Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Endlich, da er Ursache hatte zu glauben, daß die Hochachtung die er ihm eingeflößt hatte, etwas mehr als ein launischer Geschmack sei, gab er seinem Anhalten nach; aber nicht anders als unter gewissen Bedingungen, welche ihm Dionys zugestehen mußte. Er erklärte sich, daß er allein in der Qualität seines Freundes an seinem Hofe bleiben wollte, so lange als ihn Dionys dafür erkennen, und seiner Dienste nötig zu haben glauben würde; er wollte sich aber auch nicht fesseln lassen, und die Freiheit behalten sich zurückzuziehen, so bald er sähe, daß sein Dasein zu nichts nütze sei. Die einzige Belohnung, welche er sich befügt halte für seine Dienste zu verlangen, sei diese, daß Dionys seinen Räten folgen möchte, so lange er werde zeigen können, daß dadurch jedesmal das Beste der Nation, und die Sicherheit, der Ruhm und die Privat-Glückseligkeit des Prinzen zugleich befördert werde. Endlich bat er sich noch aus, daß Dionys niemals einige heimliche Eingebungen oder Anklagen gegen ihn annehmen möchte, ohne ihm solche offenherzig zu entdecken, und seine Verantwortung anzuhören.

Dionys bedachte sich um so weniger, alle diese Bedingungen zu unterschreiben, da er entschlossen war ihn zu haben, wenn es auch die Hälfte seines Reichs kosten sollte. Agathon bezog also die Wohnung, welche man im Palast aufs prächtigste für ihn ausgerüstet hatte; Dionys erklärte öffentlich, daß man sich in allen Sachen an seinen Freund Agathon, wie an ihn selbst, wenden könne; die Höflinge stritten in die Wette, wer dem neuen Günstling seine Unterwürfigkeit auf die sklavenmäßigste Art beweisen könne; und Syracus sah mit froher Erwartung der Wiederkunft der Saturnischen Zeiten entgegen.

Wir machen hier eine kleine Pause, um dem Leser Zeit zu lassen, dasjenige zu überlegen, was er sich selbst in diesem Augenblick für oder wider unsern Helden zu sagen haben mag. Vermutlich mag einigen der Eifer mißfällig gewesen sein, womit er, aus Haß gegen sein undankbares Vaterland, wider die Republiken überhaupt gesprochen; indessen daß vielleicht andere sein ganzes Betragen, seit dem wir ihn an dem Hofe des Königs Dionys sehen, einer gekünstelten Klugheit, welche nicht in seinem Charakter sei, und ihm eine schielende Farbe gebe, beschuldigen werden. Wir haben uns schon mehrmalen erklärt, daß wir in diesem Werke die Pflichten eines Geschichtschreibers und nicht eines Apologisten übernommen haben; indessen bleibt uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes, dessen Leben wir zwar nicht für ein Muster, aber doch für ein lehrreiches Beispiel geben, eben so frei nach unserm Gesichtspunkt zu urteilen, als es unsre Leser aus dem ihrigen tun mögen. Was also den ersten Punkt betrifft, so haben wir bereits erinnert, daß es unbillig sein würde, dasjenige was Agathon wider die Republiken seiner Zeit gesprochen, für eine, von ihm gewiß nicht abgezielte, Beleidigung solcher Freistaaten anzusehen, welche (wie er als möglich erkannt hat) unter dem Einfluß günstiger Umstände, durch ihre Lage selbst vor auswärtigem Neid, und vor ausschweifenden Vergrößerungs-Gedanken gesichert, durch weise Gesetze, und was noch mehr ist, durch die Macht der Gewohnheit, in einer glückseligen Mittelmäßigkeit fortdauern, und die Gebrechen kaum dem Namen nach kennen, welche Agathon an den Republiken seiner Zeit für unheilbar angesehen. Ob er aber diesen letztern zuviel getan habe, mögen diejenigen entscheiden, welche mit den besondern Umständen ihrer Geschichte bekannt sind. Hat die Empfindung des Unrechts, welches ihm selbst zu Athen zugefügt worden, etwas Galle in seine Kritik gemischt; so ersuchen wir unsre Leser (nicht dem Agathon zu lieb; denn was kann diesem durch ihre Meinung von ihm zu- oder abgehen?) sich an seinen Platz zu stellen, und sich alsdann zu fragen, wie wert ihnen ein Vaterland sein würde, welches ihnen so mitgespielt hätte? Sie mögen sich erinnern, daß es insgemein nur auf eine kleine Beleidigung ihrer Eigenliebe ankommt, um ihre Hochachtung gegen eine Person in Verachtung, ihre Liebe in Abscheu, ihre Lobsprüche in Schmähreden, ihre guten Dienste in Verfolgungen zu verwandeln. »Wie oft, meine Herren, hat sich schon um einer nichts bedeutenden Ursache willen, ihre ganze Denkungs-Art von Personen und Sachen geändert? – Antworten Sie Sich selbst so leise als Sie wollen; denn wir verlangen nichts davon zu hören; und wenn Sie, nach diesem kleinen Blick in sich selbst, unserm Helden nicht vergeben können, daß er ein Vaterland nicht liebte, welches alles mögliche getan hatte, sich ihm verhaßt zu machen: So müssen wir zwar die Strenge ihrer Sittenlehre bewundern; aber – doch gestehen, daß wir Sie noch mehr bewundern würden, wenn Sie so lange, bis Sie gelernt hätten etwas weniger Parteilichkeit für sich selbst zu hegen, etwas mehr Nachsicht gegen andre sich empfohlen sein lassen wollten.«

