Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Diese Betrachtungen führten unsern Helden bis an die äußerste Spitze des tiefen Abgrunds, der zwischen dem System der Tugend, und dem System des Hippias liegt; aber der erste schüchterne Blick, den er hinunter wagte, war genug, ihn mit Entsetzen zurückfahren zu machen. Die Begriffe des wesentlichen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und die Ideen des sittlichen Schönen, hatten zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, waren zu genau mit den zartesten Fibern derselben verflochten und zusammengewachsen, als daß es möglich gewesen wäre, daß irgend eine zufällige Ursache, so stark sie immer auf seine Einbildung und auf seine Leidenschaften würken mochte, sie hätte ausreuten können. Die Tugend hatte bei ihm keinen anderen Sachwalter nötig als sein eignes Herz. In eben dem Augenblick, da eine nur allzugegründete Misanthropie ihm die Menschen in einem verächtlichen Lichte, und vielleicht wie gewisse Spiegel, um ein gutes Teil häßlicher zeigte, als sie würklich sind, fühlte er mit der vollkommensten Gewißheit, daß er, um die Krone des Monarchen von Persien selbst, weder Hippias noch Philistus sein wollte; und daß er, sobald er sich wieder in die nämliche Umstände gesetzt sähe, eben so handeln würde, wie er gehandelt hatte, ohne sich durch irgend eine Folge davon erschrecken zu lassen. Hingegen konnte es nicht wohl anders sein, als daß diese Betrachtungen, denen er sich seit seinem Fall, und sonderheitlich während seiner Gefangenschaft, fast gänzlich überließ, den Überrest des moralischen Enthusiasmus, von dem wir ihn bei seiner Flucht aus Smyrna erhitzt gesehen haben, vollends verzehren mußten. Der Gedanke für das Glück der Menschen, für das allgemeine Beste der ganzen Gattung zu arbeiten, verliert seinen mächtigen Reiz, sobald wir klein von dieser Gattung denken. Die Größe dieses Vorhabens ist es eigentlich, was den Reiz derselben ausmacht – und diese schrumpft natürlicher Weise sehr zusammen, sobald wir uns die Menschen als eine Herde von Kreaturen vorstellen, deren größester Teil seine ganze Glückseligkeit, den letzten Endzweck aller seiner Bemühungen auf seine körperliche Bedürfnisse einschränkt, und dabei dumm genug ist, durch eine niederträchtige Unterwürfigkeit unter eine kleine Anzahl der schlimmsten seiner Gattung, sich fast immer in den Fall zu setzen, auch dieser bloß tierischen Glückseligkeit nur selten oder auf kurze Zeit, bittweise oder verstohlner Weise habhaft zu werden. »Jedes Tier sucht seine Nahrung – gräbt sich eine Höhle, oder baut sich ein Nest – begattet sich – schläft – und stirbt. Was tut der größeste Teil der Menschen mehr? Das beträchtlichste Geschäfte, das sie von den übrigen Tieren voraus haben, ist die Sorge sich zu bekleiden, welche die hauptsächlichste Beschäftigung vieler Millionen ausmacht. Und ich sollte«, (sagte Agathon in einer von seinen schlimmsten Launen zu sich selbst) »ich sollte meine Ruhe, meine Vergnügungen, meine Kräfte, mein Dasein der Sorge aufopfern, damit irgend eine besondere Herde dieser edeln Kreaturen besser esse, schöner wohne, sich häufiger begatte, sich besser kleide, und weicher schlafe als sie zuvor taten, oder als andere ihrer Gattung tun? – Ist das nicht alles was sie wünschen? Und gebrauchen sie mich dazu? Was sollte mich bewegen, mir diese Verdienste um sie zu machen? Ist vielleicht nur ein einziger unter ihnen, der bei allem was er unternimmt, eine edlere Absicht hat, als seine eigne Befriedigung? Bin ich ihnen etwan einige Hochachtung oder Dankbarkeit dafür schuldig, daß sie für meine Bedürfnisse oder für mein Vergnügen arbeiten? Ich bin schuldig, sie dafür zu bezahlen; das ist alles was sie wollen, und alles was sie an mich fordern können.«

