Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Sechstes Kapitel

Ungelehrigkeit des Agathon

Hippias konnte sich wohl berechtiget halten, einigen Dank bei seinem Lehrjünger verdient zu haben, da er sich so viele Mühe gegeben hatte, ihn weise zu machen. Allein wir müssen es nur gestehen, er hatte es mit einem Menschen zu tun, der nicht fähig war, die Wichtigkeit dieses Dienstes einzusehen, oder die Schönheit eines Systems zu empfinden, welches seinen vermeinten Empfindungen so zuwider war. Seine Erwartung wurde also nicht wenig betrogen, als Agathon, wie er sah, daß der weise Hippias zu reden aufgehört hatte, ihm diese kurze Antwort gab: »Du hast eine schöne Rede gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schlüsse sehr bündig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glückseligkeit würklich führe, deren Vorzüge vor meiner Art glücklich zu sein, du in ein so helles Licht gesetzt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glücklich zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich eher ein Sophist werden, bis du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu einem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein Bramine zu werden.« Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm desto besser gefiel. »Und was hast du gegen mein System einzuwenden?« fragte er. »Daß es mich nicht überzeugt«, erwiderte Agathon. »Und warum nicht?« »Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen widerspricht.« »Ich möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und empfindt.« »Du würdest beweisen, daß es Schimären sind.« »Und wenn ich es bewiesen hätte?« »Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist.« »Aber die Frage ist, ob Hippias oder Callias richtig denkt?« »Wer soll Richter sein?« »Das ganze menschliche Geschlecht.« »Was würde das wider mich beweisen?« »Sehr viel. Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, daß zween oder drei aus ihrem Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unleugbar.« »Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn Millionen Toren wären, und die drei wären klug?« »Wie müßte das zugehen?« »Können nicht zehn Millionen die Pest haben, und Sokrates allein gesund herum gehen?« »Diese Instanz beweist nichts für dich. Ein Volk hat nicht immer die Pest; Allein die zehn Millionen denken immer so wie ich. Sie sind also in ihrem natürlichen Zustande, wenn sie so denken; und wer anders denkt, gehört folglich entweder zu einer andern Gattung von Wesen, oder zu den Wesen, die man Toren nennt.« »So ergeb ich mich in mein Schicksal.« »Es gibt noch eine Alternative, junger Mensch. Du schämest dich, entweder deine Gedanken so schnell zu verändern, oder du bist ein Heuchler.« »Keines von beiden, Hippias.« »Leugne mir zum Exempel, wenn du kannst, daß dir die schöne Cyane, die uns beim Frühstück bediente, Begierden eingeflößt hat, und daß du verstohlne Blicke –« »Ich leugne nichts.« »So gestehe, daß das Anschauen dieser runden schneeweißen Arme, dieses aus der flatternden Seide hervoratmenden Busens, die Begierde in dir erregt, ihrer zu genießen.« »Ist das Anschauen kein Genuß?« »Keine Ausflüchte, junger Mensch!« »Du betrügst dich, Hippias, wenn es erlaubt ist einem Weisen das zu sagen; ich bedarf keiner Ausflüchte. Ich mache nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele. Ich habe den Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest.« »Ich beschuldige dich nichts, als daß du meiner spottest. Ich denke, daß ich die Natur kennen sollte. Die Schwärmerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare Krankheit sein, daß sie wider die Reizung des Vergnügens sollte aushalten können.« »Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten.« »Du gestehest also, daß Cyane reizend ist?« »Sehr reizend.« »Und daß ihr Genuß ein Vergnügen wäre?« »Vermutlich.« »Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu versagen, das in deiner Gewalt ist.« »Weil ich mich dadurch vieler andern Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze.« »Kann man in deinem Alter so sehr ein Neuling sein? Was für Vergnügen, die allen übrigen Menschen unbekannt sind, hat die Natur für dich allein aufbehalten? Wenn du noch größere kennest als dieses, – doch ich merke dich. Du wirst mir wieder von den Vergnügungen der Geister, von Nektar und Ambrosia sprechen; aber wir spielen itzt keine Komödie, mein Freund. Die Erscheinung einer Cyane in einem von den Gebüschen meiner Gärten würde fähig sein, so gar deinen Geistern Körper zu geben.« »Hippias, ich rede wie ich denke. Ich kenne Vergnügen, die ich höher schätze als diejenigen, die der Mensch mit den Tieren gemein hat.« »Zum Exempel?« »Das Vergnügen eine gute Handlung zu tun.« »Was nennest du eine gute Handlung?« »Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere.« »Du bist also töricht genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?« »Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück meiner Nebengeschöpfe befördern kann.« »Du bist sehr dienstfertig; gesetzt aber es sei so, wie hängt dieses mit demjenigen zusammen, wovon itzt die Rede ist?« »Das ist leicht zu sehen. Gesetzt, ich überließe mich den Eindrücken, welche die Reizungen der schönen Cyane auf mich machen könnten; gesetzt, sie liebte mich, und ließe mich alles erfahren, was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art könnte von keiner langen Dauer sein;« »aber würden die Erinnerungen der genoßnen Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu genießen? Eine neue Cyane« – »würde mir wieder gleichgültig werden, und eben diese Begierden zurück lassen.« »Eine immerwährende Abwechslung ist also hierin, wie du siehst, das Gesetz der Natur.« »Aber auf diese Art würde ichs gar bald so weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu können.« »Wozu brauchst du zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und der Mäßigung bleiben?« »Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes, oder welche es sonst wäre, die der ehrwürdige Name einer Mutter gegen den bloßen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie, wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres Heuratsgut als ihre Unschuld und Schönheit hat; der Gegenstand dieser Begierden würde, über die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt verloren hätte?« »So hättest du dich in Griechenland wenigstens vor den Gesetzen vorzusehen. Allein was müßte das für ein Hirn sein, das in solchen Umständen kein Mittel ausfündig machen könnte, seine Leidenschaft zu vergnügen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen? Ich sehe, du kennest die Damen zu Athen und Sparta nicht.« »O! was das betrifft, ich kenne so gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists möglich, daß du im Ernste gesprochen hast?« »Ich habe nach meinen Grundsätzen gesprochen. Die Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr Nachsicht haben) nötig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die unsre Begierden erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur geschah, um gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen wären, so siehst du, daß der Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen.« »O Hippias!« rief Agathon hier aus, »ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu ertränken? Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tyger und Krokodille sind, verwandeln würden? Du spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und Güte zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Güte zu finden ist. Du erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher Vollkommenheit für Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten Überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser Blendwerke zu zerstreuen. Laß die Tugend immer eine Schwärmerei sein, diese Schwärmerei macht mich glücklich, und würde alle Menschen glücklich, und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsätze, und diejenige, welche sie ausüben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt, Elend und Verderbnis ausbreiteten.«

