Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Konvulsivische Bewegungen der wiederauflebenden Tugend

Wenige Tage waren seit dem Besuch des Hippias verflossen; als ein Fest, welches er alle Jahre seinen Freunden zu geben pflegte, Gelegenheit machte, der schönen Danae und ihrem Freunde eine Einladung zuzusenden. Weil sie keinen guten Vorwand zu geben hatten, ihr Ausbleiben zu entschuldigen, so erschienen sie auf den bestimmten Tag, und Agathon brachte eine Lebhaftigkeit mit, welche ihm selbst Hoffnung machte, daß er sich so gut halten würde, als es die Anfälle, die er von der Schalkhaftigkeit des Sophisten erwartete, nur immer erfordern könnten. Hippias hatte nichts vergessen, was die Pracht seines Fests vermehren konnte; und nach demjenigen, was im zweiten Buch von den Grundsätzen, der Lebensart und den Reichtümern dieses Mannes gemeldet worden, können unsre Leser sich so viel davon einbilden als sie wollen, ohne zu besorgen, daß wir sie durch überflüssige Beschreibungen von den wichtigern Gegenständen, die wir vor uns haben, aufhalten würden.

Agathon hatte über der Tafel die Rolle eines witzigen Kopfs so gut gespielt; er hatte so fein und so lebhaft gescherzt, und bei Gelegenheiten die Ideen, wovon seine Seele damals beherrscht wurde, so deutlich verraten; daß Hippias sich nicht enthalten konnte, ihm in einem Augenblick, wo sie allein waren, seine ganze Freude darüber auszudrücken. »Ich bin erfreut, Callias« (sagte er zu ihm) »daß du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen worden bist. Du rechtfertigest die gute Meinung vollkommen, die ich beim ersten Anblick von dir faßte; ich sagte immer, daß einer so feurigen Seele wie die deinige, nur würkliche Gegenstände mangelten, um ohne Mühe von den Schimären zurückzukommen, woran du vor einigen Wochen noch so stark zu hängen schienest.« Zum Glück für den guten Agathon rettete ihn die Darzwischenkunft einiger Personen von der Gesellschaft, mitten in der Antwort, die er zu stottern angefangen hatte; aber aus der Unruhe, welche diese wenige Worte des Sophisten in sein Gemüt geworfen hatten, konnte ihn nichts retten.

