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XX.

Julie war am Abend mit allen ihrem Stande entsprechenden Rücksichten in Untersuchungshaft geführt worden. Man sage nicht, daß in solchen Rücksichten gegen Leute, die den bevorzugten Ständen angehören, eine neue Bevorzugung liege, sie mildern nur die größere Härte, mit der ein und dieselbe Maßregel verschieden situirte Leute trifft. Je vornehmer die Geburt, je höher der Rang, je glücklicher die äußeren Verhältnisse eines Menschen sind, mit dem die rauhe Gewalt des Gesetzes in Berührung tritt, um so härter berührt sie ihn. Im Familien- und Bekanntenkreise wird Jeder vermißt, den das Gericht verhaften läßt, der Argwohn beschimpft den Armen wie den Reichen und Vornehmen, aber das Aufsehen ist bei den Letzteren größer, die Neugierde wird in weiteren Kreisen rege, das Gerücht verbreitet sich rascher und weiter, es wird also auch immer mehr die Wahrheit entstellen, den Schimpf vergrößern. Der Reiche entbehrt den ihm zur Gewohnheit gewordenen Comfort; je empfindlicher der Vornehme sonst die äußere Ehre rein erhielt, um so bitterer trifft ihn der Schimpf und ebenso ungerecht, wie es uns erscheint, daß man den Reichen und den Armen mit derselben Geldstrafe für dasselbe Vergehen belegt, also den Armen ungleich härter bestraft, ebenso ungerecht erscheint es uns, zu fordern, daß dieselbe Art der Haft den Reichen wie den Armen treffen soll, den Gebildeten und die rohere Natur. Der verwöhnte Mensch wird schon Vieles peinlich entbehren, was der Aermere gar nicht vermißt und der Bettler, der oft im Freien genächtigt, wird einen Comfort im Gefängniß genießen, den er sonst nie gekannt.

Was der Mensch nicht draußen lassen kann, wenn man ihn zur Haft führt, ist das Gewissen und dieses allein sollte dort ihn trösten oder ihm Qualen auferlegen.

Die Verhaftung der Baronin hatte ungeheures Aufsehen erregt und wer bis dahin noch gezögert, das Verdammungsurtheil über sie zu fällen, der war jetzt mit dem Spruch fertig, noch ehe die Untersuchung begonnen. Man sagte sich, die Verhaftung der Braut des Staats-Anwaltes wäre gewiß nicht erfolgt, wenn die Beweise der Schuld nicht schon längst klar erwiesen seien. Um so mehr fiel es auf, daß in den Blättern die Verlobung nicht als aufgehoben erklärt wurde und die Spannung stieg auf's höchste, als sich das Gerücht verbreitete, der Staatsanwalt denke nicht daran, das Band zu lösen und der Stadtgerichts-Präsident thue Aeußerungen, als sei die Haltbarkeit der Anklage nichts weniger als gewiß.

Spielte man Comödie, so war dieselbe sehr unzart. Es erschien doch als ein sehr weit getriebener Amtseifer von Seiten des Staats-Anwaltes, seine Braut verhaften zu lassen, nur um Unpartheilichkeit darzuthun.

Paul Bentheim ließ sich wenig blicken und ihn verschonte man natürlich mit indiscreten Fragen; schlimmer aber war der Präsident daran und das um so mehr, als er selbst nicht recht wußte, was er denken solle. Die würdevolle, ruhige Haltung Juliens hatte ihm imponirt; so lange er ihr gegenübergestanden, hatte er keinem Zweifel Raum geben können, aber je bewältigender der Eindruck gewesen, um so rascher erfolgte der Rückschlag. Als er sich fragte, was ihn denn bewogen, sie plötzlich für unschuldig zu halten, mußte er sich gestehen, daß er demselben Zauber erlegen, dem Bentheim nicht hatte widerstehen können und er mußte hinzufügen, daß dieser Vorwurf den bejahrten Mann härter treffe als den feurigen Jüngling.

