Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Neuntes Kapitel

Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes

Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzusagen) ist die Mittelstraße zwischen zween Abwegen, welche beide gleich sorgfältig zu vermeiden sind. Es ist ohne Zweifel wohl getan, wenn ein Schriftsteller, der sich einen wichtigern Zweck als die bloße Ergötzung seiner Leser vorgesetzt hat, bei gewissen Anlässen, anstatt des zaumlosen Mutwillens vieler von den neuern Franzosen, lieber die bescheidne Zurückhaltung des jungfräulichen Virgils nachahmet, welcher bei einer Gelegenheit, wo die Angola's und Versorand's alle ihre Malerkunst verschwendet, und sonst nichts besorget hätten, als daß sie nicht lebhaft und deutlich genug sein möchten, sich begnügt uns zu sagen:

»Daß Dido und der Held in Eine Höhle kamen.«

Allein wenn diese Zurückhaltung so weit ginge, daß die Dunkelheit, welche man über einen schlüpfrigen Gegenstand ausbreitete, zu Mißverstand und Irrtum Anlaß geben könnte: So würde sie, deucht uns, in eine falsche Scham ausarten; und in solchen Fällen scheint uns ratsamer zu sein, den Vorhang ein wenig wegzuziehen, als aus übertriebener Bedenklichkeit Gefahr zu laufen, vielleicht die Unschuld selbst ungegründeten Vermutungen auszusetzen. So ärgerlich also gewissen Leserinnen, deren strenge Tugend bei dem bloßen Namen der Liebe Dampf und Flammen speit, der Anblick eines schönen Jünglings zu den Füßen einer selbst im Schlummer lauter Liebe und Wollust atmenden Danae billig sein mag; so können wir doch nicht vorbeigehen, uns noch etliche Augenblicke bei diesem anstößigen Gegenstande aufzuhalten. Man ist so geneigt, in solchen Fällen der Einbildungskraft den Zügel schießen zu lassen, daß wir uns lächerlich machen würden, wenn wir behaupten wollten, daß unser Held die ganze Zeit, die er (nach dem Vorgeben der kleinen Tänzerin) in dem Pavillion zugebracht haben soll, sich immer in der ehrfurchtsvollen Stellung gehalten habe, worin man ihn zu Ende des vorigen Kapitels gesehen hat. Wir müssen vielmehr besorgen, daß Leute, welche nichts dafür können, daß sie keine Agathons sind, vielleicht so weit gehen möchten, ihn im Verdacht zu haben, daß er sich den tiefen Schlaf, worin Danae zu liegen schien, auf eine Art zu Nutze gemacht haben könnte, welche sich ordentlicher Weise nur für einen Faunen schickt, und welche unser Freund Johann Jacob Rousseau selbst nicht schlechterdings gebilliget hätte, so scharfsinnig er auch (in einer Stelle seines Schreibens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtfertigen weiß, was er »eine stillschweigende Einwilligung abnötigen« nennet. Um nun unsern Agathon gegen alle solche unverschuldete Mutmaßungen sicher zu stellen, müssen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß selbst die reizende Lage der schönen Schläferin, und die günstige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzuladen schien, seinen Augen alles zu erlauben, seine Bescheidenheit schwerlich überrascht haben würden, wenn es ihm möglich gewesen wäre, der zauberischen Gewalt der Empfindung, in welche alle Kräfte seines Wesens zerflossen schienen, Widerstand zu tun. Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen solchen Widerstand in seinen Umständen für unmöglich erklären, nachdem er einem Agathon unmöglich gewesen ist. Er überließ also endlich seine Seele der vollkommensten Wonne ihres edelsten Sinnes, dem Anschauen einer Schönheit, welche selbst seine idealische Einbildungskraft weit hinter sich zurücke ließ; und (was nur diejenigen begreifen werden, welche die wahre Liebe kennen,) dieses Anschauen erfüllte sein Herz mit einer so reinen, vollkommnen, unbeschreiblichen Befriedigung, daß er alle Wünsche, alle Ahnungen einer noch größern Glückseligkeit darüber vergessen zu haben schien. Vermutlich (denn gewiß können wir hierüber nichts entscheiden) würde die Schönheit des Gegenstands allein, so außerordentlich sie war, diese sonderbare Würkung nicht getan haben; allein dieser Gegenstand war seine Geliebte, und dieser Umstand verstärkte die Bewundrung, womit auch die Kaltsinnigsten die Schönheit ansehen müssen, mit einer Empfindung, welche noch kein Dichter zu beschreiben fähig gewesen ist, so sehr sich auch vermuten läßt, daß sie den mehresten aus Erfahrung bekannt gewesen sein könne. Diese namenlose Empfindung ist es allein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren unterscheidet, und was eine Art von sittlichen Grazien sogar über dasjenige ausbreitet, was bei diesem nur das Werk des Instinkts, oder eines animalischen Hungers ist. Welcher Satyr würde in solchen Augenblicken fähig gewesen sein, wie Agathon zu handeln? – Behutsam und mit der leichten Hand eines Sylphen zog er das seidene Gewand, welches Amor verräterisch aufgedeckt hatte, wieder über die schöne Schlafende her, warf sich wieder zu den Füßen ihres Ruhebettes, und begnügte sich, ihre nachlässig ausgestreckte Hand, aber mit einer Zärtlichkeit, mit einer Entzückung und Sehnsucht an seinen Mund zu drücken, daß eine Bildsäule davon hätte erweckt werden mögen. Sie mußte also endlich erwachen. Und wie hätte sie auch sich dessen länger erwehren können, da ihr bisheriger Schlummer würklich nur erdichtet gewesen war? Sie hatte aus einer Neugierigkeit, die in ihrer Verfassung natürlich scheinen kann, sehen wollen, wie ein Agathon bei einer so schlüpfrigen Gelegenheit sich betragen würde; und dieser letzte Beweis einer vollkommnen Liebe, welche, ungeachtet ihrer Erfahrenheit, alle Annehmlichkeiten der Neuheit für sie hatte, rührte sie so sehr, daß sie, von einer ungewohnten und unwiderstehlichen Empfindung überwunden, in einem Augenblick, wo sie zum erstenmal zu lieben und geliebt zu werden glaubte, nicht mehr Meisterin von ihren Bewegungen war. Sie schlug ihre schönen Augen auf, Augen die in den wollüstigen Tränen der Liebe schwammen, und dem entzückten Agathon sein ganzes Glück auf eine unendlich vollkommnere Art entdeckten, als es das beredteste Liebesgeständnis hätte tun können. »O Callias!« (rief sie endlich mit einem Ton der Stimme, der alle Saiten seines Herzens widerhallen machte, indem sie, ihre schönen Arme um ihn windend, den Glückseligsten aller Liebhaber an ihren Busen drückte,) »- was für ein neues Wesen gibst du mir? Genieße, o! genieße, du Liebenswürdigster unter den Sterblichen, der ganzen unbegrenzten Zärtlichkeit, die du mir einflößest.« Und hier, ohne den Leser unnötiger Weise damit aufzuhalten, was sie ferner sagte, und was er antwortete, überlassen wir den Pinsel einem Correggio, und schleichen uns davon.

Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu späte, daß wir unsern Freund Agathon auf Unkosten seiner schönen Freundin gerechtfertiget haben. Es ist leicht vorauszusehen, wie wenig Gnade sie vor dem ehrwürdigen und glücklichen Teil unsrer Leserinnen finden werde, welche sich bereden (und vermutlich Ursache dazu haben) daß sie in ähnlichen Umständen sich ganz anders als Danae betragen haben würden. Auch sind wir weit davon entfernt, diese allzuzärtliche Nymphe entschuldigen zu wollen, so scheinbar auch immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemänteln weiß. Indessen bitten wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, dieses Kapitel mit einer kleinen Nutzanwendung, auf die sie sich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, schließen zu dürfen. Diese Damen (mit aller Ehrfurcht die wir ihnen schuldig sind, sei es gesagt) würden sich sehr betrügen, wenn sie glaubten, daß wir die Schwachheiten einer so liebenswürdigen Kreatur, als die schöne Danae ist, nur darum verraten hätten, damit sie Gelegenheit bekämen, ihre Eigenliebe daran zu kitzeln. Wir sind in der Tat nicht so sehr Neulinge in der Welt, daß wir uns überreden lassen sollten, daß eine jede, welche sich über das Betragen unsrer Danae ärgern wird, an ihrer Stelle weiser gewesen wäre. Wir wissen sehr wohl, daß nicht alles, was das Gepräge der Tugend führt, würklich echte und vollhaltige Tugend ist; und daß sechszig Jahre, oder eine Figur, die einen Satyren entwaffnen könnte, kein oder sehr wenig Recht geben, sich viel auf eine Tugend zu gut zu tun, welche vielleicht niemand jemals versucht gewesen ist, auf die Probe zu stellen. Wir zweifeln mit gutem Grunde sehr daran, daß diejenigen, welche von einer Danae am unbarmherzigsten urteilen, an ihrem Platz einem viel weniger gefährlichen Versucher als Agathon war, die Augen auskratzen würden: Und wenn sie es auch täten, so würden wir vielleicht anstehen, ihrer Tugend beizumessen, was eben sowohl die mechanische Würkung unreizbarer Sinnen, und eines unzärtlichen Herzens, hätte gewesen sein können. Unser Augenmerk ist bloß auf euch gerichtet, ihr liebreizenden Geschöpfe, denen die Natur die schönste ihrer Gaben, die Gabe zu gefallen, geschenkt – ihr, welche sie bestimmt hat, uns glücklich zu machen; aber, welche eine einzige kleine Unvorsichtigkeit in Erfüllung dieser schönen Bestimmung so leicht in Gefahr setzen kann, durch die schätzbarste eurer Eigenschaften, durch das was die Anlage zu jeder Tugend ist, durch die Zärtlichkeit eures Herzens selbst, unglücklich zu werden: Euch allein wünschten wir überreden zu können, wie gefährlich jene Einbildung ist, womit euch das Bewußtsein eurer Unschuld schmeichelt, daß es allezeit in eurer Macht stehe, der Liebe und ihren Forderungen Grenzen zu setzen. Möchten die Unsterblichen (wenn anders, wie wir hoffen, die Unschuld und die Güte des Herzens himmlische Beschützer hat,) möchten sie über die eurige wachen! Möchten sie euch zu rechter Zeit warnen, euch einer Zärtlichkeit nicht zu vertrauen, welche, bezaubert von dem großmütigen Vergnügen, den Gegenstand ihrer Liebe glücklich zu machen, so leicht sich selbst vergessen kann! Möchten sie endlich in jenen Augenblicken, wo das Anschauen der Entzückungen, in die ihr zu setzen fähig seid, eure Klugheit überraschen könnte, euch in die Ohren flüstern: Daß selbst ein Agathon, weder Verdienst noch Liebe genug hat, um wert zu sein, daß die Befriedigung seiner Wünsche euch die Ruhe eures Herzens koste.


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