Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Drittes Kapitel

Die Geisterlehre eines echten Materialisten

»Wir haben die Natur gefragt, Callias, worin die Glückseligkeit bestehe, die sie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort. Ein schmerzenfreies Leben, die angenehmste Befriedigung unsrer natürlichen Bedürfnisse, und der abwechslende Genuß aller Arten von Vergnügen, womit die Einbildungskraft, der Witz und die Künste unsern Sinnen zu schmeicheln fähig sind. – Dieses ist alles was der Mensch fodern kann, und wenn es eine erhabnere Art von Glückseligkeit gibt, so können wir wenigstens gewiß sein, daß sie nicht für uns gehört, da wir nicht einmal fähig sind, uns eine Vorstellung davon zu machen. Es ist wahr, der enthusiastische Teil unter den Verehrern der Götter schmeichelt sich mit einer zukünftigen Glückseligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerstörung des Körpers erst gelangen soll. Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und Gespielin der Götter, sie war unsterblich wie sie, und begleitete (wie Plato homerisiert) den geflügelten Wagen Jupiters, um mit den übrigen Unsterblichen die unvergängliche Schönheiten zu beschauen, womit die unermeßlichen Räume über den Sphären erfüllt sind. Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unsichtbaren Welt entstand, verwickelte sie in den Fall der Besiegten; sie ward vom Himmel gestürzt, und in den Kerker eines tierischen Leibes eingeschlossen, um durch den Verlust ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zustand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie gestillte Durst nach einer Glückseligkeit, die sie in keinem irdischen Gut findet, ist das einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zustand übrig geblieben ist; und es ist unmöglich, daß sie diese vollkommne Seligkeit, wodurch sie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh sie sich wieder in ihren ursprünglichen Stand, in das reine Element der Geister empor geschwungen hat. Sie ist also vor dem Tode keiner andern Glückseligkeit fähig als derjenigen, deren sie durch eine freiwillige Absonderung von allen irdischen Dingen, durch Ertödung aller irdischen Leidenschaften und Entbehrung aller sinnlichen Vergnügen, fähig gemacht wird. Nur durch diese Entkörperung wird sie der Beschauung der wesentlichen und göttlichen Dinge fähig, worin die Geister ihre einzige Nahrung und diese vollkommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen sich keinen Begriff machen können. Solchergestalt kann sie nur, nachdem sie durch verschiedne Grade der Reinigung, von allem was tierisch und körperlich ist, gesäubert worden, sich wieder zu der überirdischen Sphäre erheben, mit den Göttern leben, und im Unverwandten Anschauen des wesentlichen und ewigen Schönen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten ist, Ewigkeiten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die Wonne, von der sie überströmet werden.

