Kenntnisse reichten. Jolldasch, Maltschik und ein großer gelber Mongolenhund, den uns unsere nächsten mongolischen Nachbarn geschenkt hatten, waren auch dabei und wurden im Augenblicke des Aufbruchs von ihren zurückbleibenden Kameraden, mit denen sie nicht in Eintracht gelebt hatten, zum Abschiede noch tüchtig zerzaust.

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Hauptquartier bei Mandarlik

Schagdur wurde zum Chef des Hauptquartiers ernannt, das nach einigen Tagen nach Temirlik verlegt werden sollte.

Die Glocken hallten von den Granitfelsen Mandarliks wieder, als wir am 20. Juli 1900 von diesem friedlichen Orte fortzogen, um bisher völlig unbekannte Teile der Erde zu erforschen. Schon beim ersten Lager hatte die Landschaft einen Hochgebirgscharakter angenommen, und wir befanden uns hier in einer Höhe von 3984 Meter. Melodisch rieselte ein Bach durch das Tal, und auf seinen Uferrändern blühten niedliche kleine Blumen in üppigem Moose. Das einzige Brennmaterial, das es gab, waren die Hinterlassenschaften von den Besuchen der Yake und Kulane oder Wildesel. Murmeltiere pfiffen gellend vor ihren Erdhöhlen, und Rebhühner gackerten geschäftig auf den Hängen der Berge; Tscherdon schoß einige von ihnen.

Am folgenden Morgen herrschte vollständiger Winter, und die Landschaft verschwand unter einer dichten Schneedecke. Wenn der Hochsommer so ist, bekommt man Respekt vor dem Winter dieser Berggegenden. In dichtem Schneegestöber zogen wir am 22. Juli nach einem Tale mit spärlicher Weide; während der Nacht gab es ein richtiges Schneetreiben, und die Kälte ging auf -4,8° herunter.

Bei Tagesanbruch weckte mich ein entsetzlicher Lärm, und schnell eilte ich aus dem Zelte. Es hatte sich entschieden etwas Unangenehmes zugetragen. Zwischen unseren beiden Zelten zeigten sich überall Wolfsspuren; nur vier Schafe, die angebunden gewesen, waren noch da, die übrigen, nebst Nias, waren verschwunden. Alle Mann begaben sich auf die Suche und fanden hier und dort zwischen den Hügeln neun zerrissene Schafe, nur eins wurde gerettet, und eins war gar nicht zu finden.

Nias, der vor Aufregung zitterte, beschrieb das nächtliche Abenteuer in folgender Weise. Er hatte, wie gewöhnlich, neben den Schafen unter einer Filzmatte geschlafen und erwachte mitten in der pechfinsteren Nacht von ihrem Blöken, das jedoch das Heulen des Sturmes nur schwach durchdrang. Er fuhr in die Höhe und erblickte drei Wölfe, die gegen den Wind einen Angriff auf die Schafe gemacht hatten, um sie von den Zelten fortzujagen und dann weiter in Behandlung zu nehmen. Nias ließ sich gar nicht die Zeit, uns zu wecken, sondern stürmte, ohne zu überlegen, den Schafen zu Fuß nach; er war die ganze Nacht wie ein Verrückter umher gelaufen, ohne daß es ihm gelungen wäre, mehr als eins zu retten. Der Angriffsplan war vollständig geglückt, nicht einmal die Hunde hatten etwas gemerkt; aber der »Mongole« war schon durchgebrannt, Jolldasch schlief in meiner Jurte, und der unerfahrene Maltschik lag, wie ein Igel zusammengerollt, hinter dem Zelte der Leute.

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Das Gerüst meiner Jurte.

Wir hatten den folgenden Tagemarsch kaum angetreten, als das vermißte Schaf einen Abhang herunter galoppierte. Es wurde mit Jubel empfangen; man freute sich um so mehr über dieses wiedergefundene Schaf, als man eben noch den Verlust der neun beklagt hatte.

