Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Viertes Kapitel

Eine kleine Abschweifung

Unsere Leser werden, wenn sie diese Geschichte mit etwas weniger Flüchtigkeit als einen Französischen Roman du jour zu lesen würdigen, bemerkt haben, daß die Wiederherstellung unsers Helden aus einem Zustande, in welchem er diesen Namen allerdings nicht verdient hat, eigentlich weder seiner Vernunft noch seiner Liebe zur Tugend zu zuschreiben sei; so angenehm es uns auch gewesen wäre, der einen oder der andern die Ehre einer so schönen Kur allein zu zuwenden. Mit aller der aufrichtigen Hochachtung, welche wir für beide hegen, müssen wir gestehen, daß wenn es auf sie allein angekommen wäre, Agathon noch lange in den Fesseln der schönen Danae hätte liegen können; ja wir haben Ursache zu glauben, daß die erste gefällig genug gewesen wäre, durch tausend schöne Vorspiegelungen und Schlüsse die andre nach und nach gänzlich einzuschläfern, oder vielleicht gar zu einem gütlichen Vergleich mit der Wollust, ihrer natürlichen und gefährlichsten Feindin, zu bewegen. Wir leugnen hiemit nicht, daß sie das ihrige zur Befreiung unsers Freundes beigetragen; indessen ist doch gewiß, daß Eifersucht und beleidigte Eigenliebe das meiste getan haben, und daß also, ohne die wohltätigen Einflüsse zwoer so verschreiter Leidenschaften, der ehmals so weise, so tugendhafte Agathon ein glorreich angefangenes Leben, allem Anscheinen nach, zu Smyrna unter den Rosen der Venus unrühmlich hinweggescherzet haben würde.

Wir wollen durch diese Bemerkung dem großen Haufen der Moralisten eben nicht zugemutet haben, gewisse Vorurteile fahren zu lassen, welche sie von ihren Vorgängern, und diese, wenn wir um einige Jahrhunderte bis zur Quelle hinaufsteigen wollen, von den Mönchen und Einsamen, womit die Morgenländer von jeher unter allen Religionen angefüllt gewesen sind, durch eine den Progressen der gesunden Vernunft nicht sehr günstige Überlieferung geerbt zu haben scheinen. Hingegen würde uns sehr erfreulich sein, wenn diese gegenwärtige Geschichte die glückliche Veranlassung geben könnte, irgend einen von den echten Weisen unsrer Zeit aufzumuntern, mit der Fackel des Genie in gewisse dunkle Gegenden der Moral-Philosophie einzudringen, welche zu beträchtlichem Abbruch des allgemeinen Besten, noch manches Jahr-Tausend unbekanntes Land bleiben werden, wenn es auf die vortrefflichen Leute ankommen sollte, durch deren unermüdeten Eifer seit geraumen Jahren die deutschen Pressen unter einem in alle mögliche Formen gegossenen Mischmasch unbestimmter und nicht selten willkürlicher Begriffe, schwärmerischer Empfindungen, andächtiger Wortspiele, grotesker Charaktern, und schwülstiger Deklamationen zu seufzen gezwungen werden. Für diejenigen, welche unsern frommen Wunsch zu erfüllen geschickt sind, uns darüber deutlicher zu erklären, oder ihnen den Weg zur Entdeckung dieser moralischen Terra incognita genauer andeuten zu wollen, als es hie und da in dieser Geschichte geschehen sein mag, würde einer Vermessenheit gleich sehen, wozu uns die Empfindung unsrer eignen Schwäche oder vielleicht unsre Trägheit wenig innerliche Versuchung läßt. Wir lassen es also bei diesem kleinen Winke bewenden, und begnügen uns, da wir nunmehr, allem Ansehen nach, unsern Helden aus der größesten der Gefahren, worin seine Tugend jemals geschwebt hat, oder künftig geraten mag, glücklich herausgeführt haben, einige Betrachtungen darüber anzustellen – doch nein; wir bedenken uns besser – was für Betrachtungen könnten wir anstellen, daß nicht diejenige welche Agathon selbst, sobald er Muße dazu hatte, über sein Abenteur machte, um soviel natürlicher und interessanter sein sollten, als er sich würklich in dem Falle befand, worein wir uns erst durch Hülfe der Einbildungs-Kraft setzen müßten, und die Gedanken sich ihm freiwillig darboten, ja wohl wider Willen aufdrangen, welche wir erst aufsuchen müßten. Wir wollen also warten, bis er sich in der ruhigern Gemütsverfassung befinden wird, worin die sich selbst wiedergegebene Seele aufgelegt ist, das Vergangene mit prüfendem Auge zu übersehen. Nur mög' es uns erlaubt sein, eh wir unsre Erzählung fortsetzen, zum besten unsrer jungen Leser, zu welchen wir uns nicht entbrechen können eine vorzügliche Zuneigung zu tragen, einige Anmerkungen zu machen, für welche wir keinen schicklichern Platz wissen, und welche diejenigen, die wie Shah Baham keine Liebhaber vom moralisieren sind, füglich überschlagen, oder, bis wir damit fertig sind, sich indessen, wenn es ihnen beliebt, die Zeit damit vertreiben können, die Spitze ihrer Nase anzuschauen.

