Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Eine Erzählung alles dessen, was in ihrem Gemüte vorging, würde etliche Bogen ausfüllen, ob es gleich weniger Zeit als sechs Minuten einnahm. – Was für ein Streit! Was für ein Getümmel von widerwärtigen Bewegungen! Sie hatte ihn bis auf diesen Augenblick so zärtlich geliebt – und glaubte itzt zu fühlen, daß sie ihn hasse – Sie fürchtete sich vor seinem Anblick – und konnte ihn kaum erwarten. Was hätte sie vor einer Stunde gegeben, diesen Agathon zu sehen, der, auch undankbar, auch ungetreu, über ihre ganze Seele herrschte; dessen Verlust ihr alle Vorzüge ihres ehmaligen Zustandes, den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichtümer, unerträglich gemacht hatte – dessen Bild, mit allen den zauberischen Erinnerungen ihrer ehmaligen Glückseligkeit, das einzige Gut, das einzige Vergnügen war, welches sie noch zu empfinden fähig war. Aber nun da sie wußte, daß es in ihrer Gewalt war, ihn wieder zu sehen, wachte auf einmal ihr ganzer Stolz auf, und schien etliche Augenblicke sich nicht entschließen zu können ihm zu vergeben. Und wenn auch einen Augenblick darauf die Liebe wieder die Oberhand erhielt; so stürzte sie die Furcht, ihn unempfindlich zu finden, sogleich wieder in die vorige Verlegenheit. Zu allem diesem kam noch eine andre Betrachtung, welche vielleicht bei der schönen Danae allzuspitzfündig scheinen könnte, wenn wir nicht zu ihrer Rechtfertigung sagen müßten, daß die Flucht unsers Helden, die Entdeckung der Ursachen, welche ihn zu einem so gewaltsamen Entschluß getrieben, der Gedanke daß ihre eigene Fehltritte sie in den Augen des einzigen Mannes, den sie jemals geliebt hatte, verächtlich gemacht – eine Veränderung in ihrer ganzen Denkens-Art hervorgebracht hatte, wozu sie durch den Umgang mit Agathon und jene Seelen-Mischung, wovon wir bereits im fünften Buche gesprochen haben, vorbereitet worden war. Danae ließ sich durch die Vorwürfe, welche sie sich selbst zu machen hatte, und von denen vielleicht ein guter Teil auf ihre Umstände fiel, nicht von dem edeln Vorsatz abschrecken, sich in einem Alter, wo dieser Vorsatz noch ein Verdienst in sich schloß, der Tugend zu widmen. In der Tat hatte eine Art von verliebter Verzweiflung den größesten Anteil an dem außerordentlichen Schritt, sich aus einer Welt, worin sie angebetet wurde, freiwillig in eine Einöde zu verbannen, wo die Freiheit, sich mit ihren Empfindungen zu unterhalten, das einzige Vergnügen war, welches sie für den Verlust alles dessen, was sie aufopferte, entschädigen mußte. Aber es gehörte doch eine große, und zur Tugend gebildete Seele dazu, um in den glänzenden Umständen, worin sie lebte, einer solchen Verzweiflung fähig zu sein, und in einem Vorsatz auszuhalten, unter welchem eine jede schwächere Seele gar bald hätte erliegen müssen. Wäre Danae nur wollüstig gewesen, so würde sie zu Smyrna, und allenthalben Gelegenheit genug gefunden haben, sich wegen des Verlusts ihres Liebhabers zu trösten. Aber ihre Liebe war, wie man sich vielleicht noch erinnern wird, von einer edlern Art, und so nahe mit der Liebe der Tugend selbst verwandt, daß wir Ursache haben, zu vermuten, daß in der gänzlichen Abgeschiedenheit, worin unsre Heldin lebte, jene sich endlich gänzlich in dieser verloren haben würde. Allein eben darum, weil ihre Liebe zur Tugend aufrichtig war, machte sie sich ein gerechtes Bedenken, bei dem Bewußtsein der unfreiwilligen Schwachheit ihres Herzens für den allzuliebenswürdigen Agathon, sich der Gefahr auszusetzen, durch eine nur allzumögliche Wiederkehr seiner ehmaligen Empfindungen mit dahin gerissen zu werden; ein Gedanke, der ohne eine übertriebne Meinung von ihren Reizungen zu haben, in ihr entstehen konnte, und durch das Mißtrauen in sich selbst, womit die wahre Tugend allezeit begleitet ist, kein geringes Gewicht erhalten mußte. Solchergestalt kämpften Liebe, Stolz und Tugend für und wider das Verlangen, den Agathon zu sehen, in ihrem unschlüssigen Herzen – mit welchem Erfolg läßt sich leicht erraten. Die Liebe müßte nicht Liebe sein, wenn sie nicht Mittel fände, den Stolz und die Tugend selbst endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie flößte jenem die Begierde ein, zu sehen wie sich Agathon halten würde, wenn er so plötzlich und unerwartet der einst so sehr geliebten, und so grausam beleidigten Danae unter die Augen käme; und munterte diese auf, sich selbst Stärke genug zu zutrauen, von den Entzückungen, in welche er vielleicht bei diesem Anblick geraten möchte, nicht zu sehr gerührt zu werden. Kurz; der Erfolg dieses innerlichen Streites war, daß sie eben im Begriff war, ihre Vertraute (die einzige Person, welche sie bei ihrer Entfernung von Smyrna mit sich genommen hatte) hereinzurufen, um ihr die nötige Verhaltungs-Befehle zu geben; als diese Sklavin selbst hereintrat, und ihrer Dame sagte, daß die beiden Fremden durch einen von den Sklaven, von denen sie bedient worden waren, auf eine sehr dringende Art um die Erlaubnis anhalten ließen, vor die Frau des Hauses gelassen zu werden – Neue Unentschlossenheit, über welche sich niemand wundern wird, der das weibliche Herz kennt. In der Tat klopfte der guten Danae das ihrige in diesem Augenblick so stark, daß sie nötig hatte, sich vorher in eine ruhigere Verfassung zu setzen, ehe sie es einer so schweren Probe auszustellen sich getrauen durfte.