Ich zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute geben mag, bei denen die Milzsucht hoch genug gestiegen ist, daß diese Begriffe eine Art von Wahrheit für sie haben. Es ist auch nichts leichters, als daß junge Leute von lebhafter Empfindung und feuriger Einbildungskraft, durch eine einsame Lebensart und den Mangel solcher Gegenstände und Freuden, worin sich dieses übermäßige Feuer verzehren könnte, von diesen hochfliegenden Schimären eingenommen werden, welche so geschickt sind, ihre nach Vergnügen lechzende Einbildungskraft durch eine Art von Wollust zu täuschen, die nur desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die bezaubernden Phantomen sind die sie hervorbringen; allein ob diese Träume außer dem Gehirn ihrer Erfinder, und derjenigen, deren Einbildungskraft so glücklich ist ihnen nachfliegen zu können, einige Wahrheit oder Würklichkeit haben, ist eine Frage, deren Erörterung nicht zum Vorteil derselben ausfällt, wenn sie der gesunden Vernunft aufgetragen wird. Je weniger die Menschen wissen, desto geneigter sind sie, zu wähnen und zu glauben. Wem anders als der Unwissenheit und dem Aberglauben der ältesten Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien und die erscheinenden Schatten der Verstorbnen ihre vermeinte Würklichkeit zu danken? Je besser wir die Körperwelt kennen lernen, desto enger werden die Grenzen des Geister-Reichs. Ich will itzo nichts davon sagen, ob es wahrscheinlich sei, daß die Priesterschaft, die von jeher einen so zahlreichen Orden unter den Menschen ausgemacht, bald genug die Entdeckung machen mußte, was für große Vorteile man durch diesen Hang der Menschen zum Wunderbaren von ihren beiden heftigsten Leidenschaften, der Furcht und der Hoffnung, ziehen könne. Wir wollen bei der Sache selbst bleiben. Worauf gründet sich die erhabne Theorie, von der wir reden? Wer hat jemals diese Götter, diese Geister gesehen, deren Dasein sie voraussetzt? Welcher Mensch erinnert sich dessen, daß er ehmals ohne Körper in den ätherischen Gegenden geschwebt, den geflügelten Wagen Jupiters begleitet, und mit den Göttern Nektar getrunken habe? Was für einen sechsten oder siebenten Sinn haben wir, um die Würklichkeit der Gegenstände damit zu erkennen, womit man die Geisterwelt bevölkert? Sind es unsre innerlichen Sinnen? Was sind diese anders als das Vermögen der Einbildungskraft die Würkungen der äußern Sinnen nachzuäffen? Was sieht das inwendige Auge eines Blindgebornen? Was hört das innere Ohr eines gebornen Tauben? Oder was sind diese Szenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft auszuschweifen fähig ist, anders als neue Zusammensetzungen, die sie gerade so macht, wie ein Mädchen aus den Blumen, die in einem Parterre zerstreut stehen, einen Kranz flicht; oder höhere Grade dessen was die Sinnen würklich empfunden haben, von welchen man jedoch immer unfähig bleibt, sich einige klare Vorstellung zu machen; denn was empfinden wir bei dem ätherischen Schimmer, oder den ambrosischen Gerüchen der homerischen Götter? Wir sehen, wenn ich so sagen kann, den Schatten eines Glanzes in unsrer Einbildung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfinden; aber wir sehen keinen ätherischen Glanz, und empfinden keinen ambrosischen Geruch. Kurz, man verbiete den Schöpfern der überirdischen Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrücke zu bedienen, plötzlich wieder in den Schoß des Nichts zurückfallen, woraus sie gezogen worden. Und brauchen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese ganze Theorie verdächtig zu machen, als die Methode, die man uns vorschreibt, um zu der geheimnisvollen Glückseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige aufopfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen anbieten? Wir sollen uns den sichtbaren Dingen entziehen, um die unsichtbaren zu sehen; wir sollen aufhören zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasieren können. ›Verstopfet eure Sinnen‹, sagen sie, ›so werdet ihr Dinge sehen und hören, wovon diese tierischen Menschen, die gleich dem Vieh mit den Augen sehen, und mit den Ohren hören, sich keinen Begriff machen können.‹ Eine vortreffliche Diät, in Wahrheit; die Schüler des Hippokrates werden dir beweisen, daß man keine bessere erfinden kann, um wahnwitzig zu werden. Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Geister, diese Welten, welche sie bewohnen, und diese Glückseligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen zu teilen hofft, nicht mehr Wahrheit haben, als die Nymphen, die Liebesgötter und die Grazien der Dichter, als die Gärten der Hesperiden und die Inseln der Circe und Calypso; kurz, als alle diese Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß wir sie für würklich halten. Die Religion unsrer Väter befiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was für eine Vorstellung macht man uns von ihnen? Jupiter soll ein Gott, Venus eine Göttin sein: Allein der Jupiter des Phidias ist nichts mehr als ein heroischer Mann, noch die Venus des Praxiteles mehr als ein schönes Weib; von dem Gott und der Göttin hat kein Mensch in Griechenland den mindesten Begriff. Man verspricht uns nach dem Tod ein unsterbliches Leben bei den Göttern; aber die Begriffe die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinnlichen Wollüsten, oder den feinern und geistigern Freuden, die wir in diesem Leben erfahren haben, zusammengesetzt; es ist also klar, daß wir gar keine echte Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren Freuden haben. Ich will hiemit nicht leugnen, daß es Götter, Geister oder vollkommnere Wesen als wir sind, haben könne oder würklich habe. Alles was meine Schlüsse zu beweisen scheinen, ist dieses, daß wir unfähig sind, uns eine richtige Idee von ihnen zu machen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wissen. Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch von ihrer Natur, so ist es für uns eben so viel, als ob sie gar nicht wären. Anaxagoras bewies mir einst mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers, daß der Mond Einwohner habe. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Allein was sind diese Mondbewohner für uns? Meinest du, der König Philippus werde sich die mindeste Sorge machen, die Griechen möchten sie gegen ihn zu Hülfe rufen? Es mögen Einwohner im Monde sein; für uns ist der Mond weder mehr noch weniger als eine leere glänzende Scheibe, die unsre Nächte erheitert, und unsre Zeit abmißt. Hat es aber diese Bewandtnis, wie es denn nicht anders sein kann, wie töricht ist es, den Plan seines Lebens nach Schimären einzurichten, und sich der Glückseligkeit deren man würklich genießen könnte, zu begeben, um sich mit ungewissen Hoffnungen zu weiden; die Frucht seines Daseins zu verlieren, so lange man lebt, in Hoffnung sich dafür schadlos zu halten, wenn man nicht mehr sein wird! Denn daß wir itzt leben, und daß dieses Leben aufhören wird, das wissen wir gewiß; ob ein andres alsdann anfange, ist wenigstens ungewiß, und wenn es auch wäre, so ist es doch unmöglich, das Verhältnis desselben gegen das itzige zu bestimmen, da wir kein Mittel haben uns einen echten Begriff davon zu machen. Laß uns also den Plan unsers Lebens auf das gründen, was wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glückliche Leben ist, den geradesten und sichersten Weg suchen, auf dem wir dazu gelangen können.«


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