Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Fünftes Kapitel

Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall, der seine Entschließungen bestimmt

Wir kommen zu unserm Agathon zurück, den wir zu Ende des dritten Kapitels auf dem Wege nach dem Hafen von Smyrna verlassen haben.

Man konnte nicht entschlossener sein, als er es beim Ausgehen war; das erste Fahrzeug, das er zum Auslaufen fertig antreffen würde, zu besteigen, und hätte es ihn auch zu den Antipoden führen sollen. Allein – so groß ist die Schwäche des menschlichen Herzens! – da er angelangt war, und eine Menge von Schiffen vor den Augen hatte, welche nur auf das Zeichen den Anker zu heben wartete: So hätte wenig gefehlt, daß er wieder umgekehrt wäre, um, anstatt vor der schönen Danae zu fliehen, ihr mit aller Sehnsucht eines entflammten Liebhabers in die Arme zu fliegen.

Doch, wir wollen billig sein; eine Danae verdiente wohl, daß ihn der Entschluß sie zu verlassen, mehr als einen flüchtigen Seufzer kostete; und es war sehr natürlich, daß er, im Begriff seinen tugendhaften Vorsatz ins Werk zu setzen, einen Blick ins Vergangene zurückwarf, und sich diese Glückseligkeiten lebhafter vorstellte, denen er nun freiwillig entsagen wollte, um sich von neuem, als ein im Ozean der Welt herumtreibender Verbannter, den Zufällen einer ungewissen Zukunft auszusetzen. Dieser letzte Gedanke machte ihn stutzen; aber er wurde bald von andern Vorstellungen verdrängt, die sein gefühlvolles Herz weit stärker rührten als alles was ihn allein und unmittelbar anging. Er setzte sich an die Stelle der Danae. Er malte sich ihren Schmerz vor, wenn sie bei ihrer Wiederkunft seine Flucht erfahren würde. Sie hatte ihn so zärtlich geliebt! – Alles Böse, was ihm Hippias von ihr gesagt, alles was er selbst hinzugedacht hatte, konnte in diesem Augenblick die Stimme des Gefühls nicht übertäuben, welches ihn überzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden war. Wenn die Größe unsrer Liebe das natürliche Maß unsrer Schmerzen über den Verlust des Geliebten ist, wie unglücklich mußte sie werden! Das Mitleiden, welches diese Vorstellung in ihm erregte, machte sie wieder zu einem interessanten Gegenstand für sein Herz. Ihr Bild stellte sich ihm wieder mit allen den Reizungen dar, deren zauberische Gewalt er so oft erfahren hatte. Was für Erinnerungen! Er konnte sich nicht erwehren, ihnen etliche Augenblicke nachzuhängen; und fühlte immer weniger Kraft, sich wieder von ihnen loszureißen. Seine schon halb überwundene Seele widerstand noch, aber immer schwächer. Amor, um desto gewisser zu siegen, verbarg sich unter die rührende Gestalt des Mitleidens, der Großmut, der Dankbarkeit – Wie? er sollte eine so inbrünstige Liebe mit so schnödem Undank erwidern? Einer Geliebten, in dem Augenblick, da sie in die getreue Arme eines Freundes zurück zu eilen glaubt, einen Dolch in diesen Busen stoßen, welcher sich von Zärtlichkeit überwallend an den seinigen drücken will? – in der Tat, eine rührende Vorstellung; und wie viel mehr wurde sie es noch durch die unvermerkt sich einschleichende Erinnerung, was für ein Busen das war! – Sie verlassen; sich heimlich von ihr hinweg stehlen – würde sie den Tod von seiner Hand, in Vergleichung mit einer solchen Grausamkeit, nicht als eine Wohltat angenommen haben? So würde es ihm gewesen sein, wenn er sich an ihren Platz setzte; und das tut die Leidenschaft allezeit, wenn sie ihren Vorteil dabei findet.

Allen diesen zärtlichen Bildern stellte sein gefaßter Entschluß zwar die Gründe, welche wir kennen, entgegen: Aber diese Gründe hatten von dem Augenblick an, da sich sein Herz wieder auf die Seite der schönen Feindin seiner Tugend neigte, die Hälfte von ihrer Stärke verloren. Die Gefahr war dringend: jede Minute war, so zu sagen, entscheidend. Denn die Wiederkunft der Danae war ungewiß; und es ist nicht zu zweifeln, daß sie, wofern sie noch zu rechter Zeit angelangt wäre, Mittel gefunden hätte, alle die widrigen Eindrücke der Verräterei des Sophisten aus einem Herzen, welches so viel Vorteil dabei hatte sie unschuldig zu finden, auszulöschen.