Als er mit Ruhe nachdachte, sagte er sich, daß eine des Mordes angeklagte Frau, auch wenn sie unschuldig, schwer eine so gefaßte Haltung behaupten könne, als Julie diese gezeigt, daß aber eine Verbrecherin wohl die Frechheit besitzen könne, diese Rolle durchzuführen, in der ihre besten Waffen zur Geltung kamen. Er sagte sich ferner, daß eine Intriguantin keine geschicktere Comödie hätte ersinnen können, als die, selbst die Aufhebung des Verlöbnisses zu fordern. Sie beschämte dadurch den Argwohn, machte den Ankläger unsicher und bedrohte den Verliebten mit der Aussicht, daß sie ihm auch im Falle der Freisprechung niemals angehören werde.

Das Eintreffen des Grafen Hartwig in B. war von Bentheim mit erklärlicher Ungeduld erwartet worden. Paul hatte noch vor erfolgter Verhaftung der Baronin an ihn telegraphirt. Endlich kam er an. Sein ganzes Wesen verrieth, daß der Eindruck schrecklicher Ereignisse, dem er seine Umwandlung verdankte, nachhaltig gewesen. Ein tiefer, finsterer Ernst lag in den verlebten Zügen des früher so leichtfertigen übermüthigen Roué's. Er erklärte, daß er der allein Schuldige an dem Unglück der Baronin sei, daß er sich für ihre Reinheit und Unschuld verbürgen wolle, aber das waren für den untersuchenden Richter eben nur Phrasen, welche günstig für seine Sinnesänderung sprachen, aber keine Entlastungsbeweise lieferten. Und solche vermochte er, trotz allen Bestrebens, der Baronin zu nützen, nicht zu geben, im Gegentheil, seine Aussage erschwerte die Verdachtsmomente. Mußte er zugeben, daß er die Gattin des Freundes zu verführen versucht, daß sie ihm zwar widerstanden, aber doch nicht mit der Energie, welche sie hätte anwenden können, abgewiesen, ja, daß sie sogar sich Hilfe suchend an ihn gewandt – so constatirte er damit, daß der Baron Anlaß zur Eifersucht gehabt. Ihm, dem Grafen, hätte also die Pflicht obgelegen, das Schloß zu verlassen, nachdem er dem Baron ein Geständniß abgelegt. Er hatte dies thun wollen, aber Julie heimlich zu einem Rendezvous aufgefordert, sie also veranlaßt einen Schritt zu thun, der unter den obwaltenden Umständen unverzeihlich war. Sie war gekommen. Welcher Jurist konnte die Erklärung zweier Personen, in eigener Sache, die sich ein heimliches Rendezvous gegeben, als glaubwürdig annehmen! Viel eher war vorauszusetzen, daß der Graf Julie auf Kosten der Wahrheit entschuldigte. Es ward durch die Aussage Hartwigs nur das constatirt, was Julie compromittirte, die Thatsache, daß sie dem Freunde ihres Gatten ein heimliches Stelldichein gegeben, obwohl der Argwohn des Gatten schon erweckt war, sie also Alles hätte vermeiden müssen, was den Zorn desselben reizen konnte. Der Baron hatte das Rendezvous entdeckt. Der besondere Weg zu Juliens Schlafzimmer war offen geblieben. Der Graf konnte keinen Beweis liefern, daß er sich entfernt, daß er ihr nicht gefolgt. War anzunehmen, daß der Baron sich selber getödtet haben sollte, nachdem er den Verrath der Gattin und des Freundes erfahren? Das wäre nur bei einem überspannten, schwächlichen, verliebten Schwärmer möglich gewesen und ein solcher war der Baron nicht. Stilten war also ermordet worden, das Gutachten des Physicus stellte dies übrigens fest. Auf den Graf fiel kein Verdacht des Mordes. Es war anzunehmen, daß der Baron, wenn er ihn getroffen, Lärm gemacht, oder ihn angegriffen hätte, die Lage der Leiche wäre eine andere gewesen, auch hätte der Graf dann kaum entfliehen und sein Zimmer unbemerkt erreichen können. Man hatte ihn aber dort im Bette gefunden.

Die Baronin hatte einen Mörder dingen und einlassen können, aber ein solcher fand sich nicht so rasch und noch weniger hätte er den Baron überrumpeln können, der jedenfalls sehr erregt war und auf das leiseste Geräusch horchte.

