Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Ohne Zweifel würden wir diesen Teil der Griechischen Sitten noch besser kennen, wenn nicht durch ein Unglück, welches die Musen immer beweinen werden, die Komödien eines Alexis, Menander, Diphilus, Philemon, Apollodorus, und andrer berühmter Dichter aus dem schönsten Zeit-Alter der attischen Musen ein Raub der mönchischen und Saracenischen Barbarei geworden wären. Allein es bedarf dieser Urkunden nicht, um das was wir gesagt haben zu rechtfertigen. Sehen wir nicht den ehrwürdigen Solon noch in seinem hohen Alter, in Versen welche des Alters eines Voltaire würdig sind, von sich selbst gestehen, »daß er sich aller andern Beschäftigungen begeben habe, um den Rest seines Lebens in Gesellschaft der Venus, des Bacchus und der Musen auszuleben, der einzigen Quellen der Freuden der Sterblichen?« Sehen wir nicht den weisen Socrates kein Bedenken tragen, in Gesellschaft seiner jungen Freunde, der schönen und gefälligen Theodota einen Besuch zu machen, um über ihre von einem aus der Gesellschaft für unbeschreiblich angepriesene Schönheit den Augenschein einzunehmen? Sehen wir nicht, daß er seiner Weisheit nichts zu vergeben glaubt, indem er diese Theodota, auf eine scherzhafte Art in der Kunst Liebhaber zu fangen unterrichtet? War er nicht ein Freund und Bewunderer, ja, wenn Plato nicht zuviel gesagt hat, ein Schüler der berühmten Aspasia, deren Haus, ungeachtet der Vorwürfe, welche ihr von der zaumlosen Frechheit der damaligen Komödie gemacht wurden, der Sammelplatz der schönsten Geister von Athen war? So enthaltsam er selbst, bei seinen beiden Weibern, in Absicht der Vergnügen der Paphischen Göttin immer sein mochte; so finden wir doch seine Grundsätze über die Liebe mit der allgemeinen Denkungsart seiner Nation ganz übereinstimmend. Er unterschied das Bedürfnis von der Leidenschaft; das Werk der Natur, von dem Werk der Phantasie; er warnte vor dem Letztern, wie wir im vierten Kapitel schon im Vorbeigehen bemerkt haben; und riet zu Befriedigung der ersten (nach Xenophons Bericht) eine solche Art von Liebe, (das Wort dessen sich die Griechen bedienten, drückt die Sache bestimmter aus) an welcher die Seele so wenig als möglich Anteil nehme. Ein Rat, welcher zwar seine Einschränkungen leidet; aber doch auf die Erfahrungs-Wahrheit gegründet ist; daß die Liebe, welche sich der Seele bemächtiget, sie gemeiniglich der Meisterschaft über sich selbst beraube, entnerve, und zu edeln Anstrengungen untüchtig mache.

»Und wozu«, (hören wir den scheinheiligen Theogiton mit einem tiefen Seufzer, in welchem ein halbunterdrücktes Anathema murmelt, fragen) »- wozu diese ganze schöne Digression? Ist vielleicht ihre Absicht, die ärgerlichen Begriffe und Sitten blinder, verdorbener Heiden unsrer ohnehin zum Bösen so gelehrigen Jugend zum Muster vorzulegen?« »Nein, mein Herr; das wäre unnötig; der größeste Teil dieser Jugend, welche unser Buch lesen wird (es müßte dann in die Gewürzbuden kommen) hat schon den Horaz, den Ovid, den Martial, den Petron, den Apulejus, vielleicht auch den Aristophanes gelesen; und was noch sonderbarer scheinen könnte, hat seine Bekanntschaft mit diesen Schriftstellern, welche nach Dero Grundsätzen lauter Seelengift sind, in den Schulen gemacht. Wir haben also dieser Jugend nicht viel neues gesagt; und gesetzt, wir hätten? Alle Welt weiß, daß andre Verfassungen, andre Gesetze, eine andre Art des Gottesdiensts, auch andre Sitten hervorbringen und erfodern. Aber das verhindert nicht, daß es nicht gut sein sollte, auch zu wissen, nach was für Begriffen man außerhalb unserm kleinen Horizont, unter andern Himmelsstrichen und zu andern Zeiten gedacht und gelebt hat –« »Und wozu sollte das gut sein können?« »- Vergebung, Herr Theogiton! das sollten Sie wissen, da Sie davon Profession machen, die Menschen zu verbessern; und das hätten Sie, nehmen Sie's nicht übel, vorher lernen sollen, ehe Sie Sich unterfangen hätten, einen Beruf zu übernehmen, worin es so leicht ist, ein Pfuscher zu sein – Doch genug; Sie sollen hören, warum diese kleine Abschweifung notwendig war. Es ist hier darum zu tun, den Agathon zu schildern; ein wenig genauer und richtiger zu schildern, als es ordentlicher Weise in den Personalien einer Leichenpredigt geschieht – Sie schütteln den Kopf, Herr Theogiton – beruhigen Sie Sich; man malt solche Schildereien weder für Sie, noch für die guten Seelen, welche sich unter Ihre Direktion begeben haben; Sie müssen ja den ›Agathon‹ nicht lesen; und, die Wahrheit zu sagen, Sie würden wohl tun gar nicht zu lesen, was Sie nicht zu verstehen fähig sind – Aber Sie sollen glauben daß es sehr viele ehrliche Leute gibt, die nicht unter Ihrer Direktion stehen, und einige von diesen werden den ›Agathon‹ lesen, werden alles in dem natürlichen, wahren Lichte sehen, worin ungefälschte, gesunde Augen zu sehen pflegen, und werden sich – seufzen Sie immer soviel Sie wollen – daraus erbauen. Für diese also haben wir uns anheischig gemacht, den Agathon, als eine moralische Person betrachtet, zu schildern. Es ist hier um eine Seelen-Malerei zu tun – Sie lächeln, mein Herr? – Nicht wahr, ich errate es, daß ihnen bei diesem Worte die punktierte Seele in Comenii ›Orbe picto‹ einfällt? Aber das ist nicht was ich meine; es ist darum zu tun, daß uns das Innerste seiner Seele aufgeschlossen werde; daß wir die geheimern Bewegungen seines Herzens, die verborgenern Triebfedern seiner Handlungen kennen lernen –« »Eine schöne Kenntnis! und die etwan viel Kopfzerbrechens braucht? – Ein Herz zu kennen, von dem ich Ihnen, kraft meines Systems, gleich bei der ersten Zeile Ihres Buchs hätte vorhersagen können, daß es durch und durch nichts taugt –« »Ich bitte Sie, Herr Theogiton, nichts mehr; Sie mögen wohl Ihr System nicht recht gelernt haben, oder – das muß ein System sein! Aber; in unserm Leben nichts mehr, wenn ich bitten darf. Ich sehe, die Natur hat Ihnen das Werkzeug versagt, wodurch wir uns gegen einander erklären könnten. Ich hatte Unrecht, Ihnen von geheimen Triebfedern zu sprechen – Sie kennen nur eine einzige Gattung derselben, die in der Kasse der guten Seelen liegt, die sich Ihrer Führung überlassen haben; und diese rechtfertiget freilich Ihr System besser als alles was Sie zu seinem Behuf sagen könnten –« Also zu unserm Agathon zurück!

