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» Der Staats-Anwalt,« so sagten wir oben, »studirte die Acten.« Während der Untersuchungsrichter bemüht ist, möglichst unparteiisch den Thatbestand von allen Seiten festzustellen, sucht der Vertheidiger unter den Zeugen-Aussagen die Widersprüche hervor und bestrebt sich, wo er die Unschuld nicht beweisen kann, darzuthun, daß die Schuld nicht bewiesen ist. Dem Vertheidiger gegenüber, der Alles daran setzt, den Angeklagten gegen Angriffe zu verwahren, hat der Staats-Anwalt die Pflicht, für eine Anklage den Halt zu suchen und die Strenge des Gesetzes anwendbar zu machen auf den Verbrecher. Er ist der Angreifer, er steht dem Angeschuldigten feindselig gegenüber und prüft mißtrauisch seine Aussagen, die Entlastungsgründe des Vertheidigers. Paul Bentheim hatte wohl recht gehabt, wenn er erklärte, daß er eine Anklage nicht gegen Julie erheben könne und auf seinen Antrag war ein anderer Beamter, welcher in den nächsten Tagen in B. eintreffen sollte, beauftragt, in diesem Prozesse als Staats-Anwalt zu fungiren.
Paul begegnete das Eigenthümliche beim Studiren der Acten, daß ihm alle Belastungs-Momente klar und wahrscheinlich, alle Entlastungsmomente unbedeutend und unglaubwürdig erschienen. Grade weil er moralisch von der Unschuld Juliens an einem Verbrechen überzeugt war und überzeugt sein wollte, genügte ihm keine vage Voraussetzung, keine allgemeine Theorie, ihre Schuld unwahrscheinlich zu machen, ihm war es, als müßten sich directe, untrügliche und für Jedermann verständliche Beweise ihrer vollen Unschuld finden, andernfalls wäre sie gar nicht vertheidigt. Er kam hiermit so ziemlich auf den Standpunkt, den Julie selbst eingenommen, als sie gesagt, nur die Flucht könne sie retten. Für sie war ein Mangel an Beweisen für die Unschuld schlimmer als jede Enthüllung, welche ihre Schuld darthat. Wer sich überhaupt dazu entschließen konnte, in ihr eine herzlose Mörderin, eine Verbrecherin zu sehen, die im Hohne gegen jedes Gefühl die Schuld verheimlicht und selbst den Mitwissern ihrer That getrotzt, den konnten nur Beweise vollster Unschuld vom Gegentheil überzeugen, nur diese konnten ihre Ehre wiederherstellen, ihr Muth und Kraft geben, wieder in die gesellschaftlichen Kreise zurückzutreten. Was dagegen Diejenigen sagten, welche nur den höheren oder geringeren Grad der Schuld erwogen, war gleichgültig. Gesetzt, es wurde morgen doch noch der Beweis geliefert, daß der Baron sich selber getödtet, so wäre Julie Stilten den Augen Bentheims vielleicht noch verdammenswerther und unwürdiger erschienen, als wenn man ihr den Mord nachwies. Es war eher zu entschuldigen, wenn ein Weib aus Angst vor der Strafe und der Schande ein Verbrechen verbarg, das sie in der Leidenschaft, in der Verzweiflung gegen Jemand begangen, der sie betrogen, sie tyrannisirt und ihren glühenden Haß verdient, als wenn dasselbe Weib bei dem Selbstmord ihres Tyrannen gefühllos geblieben wäre. Hatte der Baron sich selbst getödtet, so konnte das Gericht Julien nichts anhaben, aber das Gefühl jeden Ehrenmannes mußte sie verdammen. Der Selbstmord hatte dann den Beweis geliefert, daß der Baron kein Tyrann, daß er lieber sein Leben hingab, als Rache an Der nahm, die er geliebt. Der wildeste Haß mußte entwaffnet werden und ein Gefühl der Schuld das Herz derjenigen beschleichen, um derentwillen ein Mann sich getödtet. Denn hätte Julie niemals das Erbe annehmen dürfen, um damit eine glänzende Existenz zu führen, dann war ihr Erscheinen auf Bällen und Festen ein Hohn gegen den blutigen Schatten des Todten.