Die natürlichste, wahrscheinlichste Annahme war die, daß der Baron seine Waffe ergriffen, um den Verführer aufzusuchen, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Er hatte wohl seine Büchse geladen, nicht aber einen Schuß herausgezogen. Bei diesem Geschäft hatte ihn Julie überrascht, war ihm zu Füßen gestürzt, hatte Gnade erfleht, und, als sie diese nicht erhalten, hatte sie – mit Absicht des Mordes oder nur, um ihm die Waffe zu entreißen – nach dem Abzug der Büchse gefaßt. Das Gewehr hatte sich dabei entladen, der Schuß den Baron getödtet.

Diese Annahme stimmte mit der Wolff's überein. Der Jäger war von der Baronin erkauft, vielleicht auch hatte er sich selbst angeboten, ihrem Interesse zu dienen, als er seinen Wohlthäter verloren und seine Existenz bedroht sah, wenn er die Wahrheit bekundete. Er verlor dann sein Brot und wo er einen Dienst suchte, mußte man ihm den Vorwurf machen, ein Spion seiner Herrschaft gewesen zu sein, das Unglück derselben verschuldet zu haben. Er hatte sich anfänglich mit einer Pension begnügt, dann aber, als ihm von anderer Seite Aufforderungen gekommen, gegen die Baronin zu zeugen, hatte er seine Forderungen an diese erhöht. Er hatte zu diesem Zwecke, allem Anschein nach, die Vorbereitungen getroffen, daß er durch Bertha Hillborn die Baronin nach und nach ängstlicher gemacht, sie ahnen ließ, was ihr bevorstehe und dann erst war er plötzlich erschienen, ihr drohend die Wahl zu stellen, ob sie die Anklage oder ein Geldopfer vorziehe.

Wildhorst hatte beiden Kammerzofen der Baronin die Ehe versprochen, und schon dies allein bewies, daß er planmäßig zu Werke ging, ihre Geheimnisse zu erforschen und über ihre Schritte orientirt zu sein.

Dies war die Combination, welche aus den festgestellten Thatsachen hervorging und mit allen verschiedenen Aussagen so genau harmonirte, daß sie vollständig das Geheimniß zu enthüllen schien. Nur ein Punkt blieb noch dunkel. Es mußte auffällig erscheinen, daß der Jäger Wildhorst die Geistesgegenwart, nichts gegen sein Interesse zu sprechen, in solchem Maße gehabt, daß sie ihm selbst in dem Momente eigen geblieben, wo er die erschreckende Todespost erhalten, wo er die Leiche seines Herren gesehen.

Aus den Aussagen der Zofe Elise ging hervor, daß Wildhorst anfänglich eine schwärmerische Passion für die Baronin gehegt. Diese hatte ihn mit verächtlichem Hohne behandelt. Aber weshalb? Weil sie wußte, daß er der Liebling und Spion ihres Gatten war, oder weil sie die schwärmerische Verehrung bemerkt und sich durch dieselbe beleidigt gefühlt? War das Letztere der Fall, so mußte der Haß des Jägers gegen sie bitterer gewesen sein, als wenn sie seine Eitelkeit nur als Herrin, nicht auch als Weib verwundet hatte. Hatte sie ihn merken lassen, daß sie sich durch seine anmaßende, zudringliche Verehrung beleidigt fühlte, hatte sie mit verletzendem Hohne des Verliebten gespottet, so mußte dieser wilde Mensch bei seiner Eitelkeit, seinem leidenschaftlichen Temperament einen tödtlichen Haß gegen sie gefühlt haben, dann aber war es unerklärlich, ja es war psychologisch unmöglich, daß er im Moment des Gelingens seiner Rache, in dem Augenblick, wo er darüber triumphirte, daß der Baron sein Weib verstoßen wollte, so kaltblütig und ruhig gewesen sein sollte, um seinen Vortheil in der Secunde erwägen zu können, in welcher der Rückschlag erfolgte und er die Baronin als Wittwe und Erbin sah. Haßte er sie wirklich, so hätte er in diesem Moment als ihr Ankläger auftreten müssen, und am wenigsten hätte er sich bemüht, selbst die Annahme eines Selbstmordes des Barons unwahrscheinlich zu machen.