Auf dem Kamine der gewaltigen Bergkette Tschimen-tag erreichten wir die bedeutende Höhe von 4269 Meter und sollten am 24. Juli zwei andere Ketten von noch größerer Höhe überschreiten. Ich blieb immer weit hinter den anderen zurück, weil ich mit Kartenzeichnen, Photographieren u. dgl. zu tun hatte. Meine Begleiter waren Tscherdon und Tokta Ahun, einer unser besonderen Freunde aus Abdall, der einige Tagereisen weit mit uns zog. Der ganze Tag verging; wir verloren die Spur der Karawane nicht und begannen uns nach der Rauchsäule zu sehnen, die das Lagerfeuer ankünden würde. Wir hatten die eine Bergkette überschritten und ritten durch ein schmales Tal nach dem Kamme der anderen hinauf. Die Vegetation nahm ab, und wir gelangten in immer kälter werdende Regionen. Es wurde dämmerig, und es wurde dunkel. Die anderen hatten augenscheinlich noch den nächsten Paß überschritten. Es wäre eine Kleinigkeit gewesen, sie reitend einzuholen, aber ich mußte an meine Karte denken, die sich im Dunkeln nicht zeichnen ließ. Hier blieb also nichts weiter übrig, als zu bleiben, wo wir uns befanden. Tokta Ahun aber mußte weiterreiten und sollte so schnell wie möglich mit meiner Jurte und meinen Kisten zurückkommen.

Das Klappern der Pferdehufe auf dem Schutte des Talbodens erstarb bald, und dann hatten ich und mein Kosak es in der dunkeln, kalten Nacht in einer Höhe von 4652 Meter nicht gerade gemütlich. Wir hüllten uns fester in unsere Mäntel, setzten uns nieder und unterhielten uns. Tscherdon erzählte von seinen Erlebnissen während der Manöver in Transbaikalien und ich von den vielen düsteren Nächten, die ich in der Wüste Takla-makan durchwacht hatte. Der Nachtfrost wurde stärker, und der Wind fegte durch das Tal herunter. Wir suchten hinter ein paar großen Steinblöcken Schutz, aber zum Schlafen war es zu kalt. Von elfstündigem Ritte ermüdet, hätte uns ein Glas Tee recht gut getan; wenn wir doch wenigstens ein Feuer hätten anzünden können, aber hier gab es keine Spur von Brennmaterial, und überdies war es stockfinster. Eine Weile schlummerten wir, aber ein langgezogenes Wolfsgeheul machte uns wieder munter; hier gab es augenscheinlich außer uns noch andere hungrige Geschöpfe. Schließlich mußten wir aufstehen, mit den Füßen stampfen und turnerische Übungen machen, um den Blutumlauf im Gange zu halten. Erst um 3 Uhr morgens, nachdem wir fünf Stunden gewartet hatten, kam eine kleine Entsatzkarawane, und das »Souper« schmeckte gut nach siebzehnstündigem Fasten.

Nun wurde die Kette Kalta-alagan überschritten, und wir zogen nach Westen durch ein sehr breites, flaches Tal, wo Kulane in Menge weideten. Bei der Ankunft im Lager Nr. XV – in diesen menschenleeren Gegenden werden die Lager zur besseren Unterscheidung numeriert – war ich sehr erstaunt, am Eingang meiner Jurte die Bekanntschaft zweier neuer Passagiere zu machen, zweier kleiner, erst einige Tage alter Kulanfüllen, die frei umherliefen und keine Spur von Furchtsamkeit zeigten. Die Männer hatten sie zu Pferde eingeholt, als sie mit ihren Müttern entflohen waren. Diese kleinen Wildesel waren gar zu niedlich und zahm, und ich hatte den Wunsch, sie mit Mehlbrei aufzufüttern und sie mitzunehmen. Wir würden sie außerordentlich liebevoll behandelt haben, und sie wären dann wie Hunde mit uns über die Hochebenen ihrer Heimat gelaufen. Doch Tokta Ahun, der ein erfahrener Kulanjäger war, erklärte, daß sie ohne die Muttermilch nicht länger als fünf Tage leben könnten. Da befahl ich, daß die kleinen Geschöpfe nach dem Weideplätze, wo sie gefangen worden, gebracht werden sollten, damit sie von dort aus ihre Mutter aufsuchen könnten. Auch mit diesem Vorschlage war Tokta Ahun nicht einverstanden. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß die Mutter ihr Junges wie die Pest scheut, wenn Menschenhände es berührt haben. Sie huldigt offenbar der Anschauung, daß alles, was solche Hände anfassen, besudelt wird, eine recht originelle, weltkluge Philosophie. Den einzigen Dienst, den ich also diesen Kindern der Wildnis leisten konnte, war, sie schlachten zu lassen; sie wären sonst ein Opfer der Wölfe geworden, von denen es in dieser Gegend wimmelte.