Paul Bentheim glaubte an die Unschuld der Baronin, an ihre Reinheit und mochte daher nichts davon wissen, Beweise für einen Selbstmord des Barons zu suchen – seltsamer Weise wurde aber gerade dies von einem Manne gethan, der Julie mindestens ebenso heiß liebte als Bentheim. Je mehr sich der Staatsanwalt in die Aussagen des Jägers vertiefte und sich dessen Handlungen vergegenwärtigte, erstaunte er darüber, daß ein Gefühl der Sympathie mit diesem Menschen sich in sein Herz schlich, obwohl er Ursache gehabt hätte, in ihm den Mann zu hassen, der die Saat zu allem Unglück Juliens gelegt. Der Mann hatte geliebt und gehaßt und in den düstersten Flammen seines Hasses hatte doch auch wieder die aufopferndste Liebe geflammt. Es war Paul Bentheim ein eigenthümliches Gefühl, sich das Bild der inneren Qualen dieses Mannes auszumalen, der mit Julie unter einem Dach gewohnt, und von Liebe und Neid verzehrt, den Kampf gegen die stolze Schöne geführt. Das Bild stand fertig vor ihm da bis zu dem Moment, wo der Tod des Barons Julie zur Wittwe machte. Von diesem Augenblicke an wurde das Benehmen des Jägers Paul unverständlich, da fiel Jener aus dem Charakter. Je lebendiger Paul mitgefühlt, um so klarer stand es jetzt vor seiner Seele, daß ein solcher Mann, der angesichts der Leiche seines Herrn, der Leiche des Gatten der angebeteten Geliebten, mit Geistesgegenwart daran denkt, die Ehre der Wittwe zu schützen, unmöglich dieselbe Frau um einer Geldsumme willen bedrohen konnte. War dort das Gefühl einer romantischen Liebe wahr, so konnte es hier sich nicht verleugnen. Der Mann konnte nicht mit einer Zofe sich verschwören, die Frau, die er geliebt, zu plündern; die einzig richtige Consequenz wäre die gewesen, daß er von Neuem um ihre Liebe gebuhlt, oder sie völlig aufgegeben und verachtet hätte.
Der Widerspruch war so auffällig, daß Bentheim sich wunderte, daß alle Andern ihn übersehen, er beachtete dabei freilich nicht, daß er die Liebe des Jägers mit der seinigen verglich und darum klarer schaute. In den Aussagen des Jägers athmete Alles ein leidenschaftliches Gefühl bis zu dem Moment, wo der Baron gestorben; von diesem Augenblick an war Alles, was er gethan, berechnet, gefühllos, im vollsten Widerspruch zu seinem bisherigen Charakter. Da fragte er nichts mehr nach der Gunst der Baronin, da rechnete er auf ihre Dankbarkeit in klingender Münze.
Das war auffallend, war seltsam – hier lag das wahre Geheimniß verborgen, – dieser Punkt mußte aufgeklärt werden.
Bentheim war so erregt von seiner Entdeckung, daß er, keinen Moment zögerte, dieselbe Wolff mitzutheilen, und er begab sich, obwohl es spät am Abend war, in dessen Behausung.
»Wolff!« rief er, als dieser ihn überrascht und erwartungsvoll anschaute, »was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen zumuthe, die Untersuchung in ganz andrer Richtung noch einmal zu beginnen?«
»Ich würde antworten, daß ich dies schon begonnen,« versetzte Wolff geheimnißvoll lächelnd.