Ein glücklicher Zufall – doch, warum wollen wir dem Zufall zuschreiben, was uns beweisen sollte, daß eine unsichtbare Macht ist, welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden Tugend die Hand zu reichen – fügte es daß Agathon, in diesem zweifelhaften Augenblick unter dem Gedränge der Fremden, welche die Handelschaft von allen Welt-Gegenden her nach Smyrna führte, einen Mann erblickte, den er zu Athen vertraulich gekannt, und durch beträchtliche Dienstleistungen sich zu verbinden Gelegenheit gehabt hatte. Es war ein Kaufmann von Syracus, der mit den Geschicklichkeiten seiner Profession, einen rechtschaffenen Charakter, und, was bei uns, in der einen Hälfte des deutschen Reichs wenigstens, eine große Seltenheit ist, mit beiden die Liebe der Musen verband; Eigenschaften, welche ihn dem Agathon desto angenehmer, so wie sie ihn desto fähiger gemacht hatten, den Wert Agathons zu schätzen. Der Syracusaner bezeugte die lebhafteste Freude über eine so angenehm überraschende Zusammenkunft, und bot unserm Helden seine Dienste mit derjenigen Art an, welche beweist, daß man begierig ist, sie angenommen zu sehen; denn Agathons Verbannung von Athen war eine zu bekannte Sache, als daß sie in irgend einem Teil von Griechenlande hätte unbekannt sein können.

Nach einigen Fragen, und Gegenfragen, wie sie unter Freunden gewöhnlich sind, die sich nach einer geraumen Trennung unvermutet zusammenfinden, berichtete ihm der Kaufmann als eine Neuigkeit, welche würklich die Aufmerksamkeit aller Europäischen Griechen beschäftigte, die außerordentliche Gunst, worin Plato bei dem jüngern Dionysius zu Syracus stehe; die philosophische Bekehrung dieses Prinzen; und die großen Erwartungen, mit welchen Sicilien den glückseligen Zeiten entgegensehe, die eine so wundervolle Veränderung verspreche. Er endigte damit, daß er den Agathon einlud, wofern ihn keine andre Angelegenheit in Smyrna zurückhielte, ihm nach Syracus zu folgen, welches nunmehr im Begriff sei, der Sammelplatz der Weisesten und Tugendhaftesten zu werden. Er meldete ihm dabei, daß sein Schiff, welches er mit Asiatischen Waren beladen hatte, bereit sei, noch diesen Abend abzusegeln.

Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, richtet keine plötzlichere Entzündung an, als die Revolution war, die bei dieser Nachricht in unserm Helden vorging. Seine ganze Seele loderte, wenn wir so sagen können, in einen einzigen Gedanken auf – Aber was für ein Gedanke war das! – Plato, ein Freund des Dionysius – Dionysius, berüchtiget durch die ausschweifendeste Lebens-Art, in welcher sich eine durch unumschränkte Gewalt übermütig gemachte Jugend dahin stürzen kann – der Tyrann Dionysius, ein Liebhaber der Philosophie, ein Lehrling der Tugend – und Agathon, sollte die Blüte seines Lebens in müßiger Wollust verderben lassen? Sollte nicht eilen, dem Göttlichen Weisen, dessen erhabene Lehren er zu Athen so rühmlich auszuüben angefangen hatte, ein so glorreiches Werk vollenden zu helfen, als die Verwandlung eines zügellosen Tyrannen in einen guten Fürsten, und die Befestigung der allgemeinen Glückseligkeit einer ganzen Nation? – was für Arbeiten! was für Aussichten für eine Seele wie die seinige! Sein ganzes Herz wallte ihnen entgegen; er fühlte wieder, daß er Agathon war – fühlte diese moralische Lebens-Kraft wieder, die uns Mut und Begierden gibt, uns zu einer edeln Bestimmung geboren zu glauben; und diese Achtung für sich selbst, welche eine von den stärksten Schwingfedern der Tugend ist. Nun brauchte es keinen Kampf, keine Bestrebung mehr, sich von Danae loszureißen, um mit dem Feuer eines Liebhabers, der nach einer langen Trennung zu seiner Geliebten zurückkehrt, sich wieder in die Arme der Tugend zu werfen. Sein Freund von Syracus hatte keine Überredungen nötig; Agathon nahm sein Anerbieten mit der lebhaftesten Freude an. Da er von allen Geschenken, womit ihn die freigebige Danae überhäuft hatte, nichts mit sich nehmen wollte, als das wenige, was zu den Bedürfnissen seiner Reise unentbehrlich war, so brauchte er wenig Zeit, um reisefertig zu sein. Die günstigsten Winde schwellten die Segel, welche ihn aus dem verderblichen Smyrna entfernen sollten; und so herrlich war der Triumph, den die Tugend in dieser glücklichen Stunde über ihre Gegnerin erhielt, daß er die anmutsvollen Asiatischen Ufer aus seinen Augen verschwinden sah, ohne den Abschied, den er auf ewig von ihnen nahm, nur mit einer einzigen Träne zu zieren.