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Die Kulanfüllen.

Unser Weg geht westwärts weiter, nach dem See Kum-köll hinunter. Unmittelbar links von unserem Wege erhebt sich ein kompakter Gürtel von gewaltigen Sanddünen. In der Steppe gibt es eine Bremsenart, die die Pferde und das Hochwild entsetzlich peinigt, indem sie sich in ihren Nüstern festbeißt. Die Kulane schützen sich, wenn sie von den Bremsen angegriffen werden, dadurch, daß sie beim Weiden die Nasenlöcher auf den Erdboden drücken. Die Yake dagegen räumen vollständig das Feld vor ihnen und ziehen bei Sonnenuntergang in die Sanddünen hinauf, wo es keine Bremsen gibt. Gegen Abend gehen sie wieder in die Steppe hinunter. Da indessen gegen 4 Uhr ein heftiges Unwetter mit Hagel und Regen losbrach, wußten die Yake, daß ihre Feinde sich verkriechen würden und sie die Weideplätze ruhig aufsuchen könnten. Zuerst zeigte sich eine Kuh, die mit ihrem Kalbe die Dünenwand herunterrutschte; sie erblickte uns rechtzeitig und kehrte sofort um. Darauf erschien eine ganze Herde von über 30 Tieren, die sich auf einem mächtigen Dünenkamme in einer Reihe aufstellte. Ich mußte eine Weile halten, um diesen wirklich imposanten Anblick mit dem Fernglase beobachten zu können. Sie hoben sich außerordentlich scharf von dem gelben Sande ab und hatten die Köpfe erhoben, wie sie es tun, wenn sie Gefahr wittern. Man konnte beinahe sehen, welchen Genuß der erfrischende Regen, der auf die Erde schmetterte, ihnen bereitete.

Eine Strecke weiter erblickte Tscherdon einen kleinen Wolf, setzte ihm nach und führte ihn gebunden mit sich nach dem Lager am See. Der kleine Kobold biß um sich und machte entsetzlichen Lärm, mußte sich aber auch von den Mohammedanern, die die zerrissenen Schafe nicht vergessen konnten, alle möglichen Schimpfworte gefallen lassen. Der Gefangene war indessen der Lage völlig gewachsen und überlistete die Rachedurstigen. Er biß nachts den Strick durch und entfloh mit dem Ende. Die Mohammedaner hofften, daß er in der Halsschlinge ersticken würde, wenn er heranwüchse, ich aber hielt es für wahrscheinlich, daß die Mutter sie ihm rechtzeitig entzwei nagen werde.

