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»Was ist das Schöne? Was ist das Gute? Eh wir diese Fragen beantworten können, müssen wir, deucht mich, vorher fragen: Was ist das, was die Menschen schön und gut nennen? Wir wollen vom Schönen den Anfang machen. Was für eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei den verschiedenen Völkern des Erdbodens von der Schönheit macht! Alle Welt kommt darin überein, daß ein schönes Weib das schönste unter allen Werken der Natur sei. Allein wie muß sie sein, um für eine vollkommne Schönheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier fängt der Widerspruch an. Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es verschiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen gibt; was ist gewisser, als daß ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den übrigen behaupten wird? Der Europäer wird die blendende Weiße, der Mohr die rabengleiche Schwärze der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und das angenehme Ebenmaß einer feinen Gestalt; der Africaner wird die eingedrückte Nase, und die aufgeschwollnen dickroten Lippen; der Persianer die großen Augen und den schlanken Wuchs, der Serer die kleinen Augen, die kegelrunde Dicke und winzigen Füße an der seinigen bezaubernd finden. Hat es mit dem Schönen in sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt, eine andre Bewandtnis? Die Spartanischen Töchter scheuen sich nicht, in einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste öffentliche Metze sich entehrt hielte. In Persien würd' ein Frauenzimmer, das an einem öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so angesehen, als in Smyrna eine die sich nackend sehen ließe. Bei den morgenländischen Völkern erfodert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und untertänigen Gebärden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bei den Griechen würde diese Höflichkeit für eben so schändlich und sklavenmäßig gehalten werden, als die attische Politesse zu Persepolis grob und bäurisch scheinen würde. Bei den Griechen hat eine freigeborne ihre Ehre verloren, die sich den jungfräulichen Gürtel von einem andern, als ihrem Manne auflösen läßt; bei gewissen Völkern die jenseits des Ganges wohnen, ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die seine Reizungen aus Erfahrung anzurühmen wissen. Diese Verschiedenheit der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht nur in besondern Gebräuchen und Gewohnheiten verschiedner Völker, wovon sich die Beispiele ins Unendliche häufen ließen; sondern selbst in dem Begriff, den sie sich überhaupt von der Tugend machen. Bei den Römern ist Tugend und Tapferkeit einerlei; bei den Atheniensern schließt dieses Wort alle Arten von nützlichen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Sparta kennt man keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen Reichen keine andre, als die sklavische Untertänigkeit gegen den Monarchen und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tugendhafteste der am besten rauben kann, und die meisten Feinde erschlagen hat; und in dem wärmsten Striche von Indien hat nur der die höchste Tugend erreicht, der sich durch eine völlige Untätigkeit, ihrer Meinung nach, den Göttern ähnlich macht. Was folget nun aus allen diesen Beispielen? Ist nichts an sich selbst schön oder recht? Gibt es kein gewisses Modell, wornach dasjenige, was schön oder sittlich ist, beurteilt werden muß? Wir wollen sehen. Wenn ein solches Modell ist, so muß es in der Natur sein. Denn es wäre Torheit, sich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildsäule schnitzen könne, welche schöner sei als Phryne, die kühn genug war, bei den Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worin die drei Göttinnen um den Preis der Schönheit stritten, das ganze Griechenland zum Richter über die ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks ist nichts anders als die Abbildung eines Weibes, die bei einer allgemeinen Versammlung dieses Volks für diejenige erklärt würde, bei der sich die National-Schönheit im höchsten Grade befinde. Allein welches unter so vielerlei Modellen ist denn an sich selbst das schönste? Der Grieche wird für seine rosenwangichte, der Mohr für seine rabenschwarze, der Perser für seine schlanke, und der Serer für seine runde Venus mit dem dreifachen Kinn streiten. Wer soll den Ausschlag geben? Wir wollen es versuchen. Gesetzt, es würde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede Nation den schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem National-Modell zu urteilen, geschickt hätten; und wo die Weiber zu entscheiden hätten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der Schönheit der schönste Mann, und die Männer, welche unter allen das schönste Weib wäre: Ich sage also, man würde gar bald diejenigen aus allen übrigen aussondern, die unter diesen milden und gemäßigten Himmelsstrichen geboren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmaß der Gestalt, und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzügliche Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstreckt sich vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen Auserlesnen von beiden Geschlechtern würde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft sein; allein endlich würde doch unter den Männern derjenige den Preis erhalten, bei dessen Landesleuten die verschiednen gymnastischen Übungen am stärksten, und Verhältnisweise in dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben würden; und alle Männer würden mit einer Stimme diejenige für die schönste unter den Schönen erklären, die von einem Volke abgeschickt worden, welches bei der Erziehung der Töchter die möglichste Entwicklung und Kultur der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte. Der Spartaner würde also vermutlich für den schönsten Mann, und die Perserin für das schönste Weib erklärt werden. Der Grieche, welcher der Anmut den Vorzug vor der Schönheit gibt, weil die griechischen Weiber mehr reizend als schön sind, würde nichts desto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz einem Mädchen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, bekennen müssen, daß die Perserin schöner sei; und eben dieses würde der Serer tun, ob er gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizender finden würde. – Laß uns zu dem sittlichen Schönen fortgehen. So groß auch hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so wird doch schwerlich geleugnet werden können, daß die Sitten derjenigen Nation, welche die geistreichste, die munterste, die geselligste, die angenehmste ist, den Vorzug der Schönheit haben. Die ungezwungne und einnehmende Höflichkeit des Atheniensers muß einem jeden Fremden angenehmer sein, als die abgemessene, ernsthafte und zeremonienvolle Höflichkeit der Morgenländer; das verbindliche Wesen, der Schein von Leutseligkeit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen preis gibt, vor der Vermummung der Morgenländerin oder der tierischen Blöße einer Wilden. Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation scheint also die wahre Regul des sittlichen Schönen, oder des Anständigen zu sein, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack und seine Sitten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul für das Schöne gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist finden? wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen herrschen, daß eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit Lorbeerkränzen und Statuen belohnt wird, bei dem andern eine schmähliche Todesstrafe verdient; und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Gesetze sind bei dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein was bei diesem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein, als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße so viel Vergnügen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maß seiner Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern nichts schuldig. Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem einzigen Gesetz der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschränkung, ohne einem andern zu schaden. Wie also im Stande der Natur einem jeden Menschen alles recht ist, was ihm nützlich ist; so erklärt im Stande der Gesellschaft das Gesetz alles für unrecht und strafwürdig, was der Gesellschaft schädlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung eines Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch der Nutzen oder das Vergnügen der Gesellschaft befördert wird. Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so ferne sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem jeden Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet. Das Klima, die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der National-Charakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Stärke oder Schwäche, seine Armut oder sein Reichtum, bestimmen seine Begriffe von dem, was ihm gut oder schädlich ist; daher diese unendliche Verschiedenheit des Rechts oder Unrechts unter den policiertesten Nationen; daher der Kontrast der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der kalten Länder, der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche; der Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geist der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu bestimmen, was für alle Nationen recht sei, ehe sie die Auflösung der Aufgabe gefunden haben, wie man machen könne, daß eben dasselbe für alle Nationen gleich nützlich sei.