Agathon wurde ganz glühend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den zürnenden Apollo zu malen, hätte sein Gesicht in diesem Augenblick zum Urbild nehmen müssen. Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit einem Lächeln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht hätte, und sagte ohne seine Stimme zu verändern: »Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias, und du wirst von meinen Verführungen weiter nichts zu besorgen haben. Die gesunde Vernunft ist nicht für so warme Köpfe gemacht, wie der deinige. Wie leicht, wenn du mich zu verstehen fähig gewesen wärest, hättest du dir den Einwurf selbst beantworten können, daß die Grundsätze der Sophisten und Weltleute verderblich wären, wenn sie allgemein würden? Die Natur hat schon davor gesorgt, daß sie nicht allgemein werden, – doch ich würde mir selbst lächerlich sein, wenn ich deine begeisterte Apostrophe beantworten, oder dir zeigen wollte, wie sehr auch der Affekt der Tugend das Gesicht verfälschen kann. Sei tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beifall der Geister, und die Gunst der ätherischen Schönen zu bewerben; rüste dich, dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieser Unterwelt zuziehen wird, großmütig entgegen zu gehen, und tröste dich, wenn du Leute siehst, die niedrig genug sind, sich an irdischen Glückseligkeiten zu weiden, mit dem frommen Gedanken, daß sie in dem andern Leben, wo die Reihe an dich kommt, glücklich zu sein, sich in den Flammen des Phlegeton wälzen werden.«

Mit diesen Worten stund Hippias auf, warf einen verächtlichmitleidigen Blick auf den Agathon, und wandte ihm den Rücken zu, um ihm mit einer unter seines gleichen gewöhnlichen Höflichkeit zu verstehen zu geben, daß er sich zurückziehen könne.


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