»Was würdet ihr also dazu sagen, meine jungen Freunde, wenn ich euch mit der Amts-Miene eines Sittenlehrers auf der Catheder, in geometrischer Methode beweisen würde, daß ihr zu einer vollkommnen Unempfindlichkeit gegen diese liebenswürdige Geschöpfe verbunden seid, für welche eure Augen, euer Herz, und eure Einbildungs-Kraft sich vereinigen, euch einen Hang einzuflößen, der, so lang er in einem unbestimmten Gefühl besteht, euch immer beunruhiget, und so bald er einen besondern Gegenstand bekömmt, die Seele aller eurer übrigen Triebe wird?

Daß wir einen solchen Beweis führen, und was noch ein wenig grausamer ist, daß wir euch die Verbindlichkeit aufdringen könnten, keines dieser anmutsvollen Geschöpfe, so vollkommen es immer in euern bezauberten Augen sein möchte, eher zu lieben, bis es euch befohlen wird, daß ihr sie lieben sollt – ist eine Sache, die euch nicht unbekannt sein kann. Aber eben deswegen, weil es so oft bewiesen wird, können wir es als etwas ausgemachtes voraussetzen; und uns deucht, die Frage ist nun allein, wie es anzufangen sei, um euer widerstrebendes Herz für Pflichten gelehrig zu machen, gegen welche ihr tausend scheinbare Einwendungen zu machen glaubt, wenn ihr uns am Ende doch nichts anders gesagt habt, als ihr habet keine Lust, sie auszuüben.

Die Auflösung dieser Frage deucht uns die große Schwierigkeit, worin uns die gemeinen Moralisten mit einer Gleichgültigkeit stecken lassen, die desto unmenschlicher ist, da wenige unter ihnen sind, welche nicht auf eine oder die andere Art erfahren hätten, daß es nicht so leicht sei einen Feind zu schlagen, als zu beweisen, daß er geschlagen werden solle.

Indessen nun, bis irgend ein wohltätiger Genius ein sicheres, kräftiges und allgemeines Mittel ausfündig gemacht haben wird, diese Schwierigkeiten zu heben, erkühnen wir uns, euch einen Rat zu geben, der zwar weder allgemein noch ohne alle Ungelegenheiten ist, aber doch, alles wohl überlegt, euch bis zu Erfindung jenes unfehlbaren moralischen Laudanums, in mehr als einer Absicht von beträchtlichem Nutzen sein könnte.