Während der beiden folgenden Wochen überschritten wir die hinsichtlich der Kammhöhe mächtigste und höchste Bergkette Asiens und der ganzen Erde, den Arka-tag. Sein Hauptpaß lag 5180 Meter über dem Meere, 340 Meter höher als der Gipfel des Montblanc; wir sollten jetzt fast zwei Monate auf größeren Höhen zubringen, als Europas höchste Berge aufzuweisen haben. Brauche ich zu sagen, daß das Reisen in solchen Gegenden mit gewissen Schwierigkeiten verknüpft ist? Manchmal muß man tagelang marschieren, ehe man Spuren von Weideplätzen antrifft, und findet man endlich einen, so ist er mit so dünnstehendem, hartem Grase bewachsen, daß die Tiere sich daran nicht entfernt satt fressen können. Unsere Tiere werden daher sehr mitgenommen. Tscherdons Pferd, sein besonderer Freund, das auf seinen Ruf herbeikam, war das erste, welches zusammenbrach. Das Terrain ist auch anstrengend genug. Es führt auf und ab, durch Täler und über Pässe, ein Labyrinth von Bergen. Beinahe von jedem Lagerplatze aus mußte ich ein paar Kundschafter nach Süden schicken, um nachzusehen, ob das Terrain für die Karawane passierbar war. Täglich rückten wir 20–30 Kilometer gegen das Herz des unbekannten Tibet vor. In demselben Maße, wie die Kräfte der Tiere abnahmen, schmolz unser Proviantvorrat zusammen, so daß die Lasten leichter wurden. Wir brachten es kaum übers Herz, die letzten vier Schafe zu schlachten, die uns jetzt von selbst wie Hunde folgten, und es war auch nicht nötig, da Aldat das Glück hatte, in einer Talmündung zwei Orongoantilopen mit schlanken leierförmigen Hörnern zu überraschen und zu erlegen. Tscherdons Patronen waren schon verschossen; nur für die Hagelflinte war noch Munition da, aber Aldat hatte noch reichlichen Vorrat an Pulver und Kugeln.

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Aus dem tibetischen Hochgebirge.

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Die Karawane auf dem Arka-tag.

Mir machte es Vergnügen, so zu reisen und zu wissen, daß ich überall der erste Europäer war, der über diese Berge wanderte, auf denen es keine anderen Pfade als die von wilden Tieren getretenen gibt und man im Boden keine anderen Spuren sieht als die Fährten von Yaken, Kulanen und Antilopen. Das Territorium ist herrenlos, Flüsse, Seen und Berge haben keine Namen, alles gehört mir, es ist für ein paar Monate mein Eigentum, mein eigenes Land. Wie das Schiff schaukelnd seine spurlose Bahn durch die Dünungen des Weltmeeres zieht, so kreuzen auch wir über die Bergketten Tibets und zwischen diesen zu Stein verwandelten, riesenhaften Wogen dahin.

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Auf der höchsten Bergkette der Erde.

Als ich am 6. August nach einem anstrengenden Tage in die Nacht hinaustrat, war der Himmel bewölkt; nur ein Gletscherstock im Süden lag nicht im Schatten, und der Mond erhellte mit seinem bleichen Lichte die kalten Firnfelder. Meine Leute schliefen fest, die Karawanentiere waren festgemacht worden, das Lagerfeuer war erloschen, nur der Bach sang sein plätscherndes, wehmütiges Lied zwischen den Schieferplatten. Stumm und still liegt die Nacht einsam über der Wildnis, rings umher dehnt sich auf allen Seiten ein Chaos von unbeantworteten Fragen und ungelösten Rätseln aus. Weit hinten im Süden ahnt man den Kamm des Himalaja und dahinter Indien mit seinen stickigen Dschungeln. Im fernen Westen verstricken sich unsere tibetischen Gebirge mit dem Hochlande von Pamir, und wenn die Sonne bei uns aufgeht, hat sie schon ihre Morgenstrahlen auf das Reich der Mitte fallen lassen. Vergebens schaue ich nach einem Feuer oder nach der Spur eines Menschen aus; ich bin in einen unbewohnten und unbewohnbaren Teil der Erde gelangt; ich fühle, daß ich wie ein Staubkorn auf ihrer unermeßlichen Oberfläche verschwinde, und glaube zu spüren, wie der Planet sein rastloses Rollen durch den Weltenraum mit schwindelnder Geschwindigkeit fortsetzt.


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