Überhaupt hat man Ursache zu glauben, daß Agathon gesprochen habe wie er dachte, und das ist zu Rechtfertigung seiner Redlichkeit genug. Und warum sollten wir an dieser zu zweifeln anfangen? Sein ganzes Betragen, während daß er das Herz des Tyrannen in seinen Händen hatte, bewies, daß er keine Absichten hegete, welche ihn genötiget hätten, ihm gegen seine Überzeugung zu schmeicheln. Es ist wahr, er hatte Absichten, bei allem was er von dem Augenblick, da er den Fuß in Dionysens Palast setzte, tat; sollte er vielleicht keine gehabt haben? Was können wir, nach der äußersten Schärfe, mehr fodern, als daß seine Absichten edel und tugendhaft sein sollen; und so waren sie, wie wir bereits gesehen haben. Es scheint also nicht, daß man Grund habe, ihm aus der Vorsichtigkeit einen Vorwurf zu machen, womit er, in der neuen und schlüpfrigen Situation, worin er war, alle seine Handlungen einrichten mußte, wenn sie Mittel zu seinen Absichten werden sollten. Wir geben zu, daß eine Art von Zurückhaltung und Feinheit daraus hervorblickt, welche nicht ganz in seinem vorigen Charakter zu sein scheint. Aber das verdient an sich selbst keinen Tadel. Es ist noch nicht ausgemacht, ob diese Unveränderlichkeit der Denkungs-Art und Verhaltungs-Regeln, worauf manche ehrliche Leute sich so viel zu gute tun, eine so große Tugend ist, als sie sich vielleicht einbilden. Die Eigenliebe schmeichelt uns zwar sehr gerne, daß wir so wie wir sind, am besten sind; aber sie hat Unrecht uns so zu schmeicheln. Es ist unmöglich, daß indem alles um uns her sich verändert, wir allein unveränderlich sein sollten; und wenn es auch nicht unmöglich wäre, so wär' es unschicklich. Andre Zeiten erfordern andre Sitten; andre Umstände, andre Bestimmungen und Wendungen unsers Verhaltens. In moralischen Romanen finden wir freilich Helden, welche sich immer in allem gleich bleiben – und darum zu loben sind – denn wie sollte es anders sein, da sie in ihrem zwanzigsten Jahre Weisheit und Tugend bereits in eben dem Grade der Vollkommenheit besitzen, den die Socraten und Epaminondas nach vielfachen Verbesserungen ihrer selbst kaum im sechzigsten erreicht haben? Aber im Leben finden wir es anders. Desto schlimmer für die, welche sich da immer selbst gleich bleiben – Wir reden nicht von Toren und Lasterhaften – die Besten haben an ihren Ideen, Urteilen, Empfindungen, selbst an dem worin sie vortrefflich sind, an ihrem Herzen, an ihrer Tugend, unendlich viel zu verändern. Und die Erfahrung lehrt, daß wir selten zu einer neuen Entwicklung unsrer Selbst, oder zu einer merklichen Verbesserung unsers vorigen innerlichen Zustandes gelangen, ohne durch eine Art von Medium zu gehen, welches eine falsche Farbe auf uns reflektiert, und unsre wahre Gestalt eine Zeitlang verdunkelt. Wir haben unsern Helden bereits in verschiedenen Situationen gesehen; und in jeder, durch den Einfluß der Umstände, ein wenig anders als er würklich ist. Er schien zu Delphi ein bloßer spekulativer Enthusiast; und man hat in der Folge gesehen, daß er sehr gut zu handeln wußte. Wir glaubten, nachdem er die schöne Cyane gedemütiget hatte, daß ihm die Verführungen der Wollust nichts anhaben könnten, und Danae bewies, daß wir uns betrogen hatten; es wird nicht mehr lange anstehen, so wird eine neue vermeinte Danae, welche seine schwache Seite ausfündig gemacht zu haben glauben mag, sich eben so betrogen finden. Er schien nach und nach ein andächtiger Schwärmer, ein Platonist, ein Republikaner, ein Held, ein Stoiker, ein Wollüstling; und war keines von allen, ob er gleich in verschiedenen Zeiten durch alle diese Klassen ging, und in jeder eine Nüance von derselben bekam. So wird es vielleicht noch eine Zeitlang gehen – Aber von seinem Charakter, von dem was er würklich war, worin er sich unter allen diesen Gestalten gleich blieb, und was zuletzt, nachdem alles Fremde und Heterogene durch die ganze Folge seiner Umstände davon abgeschieden sein wird, übrig bleiben mag – davon kann dermalen die Rede noch nicht sein. Ohne also eben so voreilig über ihn zu urteilen, wie man gewohnt ist, es im täglichen Leben alle Augenblicke zu tun – wollen wir fortfahren, ihn zu beobachten, die wahren Triebräder seiner Handlungen so genau als uns möglich sein wird auszuspähen, keine geheime Bewegung seines Herzens, welche uns einigen Aufschluß hierüber geben kann, entwischen lassen, und unser Urteil über das Ganze seines moralischen Wesens so lange zurückhalten, bis – wir es kennen werden.


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