Unterdessen, bis diese schöne Dame mit sich selbst einig wird, wozu sie sich entschließen, und wie sie sich bei einer so erwünschten, und so gefürchteten Zusammenkunft verhalten wolle, kehren wir einen Augenblick zu unserm Helden in den Saal zurück. Je mehr Agathon die Gemälde betrachtete, womit die Wände desselben behänget waren, je lebhafter wurde die Einbildung, daß er sie in dem Landhause der Danae zu Smyrna gesehen habe. Allein er konnte sich so wenig vorstellen, wie sie von dem Orte, wo er sie vor zweien Jahren gesehen hätte, hieher gekommen sein sollten, daß er für weniger unmöglich hielt, von seiner Einbildung betrogen zu werden. Zudem konnte ja der nämliche Meister unterschiedliche Kopien von seinen Stücken gemacht haben. Aber wenn er wieder die Augen auf ein Stück heftete, welches die Göttin Luna vorstellte, wie sie mit Augen der Liebe den schlafenden Endymion betrachtet – so glaubte er es so gewiß für das nämliche zu erkennen, vor welchem er in einem Garten-Saal der Danae zu Smyrna oft Viertelstunden lang in bewundernder Entzückung gestanden, daß es ihm unmöglich war, seiner Überzeugung zu widerstehen. Die Verwirrung, in die er dadurch gesetzt wurde, ist unbeschreiblich – Sollte Danae – aber wie könnte das möglich sein? – Und doch schien alles das Sonderbare, was ihm Critolaus von der Dame dieses Hauses gesagt hatte, den Gedanken zu bekräftigen, der in ihm aufstieg, und den er sich kaum auszudenken getrauete. Die schöne Danae hätte zufrieden sein können, wenn sie gesehen hätte, was in seinem Herzen vorging. Er hätte nicht erschrockner sein können, vor das Antlitz einer beleidigten Gottheit zu treten, als er es vor dem Gedanken war, sich dieser Danae darzustellen, welche er seit geraumer Zeit gewohnt war, sich wieder so unschuldig vorzustellen, als sie ihm damals, da er sie verließ, verächtlich und hassenswürdig schien. Allein das Verlangen sie zu sehen, verschlang endlich alle andre Empfindungen, von denen sein Herz erschüttert wurde. Seine Unruhe war so sichtbar, daß Critolaus sie bemerken mußte. Agathon würde besser getan haben, ihm die Ursache davon zu entdecken; aber er tat es nicht, und behalf sich mit der allgemeinen Ausflucht, daß ihm nicht wohl sei. Dem ungeachtet bezeugte er ein so ungeduldiges Verlangen, die Dame des Hauses zu sehen, daß Critolaus aus allem was er an ihm wahrnahm, zu mutmaßen anfing, daß irgend ein Geheimnis darunter verborgen sein müsse, dessen Entwicklung er begierig erwartete. Inzwischen kam der Sklave, den sie abgeschickt hatten, sie bei seiner Gebieterin zu melden, mit der Antwort zurück, daß er Befehl habe sie in ihr Zimmer zuführen. Und hier ist es, wo wir mehr als jemals zu wünschen versucht sind, daß dieses Buch von niemand gelesen werden möchte, der keine schönen Seelen glaubt. Die Situation, worin man unsern Helden in wenigen Augenblicken sehen wird, ist vielleicht eine von den delikatesten, in welche man in seinem Leben kommen kann. Wäre hier die Rede von solchen phantasierten Charaktern, wie diejenige, welche aus dem Gehirn der Verfasserin der ›geheimen Geschichte von Burgund‹, und der ›Königin von Navarra‹ hervorgegangen sind, so würden wir uns kaum in einer kleinern Verlegenheit befinden, als Agathon selbst, da er mit pochendem Herzen und schweratmender Brust dem Sklaven folgte, der ihn ins Vorgemach einer Unbekannten führte, von der er fast mit gleicher Heftigkeit wünschte und fürchtete, daß es Danae sein möchte. Allein da Agathon und Danae so gut historische Personen sind als Brutus, Portia, und hundert andre, welche darum nicht weniger existiert haben, weil sie nicht gerade so dachten, und handelten wie gewöhnliche Leute: So bekümmern wir uns wenig, wie dieser Agathon und diese Danae, vermöge der moralischen Begriffe des einen oder andern, der über dieses Buch gut oder übel urteilen wird, hätten handeln sollen, oder gehandelt haben würden, wenn sie nicht gewesen wären, was sie waren. Das Recht zu urteilen kann und soll niemandem streitig gemacht werden; unsre Pflicht ist zu erzählen, nicht zu dichten; und wir können nichts dafür, wenn Agathon bei dieser Gelegenheit sich nicht weise und heldenmäßig genug, um die Hochachtung strenger Sittenrichter zu verdienen, verhalten; oder wenn Danae die Rechte des weiblichen Stolzes nicht so gut behaupten sollte, als viele andre, welche dem Himmel danken, daß sie keine Danaen sind, an ihrem Platze getan haben würden.


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