»Himmel!« – so deucht mich, höre ich hier einige rührende Stimmen ausrufen – »ist's möglich? Konnte Agathon so denken? So klein, so unedel –« »so kalt, meine schönen Damen, so kalt! Und sie werden mir gestehen, daß man in einer Einkerkerung von zween oder drei Monaten, die man sich ganz allein durch große und edle Gesinnungen zugezogen, gute Gelegenheit hat, sich von der Hitze der großmütigen Schwärmerei ein wenig abzukühlen –« »Aber was wird nun aus der Tugend unsers Helden werden? – Was ist die Tugend ohne dieses schöne Feuer, ohne diese erhabene Begeisterung, welche den Menschen über die übrigen seiner Gattung, welche ihn über sich selbst erhöht, und zu einem allgemeinen Wohltäter, zu einem Genius, zu einer subalternen Gottheit macht?« – »Wir gestehen es, sie ist ohne diese ätherische Flamme ein sehr unansehnliches, sehr wenig glänzendes Ding –« »Und wie traurig ist es, die Tugend unsers Helden gerade da unterliegen zu sehen, wo sie sich in ihrer größesten Stärke zeigen sollte? – Wie? – erliegen, weil man Widerstand findet? Die gute Sache aufgeben, weil man, und vielleicht ohne Not, an einem glücklichen Ausgang verzweifelt? Was ist denn die wahre Tugend anders, als ein immerwährender Streit mit den Leidenschaften, Torheiten und Lastern – in uns, und außer uns?« – »Vortrefflich! – und in Bunyans ›Reise‹ so wohl ausgeführt, meine Herren, daß ihr uns hier weiter nichts zu sagen braucht. Es ist bedaurlich, daß unser Held seine Rolle nicht besser behauptet – Aber allem Ansehen nach, war er wohl niemals ein Held – und wir hatten Unrecht ihm einen so ehrenvollen Namen beizulegen –« »Das eben nicht; er fing vortrefflich an; er war ein Held, da er sich den zudringlichen Liebkosungen der verführischen Pythia entriß –« »Das konnte die scheue und schamhafte Unschuld der unbärtigen Jugend getan haben; und liebte er damals nicht die schöne Psyche?« – »So verdiente er doch ein Held genennt zu werden, als er den Mut hatte, sich eines verlassenen Unschuldigen gegen eine mächtige Partei anzunehmen?« – »Ihr könntet vielleicht eben soviel aus Ehrgeiz – oder aus Haß gegen einen der Feinde eures Klienten – oder aus einer geheimen Absicht auf die Gemahlin eures Klienten – oder um vierzig tausend Livres aus der Kasse eures Klienten tun? – und ihr hättet in keinem von diesen Fällen eine Heldentat getan. Daß Agathon damals aus edeln Gesinnungen handelte, wissen wir – von ihm selbst; und wir haben Gründe, es ihm zu glauben – aber er konnte sich mit der größesten Wahrscheinlichkeit einen glänzenden Sukzeß versprechen; und was für ein Triumph war das für die Ruhmbegierde eines Jünglings von zwanzig Jahren?« – »Nun, so war er doch gewiß ein Held, da er gleichmütig und unerschütterlich sich dem ungerechten Verbannungs-Urteil der Athenienser unterzog, und lieber das äußerste erdulden, als seine Lossprechung einer Niederträchtigkeit zu danken haben wollte! – So war er's damals, da er von sich sagen konnte: ›Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt.‹« – »In der Tat, er war in diesem Augenblick groß; aber wir müssen nicht vergessen, daß er sich damals in einem außerordentlichen Zustande, auf dem äußersten Grade dieses Enthusiasmus der Tugend befand, der den Menschen vergessen macht, daß er nur ein Mensch ist. Diese Art von Heldentum daurt natürlicher Weise nicht länger, als der Paroxysmus des Affekts. Agathon war sich damals, als er so dachte, einer unbefleckten Tugend bewußt; und zu was für einem Stolz mußte dieses Gefühl seine Seele in einem Augenblick aufschwellen, da sich ganz Athen zusammenverschworen zu haben schien, ihn zu demütigen; in einem Augenblick, da dieser Stolz der ganzen Last seines Unglücks das Gleichgewicht halten mußte, und ihm den Triumph verschaffte, die Herren über sein Schicksal die ganze Obermacht, die ihm seine Tugend über sie gab, fühlen zu lassen? Diese Art von Stolz gleicht in ihren Würkungen der Wut eines tapfern Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird. Die Gewißheit des Todes, in den er sich hineinstürzt, macht, daß er Taten eines Unsterblichen tut. Aber Agathon hatte dermalen nicht mehr soviel Ursache, auf seine Tugend stolz zu sein. Eben diese enthusiastische Gemüts-Beschaffenheit, welche ihm bei seiner Verbannung zu Athen die Gesinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu Smyrna den Schwachheiten eines gemeinen Menschen ausgesetzt. Er dachte nicht mehr so groß von sich selbst, und da ihm nun, in ähnlichen Umständen, dieser heroische Stolz nicht mehr zu statten kommen konnte, so mußte sich