Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Zweites Kapitel

Etwas ganz Unerwartetes

Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen-Schreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich aufgeschreckt wurde. Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf eine fürchterliche Art widerhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschreckt werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen, womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot. Er bestieg also den obern Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen. Das Getümmel nahm immer zu, je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst, dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit vergessen zu machen. Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus Indien eingesetzt hatte. Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der würkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger als von der reizenden Art. Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut, die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren hatten. Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblick eines Jünglings, an einem Ort und bei einem Feste, welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung zu wenden.

Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat. Agathon war von einer so wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem Schicksal des Pentheus. Seine Schönheit setzte diese Mänaden in Erstaunen. Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort, zu einer solchen Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als für den Bacchus selbst? In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden, war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichteten, was ihm zu einem vollständigen Dionysus mangelte. Ihre bezauberten Augen stellten ihnen die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten, und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten; Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in schäumenden Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten »Evan, Evan!« mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte, von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb, indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten, und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.

Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der Obermacht der Sinnen. Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit in ihren trunknen Augen vergöttert hatte. Etliche, die das Bewußtsein ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein, näherten sich ihm, und setzten ihn durch die Art womit sie ihre Empfindungen ausdrückten in eine desto größere Verlegenheit, je weniger er geneigt war, ihre ungestümen Liebkosungen zu erwidern. Dem Ansehn nach würde unter ihnen selbst ein grimmiger Streit entstanden sein, und Agathon zuletzt das tragische Schicksal des Orpheus, der ehmals aus ähnlichen Ursachen von den thracischen Mänaden zerrissen worden war, erfahren haben, wenn nicht die Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle leiten, in eben dem Augenblick ein Mittel seiner Errettung herbeigebracht hätten, da weder seine Stärke, noch seine Tugend ihn zu retten hinlänglich war.


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