»So? – Und was wurde nun« (so deucht mich hör' ich irgend eine junge Schöne fragen, der ihr Herz sagt, daß sie es der Tugend nicht verzeihen würde, wenn sie ihr ihren Liebhaber so unbarmherzig entführen wollte) »- was wurde nun aus der armen Danae? Von dieser war nun die Rede nicht mehr? Und der tugendhafte Agathon bekümmerte sich wenig darum, ob seine Untreue, ein Herz welches ihn glücklich gemacht hatte, in Stücken brechen werde oder nicht?« – »Aber, meine schöne Dame, was hätte er tun sollen, nachdem er nun einmal entschlossen war? Um nach Syracus zu gehen mußte er Smyrna verlassen; und nach Syracus mußte er doch gehen, wenn sie alle Umstände unparteiisch in Betrachtung ziehen; denn sie werden doch nicht wollen, daß ein Agathon sein ganzes Leben wie ein Veneris passerculus (lassen Sie Sich das von Ihrem Liebhaber verdeutschen) am Busen der zärtlichen Danae hätte hinweg buhlen sollen? Und sie nach Syracus mit zunehmen, war aus mehr als einer Betrachtung auch nicht ratsam; gesetzt auch, daß sie um seinetwillen Smyrna hätte verlassen wollen. Oder meinen Sie vielleicht er hätte warten, und die Einwilligung seiner Freundin zu erhalten suchen sollen?« – Das wäre alles gewesen, was er hätte tun können, wenn er eine geheime Absicht gehabt hätte, da zu bleiben. Alles wohl überlegt, konnte er also, deucht uns, nichts mehr tun als was er tat. Er hinterließ ein Briefchen, worin er ihr sein Vorhaben mit einer Aufrichtigkeit entdeckte, welche zugleich die Rechtfertigung desselben ausmacht. Er spottete ihrer nicht durch Liebes-Versicherungen, welche der Widerspruch mit seinem Betragen beleidigend gemacht hätte; hingegen erinnerte er sich dessen, was sie um ihn verdient hatte zu wohl, um sie durch Vorwürfe zu kränken. Und dennoch entwischte ihm beim Schluß ein Ausdruck, den er vermutlich großmütig genug gewesen wäre, wieder auszulöschen, wenn er Zeit gehabt hätte, sich zu bedenken; denn er endigte sein Briefchen damit, daß er ihr sagte; er hoffe, die Hälfte der Stärke des Gemüts, womit sie den Verlust eines Alcibiades ertragen, und den Armen eines Hyacinths sich entrissen habe, werde mehr als hinlänglich sein, ihr seine Entfernung in kurzem gleichgültig zu machen. Wie leicht, setzte er hinzu, kann Danae einen Liebhaber missen, da es nur von ihr abhängt, mit einem einzigen Blicke so viele Sklaven zu machen, als sie haben will! – das war ein wenig grausam – Aber die Gemüts-Verfassung, worin er sich damals befand, war nicht ruhig genug, um ihn fühlen zu lassen, wie viel er damit sagte.

Und so endigte sich also die Liebes-Geschichte des Agathon und der schönen Danae; und so, meine schöne Leserinnen, so haben sich noch alle Liebes-Geschichten geendigt, und so werden sich auch künftig alle endigen, welche so angefangen haben.


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