Die Untersuchung mußte hierauf Gewicht legen. War Wildhorst nur der Spion des Barons gewesen, sich in dessen Gunst festzusetzen, so war ihm jede Lüge, jede Infamie zuzutrauen, dann war auch Elise sein Werkzeug gewesen und ihr Zeugniß nur mit Vorsicht zu benutzen, dann war sogar die Möglichkeit vorhanden, daß von Beiden die näheren Umstände beim Tode des Barons mit Berechnung unklar gemacht worden.

Die Baronin Stilten hatte vor dem Untersuchungsrichter ihre Aussage zu Protokoll gegeben und stimmte dieselbe überein mit den Angaben, welche sie Bentheim gemacht, als sie ihm ihre Geschichte erzählt. Als sie jetzt befragt wurde, ob der Jäger Wildhorst ihr in der ersten Zeit ihrer Ehe mit dem Baron unehrerbietig begegnet, eine Unzufriedenheit zur Schau getragen oder Nachlässigkeit gezeigt habe, verneinte sie dies, und, dringend aufgefordert, hierüber möglichst genaue Angaben zu machen, erklärte sie, daß der Jäger im Gegentheil sie durch allzugroßen Diensteifer belästigt habe. »Der Mann,« sagte sie mit leichtem Erröthen, »war in Folge der Bevorzugung, die ihm der Baron Stilten zu Theil werden ließ, zu einer Selbstüberschätzung gelangt, die ihn seine Stellung völlig vergessen. ließ. Nicht genug, daß er dies den übrigen Domestiken gegenüber zeigte und auch dem Verwalter und Inspektor nicht die schuldige Achtung erwies – er versuchte, mir gegenüber eine Stellung einzunehmen, als ob er der Freund meines Gatten, eine Art Vermittler zwischen uns sei. Ich mußte ihm mehrmals verbieten, über meinen Gatten zu sprechen. Er wollte mich mit Eigenheiten und Launen desselben bekannt machen. Sein Benehmen erschien mir zuerst als eine Zudringlichkeit harmloser Natur, bis ich bemerkte, daß er Vertraulichkeit zu erwecken suchte, meine Zofe aushorchte und ein Interesse an den Tag legte, dessen Ausdruck seiner Stellung nicht angemessen war. Er besorgte Blumen für mein Zimmer, haschte nach der Gelegenheit, mir etwas zu reichen oder mir meine Sachen zu tragen, und erlaubte sich, mich in einer Weise anzusehen, die ich nicht dulden konnte. Ich hielt ihn daher von mir fern und that das in einer so schroffen Art, daß ihm kein Zweifel darüber bleiben konnte, wie mir sein ganzes Benehmen mißfalle. Ich mußte seine Eitelkeit sehr derb verletzen, um dessen sicher zu sein, daß ich seine Illusionen zerstört, und ich glaube, daß er nun, um sich für diese Kränkung zu rächen, seinen Einfluß bei meinem Gatten benutzte, dessen Mißtrauen und Argwohn gegen mich zu erregen.«

In Folge dieser Aussage der Baronin wurde Wildhorst ins Verhör genommen. Man wollte ihn durch Querfragen dahin bringen, zu gestehen, daß ihn der Haß gegen die Baronin veranlaßt, an ihrem Verderben zu arbeiten, und dann plötzlich die Erklärung darüber fordern, was ihn denn bewogen, in dem Moment, wo er sie sogar den Gerichten überliefern konnte, plötzlich auf ihre Seite zu treten und jeden Verdacht einer Schuld von ihr abzulenken. Diese Absicht scheiterte jedoch an der Hartnäckigkeit Wildhorst's, der bei der Erklärung stehen blieb, er werde schweigen, bis er die Baronin gesprochen, und fordern, daß man sie ihm confrontire.

Auf Ansuchen Bentheims war der Wunsch des Beamten Wolff berücksichtigt worden, man hatte Wildhorst noch nicht ahnen lassen, daß die Entdeckungen Fortschritte gemacht, daß die Untersuchung auch gegen die Baronin eingeleitet worden und daß man diese verhaftet. Noch war er in dem Glauben, daß es sich allein bis jetzt um die Aufklärung der Cassettenangelegenheit handle, und daß es in seiner Macht stehe, die Geheimnisse zu enthüllen, welche die Baronin compromittirten.



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