Wir setzen hiebei zwei gleich gewisse Wahrheiten voraus: die eine; daß die meisten jungen Leute, und vielleicht auch ein guter Teil der Alten, entweder zur Zärtlichkeit oder doch zur Liebe im popularen Sinn dieses Wortes, einen stärkern Hang als zu irgend einer andern natürlichen Leidenschaft haben. Die andere: daß Socrates, in der Stelle, deren in dem vorigen Kapitel erwähnt worden, die schädlichen Folgen der Liebe, in so ferne sie eine heftige Leidenschaft für irgend einen einzelnen Gegenstand ist; (denn von dieser Art von Liebe ist hier allein die Rede) nicht höher getrieben habe, als die tägliche Erfahrung beweiset. ›Du Unglückseliger!‹ (sagt er zu dem jungen Xenophon, welcher nicht begreifen konnte, daß es eine so gefährliche Sache sei, einen schönen Knaben, oder nach unsern Sitten zu sprechen, ein schönes Mädchen zu küssen; und leichtsinnig genug war zu gestehen, daß er sich alle Augenblicke getraute, dieses halsbrechende Abenteuer zu unternehmen) ›was meinst du daß die Folgen eines solchen Kusses sein würden? Glaubst du, du würdest deine Freiheit behalten, oder nicht vielmehr ein Sklave dessen werden, was du liebest? wirst du nicht vielen Aufwand auf schädliche Wollüste machen? Meinst du, es werde dir viel Muße übrig bleiben, dich um irgend etwas großes und Nützliches zu bekümmern, oder du werdest nicht vielmehr gezwungen sein, deine Zeit auf Beschäftigungen zu wenden, deren sich so gar ein Unsinniger schämen würde?‹ – Man kann die Folgen dieser Art von Liebe, in so wenigen Worten nicht vollständiger beschreiben – Was hälf' es uns, meine Freunde, wenn wir uns selbst betrügen wollten? Selbst die unschuldigste Liebe, selbst diejenige, welche in jungen enthusiastischen Seelen so schön mit der Tugend zusammen zustimmen scheint, führt ein schleichendes Gift bei sich, dessen Würkungen nur desto gefährlicher sind, weil es langsam und durch unmerkliche Grade würkt – Was ist also zu tun? – Der Rat des alten Cato, oder der, welchen Lucrez nach den Grundsätzen seiner Sekte gibt, ist, seinen Folgen nach, noch schlimmer als das Übel selbst. So gar die Grundsätze und das eigne Beispiel des weisen Socrates sind in diesem Stücke nur unter gewissen Umständen tunlich – und (wenn wir nach unsrer Überzeugung reden sollen) wir wünschten, aus wahrer Wohlmeinenheit gegen das allgemeine System, nichts weniger als daß es jemals einem Socrates gelingen möchte, den Amor völlig zu entgöttern, seiner Schwingen und seiner Pfeile zu berauben, und aus der Liebe eine bloße regelmäßige Stillung eines physischen Bedürfnisses zu machen. Der Dienst, welcher der Welt dadurch geleistet würde, müßte notwendig einen Teil der schlimmen Würkung tun, welche auf eine allgemeine Unterdrückung der Leidenschaften in der menschlichen Gesellschaft erfolgen müßte.

Hier ist also unser Rat – die Tartüffen, und die armen Köpfe, welche die Welt bereden wollen, die Exkremente ihres milzsüchtigen Gehirns für Reliquien zu küssen, mögen ihre Köpfe schütteln so stark sie können! – Meine jungen Freunde, beschäftiget euch mit den Vorbereitungen zu eurer Bestimmung – oder mit ihrer würklichen Erfüllung. Bewerbet euch um die Verdienste, von denen die Hochachtung der Vernünftigen und der Nachwelt die Belohnung ist; und um die Tugend, welche allein den innerlichen Wohlstand unsers Wesens ausmacht –« »Haltet ein, Herr Sittenlehrer«, rufet ihr; »das ist nicht was wir von euch hören wollten, alles das hat uns Claville besser gesagt, als ihr es könntet, und Abbt besser als Claville – euer Mittel gegen die Liebe?« – »Mittel gegen die Liebe? dafür behüte uns der Himmel! – oder wenn ihr dergleichen wollt, so findet ihr sie bei allen moralischen Quacksalbern, und – in allen Apotheken. Unser Rat geht gerade auf das Gegenteil. Wenn ihr ja lieben wollt oder müßt – nun, so kommt alles, glaubet mir, auf den Gegenstand an – Findet ihr eine Aspasia, eine Leontium, eine Ninon – so bewerbet euch um ihre Gunst, und, wenn ihr könnt, um ihre Freundschaft. Die Vorteile, die ihr daraus für euern Kopf, für euern Geschmack, für eure Sitten – ja, meine Herren, für eure Sitten, und selbst für die Pflichten eurer Bestimmung, von einer solchen Verbindung ziehen werdet, werden euch für die Mühe belohnen –« » Gut! Aspasien! Ninons! die müßten wir im ganzen Europa aufsuchen –« »Das raten wir euch nicht; die Rede ist nur von dem Falle, wenn ihr sie findet –« » Aber, wenn wir keine finden?« – »So suchet die vernünftigste, tugendhafteste und liebenswürdigste Frau auf, die ihr finden könnet – Hier erlauben wir euch zu suchen, nur nicht (um euch einen Umweg zu ersparen) unter den Schönsten; ist sie liebenswürdig, so wird sie euch desto stärker einnehmen; ist sie tugendhaft, so wird sie euch nicht verführen; ist sie klug, so wird sie sich von euch nicht verführen lassen. Ihr könnet sie also ohne Gefahr lieben –« » Aber dabei finden wir unsre Rechnung nicht; die Frage ist, wie wir uns von ihr lieben machen –« »Allerdings, das wird die Kunst sein; der Versuch ist euch wenigstens erlaubt; und wir stehen euch dafür, wenn sie und ihr jedes das seinige tut, so werdet ihr euern Roman zehen Jahre durch in einer immer nähernden Linie fort führen, ohne daß ihr dem Mittelpunkt näher sein werdet als anfangs – Und das ist alles, was wir euch sagen wollten.«


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