»Wie?! – Hätten wir zufällig denselben Gedanken verfolgt?«
»Darf ich um Mittheilung des Ihrigen bitten?«
Bentheim skizzirte, was ihm vor der Seele schwebte, und Wolff hielt sinnend den Kopf auf die Hand gestützt, während er lauschte. Plötzlich schaute er auf, sein Auge funkelte. »Wenn der Jäger der Mörder wäre?!« rief er, von seinem Stuhle aufspringend. »Bei Gott! Was so nahe liegt, ist übersehen. Daran hat Keiner gedacht. Weil dieser Mensch der Liebling des Barons war, weil er sein Brod verlor, darum erschien es thöricht, einen solchen Argwohn zu hegen. Und doch liegt er so nah!«
Bentheim fühlte ein Grauen seine Glieder schütteln. – »Ja, es liegt nahe, daß die Liebe den Mann zum Mörder gemacht, die Liebe zu dieser Frau hatte ihn ja auch gleichgültig gemacht gegen seine Carrière, gegen das Urtheil der Leute, seinen Ruf, seine Zukunft.«
Der Jäger der Mörder! Der Gedanke, einmal ausgesprochen, gewann Gestalt und die Umrisse erschienen wunderbar klar. Der Jäger mußte fürchten, daß er sein Brod verlor, mochte die Angelegenheit enden, wie sie wollte. Der Baron mußte in ihm den Zwischenträger, die Baronin den Spion hassen. Er hatte verleumderisch ihre Schuld übertrieben, sich an ihr zu rächen. Er konnte ihr nachgeschlichen sein, das war eher anzunehmen, als daß er sich während der Krisis, die er eingeleitet, entfernt. Er hatte gehört, wie der Baron sie beschimpfte. Er hatte sie gerächt, oder er war vom Baron ertappt worden und er hatte lieber gemordet, als sich tödten lassen Der Mann hatte weder von Liebe, noch vom Haß, sondern nur von seinem Interesse sich leiten lassen. Er hatte des Barons Gunst erschlichen und der Baronin Huld durch Verehrung erwerben wollen. Als dies nicht glückte, hatte er den Spion gespielt, um sich im Hause festzusetzen, der Mitbesitzer aller Geheimnisse zu werden. Er war der berechnende, kaltblütige Intriguant, der tiefere Gefühle nur heuchelte, der zwei Zofen die Ehe versprochen, um sie auszunützen für seinen Zweck.
»Wenn der Jäger der Mörder ist,« sagte Wolff nach einer langen Pause, in der Beide ihren Gedanken nachgehangen, »so wird Vieles klar, aber es treten auch viele Möglichkeiten hervor, die in Erwägung gezogen werden müssen. Ehe wir diese besprechen, gestatten Sie mir, Ihnen mitzutheilen, was mich beschäftigte, ehe Sie eintraten.
Ich habe verschiedene Schritte gethan, mir genaue Notizen über den Charakter der Baronin und den ihrer Feinde zu verschaffen, und bereits sehr beachtenswerthe Entdeckungen gemacht. Der Commissar Brack telegraphirte mir aus dem Hannöver'schen, daß die Nachricht von der Verhaftung der Baronin bei den Verwandten ihres Gatten einen sehr verschiedenen Eindruck gemacht hat. Man triumphirte keineswegs darüber, die Leute sehen ein, daß Enthüllungen an's Tageslicht kommen müssen, welche den Namen mehr compromittiren, als die Mésalliance eines Mitgliedes der Familie dies gethan. Es scheint, man hat die Baronin einschüchtern wollen, damit sie das Erbe zurückgebe, aber nie daran gedacht, einen Prozeß oder gar eine Criminaluntersuchung zu provociren. Ein Baron Kurt von Stilten wird demnächst hier eintreffen und, wie Brack andeutet, zu Gunsten der Baronin sprechen.«
»Das ist seltsam!«
»Nicht so auffallend, als es scheint. Die Familie fürchtet, daß die Baronin den Selbstmord ihres Gatten durch die Verstimmung desselben über die Intriguen erklären konnte, welche man gegen den Frieden seiner Ehe geschmiedet. Man ahnt dort noch nicht, daß ein Verdacht des Mordes vorliegt. Das Zweite, was mich beschäftigte, ist die Entdeckung, daß die Baronin in aller Stille, so geheim, daß selbst ihre Dienerschaft davon nichts ahnte, Almosen und Wohlthaten in großartigem Maßstabe gespendet, daß sie also das Erbe ihres Gatten zu milden Zwecken verwendet und daß keinenfalls Geiz und Habsucht ihre Fehler sind. Sie läßt unter anderen zwei armen Verwandten ihres verstorbenen Gatten Pensionen zahlen, ohne daß diese die Geberin kennen, läßt einen Stilten erziehen und viele verschämte Arme erhalten durch das Bankhaus Aaron in Hannover Unterstützungen von ihr, ohne daß die Geberin genannt wird.«
»Und doch hält man sie für eine Mörderin!« sagte Bentheim bewegt.