Nach den gewöhnlichen Begriffen seiner Zeit wäre es so schwer nicht gewesen, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden; auch unsre jungen Moralisten hätten hierzu gleich ein Recipe fertig, oder es wimmelt vielmehr würklich von dergleichen in allen Buchläden. Aber Agathon hatte größere und feinere Begriffe von der Tugend – Die Begriffe einer gewissen idealischen Vollkommenheit waren zu sehr mit den Grundzügen seiner Seele verwebt, als daß er sie sobald verlieren konnte, oder vielleicht jemals verlieren wird. Was ist für eine delikate Seele Liebe ohne Schwärmerei? Ohne diese Zärtlichkeit der Empfindungen, diese Sympathie welche ihre Freuden vervielfältiget, verfeinert, veredelt? Was sind die Wollüste der Sinnen, ohne Grazien und Musen? – Das Socratische System über die Liebe mag für viele gut sein; aber es taugt nicht für die Agathons. Agathon hätte diese Art zu lieben, wie er die schöne Danae geliebt hatte, und wie er von ihr geliebt worden war, gerne mit der Tugend verbinden mögen; und von diesem Wunsch sah er alle Schwierigkeiten ein. Endlich deuchte ihn, es komme alles auf den Gegenstand an; und hier erinnerte ihn sein Herz wieder an seine geliebte Psyche. Ihr Bild stellte sich ihm mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit dar, wie es ihm seit langer Zeit, seinen Traum ausgenommen, niemals vorgekommen war. Er errötete vor diesem Bilde, wie er vor der gegenwärtigen Psyche selbst errötet haben würde; aber er empfand mit einem Vergnügen, wovon das überlegte Bewußtsein ein neues Vergnügen war, daß sein Herz, ohne nur mit einem einzigen Faden an Danae zu hangen, wieder zu seiner ersten Liebe zurückkehrte. Seine wieder ruhige Phantasie spiegelte ihm, wie ein klarer tiefer Brunnen die Erinnerungen der reinen, tugendhaften, und mit keiner andern Lust zu vergleichenden Freuden vor, die er durch die zärtliche Vereinigung ihrer Seelen in jenen elysischen Nächten erfahren hatte. Er empfand itzt alles wieder für sie was er ehemals empfunden, und diese neuen Empfindungen noch dazu, welche ihm Danae eingeflößt hatte; aber so sanft, so geläutert durch die moralische Schönheit des veränderten Gegenstandes, daß es nicht mehr eben dieselben schienen. Er stellte sich vor, wie glücklich ihn eine unzertrennliche Verbindung mit dieser Psyche machen würde, welche ihm eine Liebe eingehaucht, die seiner Tugend so wenig gefährlich gewesen war, daß sie ihr vielmehr Schwingen angesetzt hatte – er versetzte sich in Gedanken mit Psyche in den Ruheplatz der Diana zu Delphi – und ließ den Gott der Liebe, den Sohn der himmlischen Venus, das überirdische Gemälde ausmalen. Eine süße weissagende Hoffnung breitete sich durch seine Seele aus; es war ihm, als ob eine geheime Stimme ihm zulisple, daß er sie in Sicilien finden werde. Psyche schickte sich vortrefflich in den Plan, den er sich von seinem bevorstehenden Leben gemacht hatte – was für eine Perspektive stellte ihm die Verbindung seiner Privat-Glückseligkeit mit der öffentlichen vor, welcher er alle seine Kräfte zu widmen entschlossen war! Aber er wollte erst verdienen glücklich zu sein – »Und nun, sagen sie mir, meine schönen Leserinnen, verdient nicht ein Mann, der so edel denkt glücklich zu sein? – verdient er nicht die beste Frau? – Sein Sie ruhig; er soll sie haben, sobald wir sie finden werden.«


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