derselbe notwendig in diejenige Art von Misanthropie verwandeln, welche sich über die ganze Gattung erstreckt. In diesem Stücke, wie in vielen andern, ist die Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen. Wir denken so lange groß von der menschlichen Natur, als wir groß von uns selber denken; unsere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menschen oder kleinere Gesellschaften zum Gegenstand. Aber sobald wir in unsrer Meinung von uns selbst fallen, sinkt durch eine innerliche Gewalt über welche wir nicht Meister sind, unsre Meinung von der ganzen Gattung zu welcher wir gehören; wir verwundern uns, daß wir nicht eher wahrgenommen, daß die Torheiten, die Laster derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der Natur selbst sind, denen (mehr oder weniger, auf diese oder eine andre Art, je nachdem Zeit, Umstände, Temperament und Gewohnheit es mit sich bringen) ein jeder unterworfen ist; je genauer wir die Menschen untersuchen, je mehr Gründe finden wir, so zu denken; und diese Denkungsart flößet uns, zu eben der Zeit, da sie uns eine gewisse Geringschätzung gegen die ganze Gattung gibt, mehr Nachsicht gegen die Fehler und Gebrechen der einzelnen Personen, und besondern Gesellschaften, mit denen wir in Verhältnis stehen, ein; so daß wir das, was wir an jenem tugendhaften Schwulst, welchen die Einfalt übereilter Weise für die Tugend selbst hält, verlieren, zu eben der Zeit an den notwendigsten und liebenswürdigsten Tugenden, an Geselligkeit und Mäßigung gewinnen: Tugenden, welche zwar nichts blendendes haben, aber desto mehr Wärme geben, und uns desto geschickter machen, unter Geschöpfen zu leben, welche ihrer alle Augenblicke benötiget sind.

Es ist ein gemeiner und oft getadelter Fehler des menschlichen Geschlechts, daß sie das Wunderbare mehr lieben als das Natürliche, und das Glänzende mehr als was nicht so gut in die Augen fällt, wenn es gleich brauchbarer und dauerhafter ist. Diese Art von dem Werte der Sachen zu urteilen ist nirgends betrüglicher, als wenn sie auf moralische Gegenstände angewendet wird. Der Schluß, den man öfters von der Erhabenheit der Begriffe und Empfindungen einer Person, und von der Fertigkeit eine gewisse Sprache der Begeistrung zu reden, welche (wie die homerische Göttersprache) allen Dingen andre Namen gibt, ohne daß die Dinge selbst darum etwas anders sind, als sie unter ihren gewöhnlichen Namen sind, auf eine außerordentliche Vortrefflichkeit des Charakters dieser Person zu machen pflegt, ist eben so falsch, als das Vorurteil, welches viele gegen eine gelassene und bescheidene Tugend gefaßt haben, welche, ohne sich durch feirliches Gepränge, hochfliegende Ideen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der menschlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen dieselben anzukündigen, nur darum weniger zu versprechen scheint, um im Werke selbst desto mehr zu leisten. Dieses vorausgesetzt könnten wir vielleicht mit gutem Grunde behaupten, daß die Tugend unsers Helden, durch die neuerliche Veränderung, die in seiner Denkensart vorging, in verschiedenen Betrachtungen, große Vorteile erhalten habe. Aber (wir wollen es nur gestehen) was sie dabei auf einer Seite gewann, verlor sie auf einer andern wieder. Die Begriffe, welche wir uns von unsrer eignen Natur machen, haben einen entscheidenden Einfluß auf alle unsre übrigen Begriffe. So irrig, so lächerlich und kindisch es ist, wenn wir uns einbilden (und doch bilden sich das die Meisten ein) daß der Mensch die Hauptfigur in der ganzen Schöpfung, und alles andere bloß um seinetwillen da sei – So natürlich ist hingegen, daß er es in dem besondern System seiner eignen Ideen ist. In dieser kleinen Welt ist und bleibt er, er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunkt – der Held des Stücks, auf den alles sich bezieht, und dessen Glück oder Fall alles entscheidet. Alles ist groß, wichtig, interessant, wenn die Hauptperson wichtig ist, und eine große Rolle zu spielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held ist, was kann das ganze Stück anders sein, als eine Farce


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