»Herr Staatsanwalt, ein belastet Gewissen sucht oft durch Wohlthätigkeit sich Vergebung im Himmel zu suchen. Verzeihen Sie mir, wenn ich meinen Verdacht nicht aufgeben kann und nur dem Verbrechen andere Motive unterzuschieben vermag. – Die Thatsache, daß der Baron ermordet ist und daß die Baronin die Hülfe des Jägers angenommen hat, jeden Verdacht zu beseitigen, daß sie um dessen Betrug wußte und den Beamten, welche die Leichenschau abhielten, nicht die Wahrheit gestand, sondern von ihrem Irrthum Vortheil zog, – das Alles läßt sich nicht wegleugnen.«
»Sie sprachen vorhin anders,« versetzte Bentheim bitter, »aber es scheint, Sie wollen hartnäckig daran festhalten, daß die Baronin eine Verbrecherin sein muß.«
»Ich halte daran fest und ich glaube als ehrlicher Mann zu handeln, wenn ich Sie immer von Neuem warne, allzusehr das Gefühl herrschen zu lassen, welches doch von ihr bestochen ist. Mögen Sie mir jetzt grollen, Sie werden es mir doch einmal danken, daß ich, trotz Ihrer Neigung für die Baronin, Alles hervorsuche, was einen Verdacht bestätigt. Ich gab Ihnen zu, daß die Untersuchung eine andere Wendung nehmen muß, aber ich sagte nicht, daß dieselbe günstig für die Baronin sei. Nehmen wir an, der Jäger sei der Mörder, so ist es nur zu wahrscheinlich, daß die Baronin dies weiß. Er ist durch ihre Zimmer gegangen und vermuthlich auch durch dieselben entflohen. Ziehen Sie es vor, die Baronin als Mitwisserin eines Mordes an ihrem Gatten zu betrachten oder anzunehmen, daß sie in der Leidenschaft, in der Verzweiflung oder aus Versehen ihn selber begangen?«
»Hätte ich die Wahl, mir erschiene sie in letzterer Annahme achtungswerther und leichter zu entschuldigen. Sie theilt ein furchtbares Geheimniß mit diesem Jäger, das fühlte ich schon in dem Moment, wo sie mich bat, den Gefangenen entschlüpfen zu lassen. Dieses Geheimniß enthält ihr Urtheil, es spricht das Schuldig über sie aus.«
»Nein und abermals nein!« rief Bentheim erregt. »Ich leugne das Dasein dieses Geheimnisses, welches ihr der Jäger andichtet, sie hätte den Mann mit Geld abgefunden, wenn ein Schuldbewußtsein sie gedrückt, lieber Wolff. Ihr Scharfsinn zieht Alles in Betracht, nur nicht das, was zu beobachten freilich Ihnen nur wenig Gelegenheit geboten wurde. Sie kennen den Stolz eines Weibes nicht, welches durch Eitelkeit unglücklich geworden ist, ihre Fehler bekämpft, gebüßt, ausgerottet, dann aber genug gelitten hat und zu stolz ist, sich gegen irgend eine Anschuldigung nur zu vertheidigen. Wer das, was er gethan, hart gebüßt, ohne daß ein Dritter ihn zur Erkenntniß der Schuld gezwungen, der sträubt sich gegen jeden Richter über Dinge, welche nur das Herz angehen, mit denen das Herz blutend gerungen. Die Baronin hat vom Jäger nicht geduldet, daß er sie mahnte an Vergangenes und hat seinen Drohungen getrotzt im Bewußtsein, daß Niemand richten darf, wo ihr Herz schon gerichtet über sich selbst und so trotzt sie auch dem Gericht. Sie hat gelitten, ehe Jemand sie verfolgte und überläßt es nur Gott, sie zu schützen und die Wahrheit an den Tag zu bringen. Sie hält es unter ihrer Würde, sich zu vertheidigen, weil sie für sich selbst keine Beweise gesammelt, und was ihr begegnet, erträgt sie mit der Geduld des Opfers, das des Lebens müde geworden ist. Es gilt, ihr den Glauben, die Hoffnung wieder zu geben, daß auch die Menschen ihr vertrauen, dann erst wird sie reden. Eine raffinirte Verbrecherin oder eine geängstigte Sünderin, zu der Sie sie stempeln wollen, hätte klüger oder ängstlicher gehandelt. Doch ich habe Ihnen nichts vorzuschreiben, mein Stellvertreter kommt morgen. Handeln Sie nach Ihrem bessern Wissen. Ich bin der festen Zuversicht, daß der Himmel diejenige nicht verlassen wird, die all ihr Hoffen auf Gott gesetzt.«
Die Züge Wolff's verriethen, daß ihn dieses feste Vertrauen tief erschütterte – eine Angeklagte hatte dasselbe bei einem gewiegten Juristen erweckt, er hätte dies berücksichtigen müssen, auch wenn ihm Bentheim nicht werth, auch wenn die Beweise der Schuld noch eclatanter gewesen wären.