Alle Mühe, die er anstrengte, alle Zeitkürzungen, wovon er sich umgeben sah, waren zu schwach ihn wieder aus einer Verwirrung herauszuziehen, welche sogar durch den Anblick der schönen Danae vermehrt wurde. Er mußte einen Anstoß von Übelkeit vorschützen, um sich eine Zeitlang aus der Gesellschaft wegzubegeben, um in einem entlegnen Cabinet den Gedanken nachzuhängen, deren auf einmal daherstürmende Menge ihm eine Weile alles Vermögen benahm, einen von dem andern zu unterscheiden. Endlich faßte er sich doch so weit, daß er seinem beklemmten Herzen durch dieses oft abgebrochene Selbstgespräch Luft machen konnte: »Wie? – ›Ich bin erfreut, daß du einer von den Unsrigen geworden?‹ – Ists möglich? Einer von den Seinigen? – Dem Hippias ähnlich? – Ihm, dessen Grundsätze, dessen Leben, dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem noch so viel Abscheu einflößten? – Und die Verwandlung ist so groß, daß sie ihm keinen Zweifel übrig läßt? Gütige Götter! Wo ist euer Agathon? – Ach! es ist mehr als zu gewiß, daß ich nicht mehr ich selbst bin! – Wie? sind mir nicht alle Gegenstände dieses Hauses, von denen meine Seele sich ehmals mit Ekel und Grauen wegwandte, gleichgültig oder gar angenehm worden? Diese üppigen Gemälde – diese schlüpfrigen Nymphen – diese Gespräche, worin alles, was dem Menschen groß und ehrwürdig sein soll, in ein komisches Licht gestellt wird – diese Verschwendung der Zeit – diese mühsam ausgesonnenen und über die Forderung der Natur getriebenen Ergötzungen – Himmel! wo bin ich? An was für einem jähen Abhang find ich mich selbst – welch einen Abgrund unter mir – O Danae, Danae! – «hier hielt er inn, um den trostvollen Einflüssen Raum zu lassen, welche dieser Name und die zauberischen Bilder, so er mit sich brachte, über seine sich selbst quälende Seele ausbreiteten. Mit einem schleunigen Übergang von Schwermut zu Entzückung, durchflog sie itzt alle diese Szenen von Liebe und Glückseligkeit, welche ihr die letztverfloßnen Tage zu Augenblicken gemacht hatten; und von diesen Erinnerungen mit einer innigen Wollust durchströmt, konnte sie oder wollte sie vielmehr den Gedanken nicht ertragen, daß sie in einem so beneidenswürdigen Zustand unter sich selbst heruntergesunken sein könne. »Göttliche Danae«, rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anstoß des wiederkehrenden Taumels aus; »wie? Kann es ein Verbrechen sein, das Vollkommenste unter allen Geschöpfen zu lieben? Ist es ein Verbrechen glücklich zu sein?« – In diesem Ton fuhr Amor, (welchen Plato sehr richtig den größten unter allen Sophisten nennt) desto ungehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und seine Sache zu der ihrigen machte. Denn was ist unangenehmers, als sich selbst zugleich anklagen und verurteilen müssen? Und wie gerne hören wir die Stimme der sich selbst verteidigenden Leidenschaft? Wie gründlich finden wir jedes Blendwerk, womit sie die richterliche Vernunft zu einem falschen Ausspruch zu verleiten sucht? Agathon hörte diese betriegliche Apologistin so gerne, daß es ihr gelang, sein Gemüte wieder zu besänftigen. Er schmeichelte sich, daß ungeachtet einer Veränderung seiner Denkungsart, die er sich selbst für eine Verbesserung zu geben suchte, der Unterscheid zwischen ihm und Hippias noch so groß, so wesentlich sei als jemals. Er verbarg seine schwache Seite hinter die Tugenden, deren er sich bewußt zu sein glaubte; und beruhigte sich endlich völlig mit einem idealischen Entwurf eines seinen eignen Grundsätzen gemäßen Lebens, zu welchem er seine geliebte Danae schon genug vorbereitet glaubte, um ihr selbigen ohne längern Aufschub vorzulegen. Er kehrte nunmehr, nachdem er ungefähr eine Stunde allein gewesen war, mit einem so aufgeheiterten Gesicht zur Gesellschaft, welche sich in einem Saale des Gartens versammelt hatte, zurück, daß Danae und Hippias selbst sich bereden ließen, seinen vorigen Anstoß einer vorübergehenden Übelkeit zuzuschreiben. Ergötzlichkeiten folgten itzt auf Ergötzlichkeiten so dicht aneinander, und so mannigfaltig, daß die überladene Seele keine Zeit behielt sich Rechenschaft von ihren Empfindungen zu geben; und nach Gewohnheit des Landes wurde die ganze Nacht bis zum Anbruch der Morgenröte in brausenden Vergnügungen hingebracht. Die Gegenwart der liebenswürdigen Danae würkte mit ihrer ganzen magischen Kraft auf unsern Helden, ohne verhindern zu können, daß er von Zeit zu Zeit in eine Zerstreuung fiel, aus welcher sie ihn, sobald sie es gewahr wurde, zu ziehen bemüht war. Die Gegenstände, welche seinen sittlichen Geschmack ehmals beleidiget hatten, waren hier zu häufig, als daß nicht mitten unter den flüchtigen Vergnügungen, womit sie gleichsam über die Oberfläche seiner Seele hinglitscheten, ein geheimes Gefühl seiner Erniedrigung seine Wangen mit Schamröte vor sich selbst, dem Vorboten der wiederkehrenden Tugend, hätte überziehen sollen.

Dieses begegnete insonderheit bei einem pantomimischen Tanze, womit Hippias seine größtenteils vom Bacchus glühenden Gäste noch eine geraume Zeit nach Mitternacht vom Einschlummern abzuhalten suchte. Die Tänzerin, ein schönes Mädchen, welches ungeachtet seiner Jugend, schon lange in den Geheimnissen von Cythere eingeweiht war, tanzte die Fabel der Leda. Dieses berüchtigte Meisterstück der eben so vollkommnen als üppigen Tanzkunst der Alten, von dessen Würkungen Juvenal in einer von seinen Satyren ein so zügelloses Gemälde macht. Hippias und die meisten seiner Gäste bezeugten ein unmäßiges Vergnügen über die Art, wie seine Tänzerin diese schlüpfrige Geschichte nach der wollüstigen Modulation zwoer Flöten, allein durch die stumme Sprache der Bewegung, von Szene zu Szene bis zur Entwicklung fortzuwinden wußte. – Zeuxes, und Homer selbst, riefen sie, konnte nicht besser, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die Tänzerin durch ihre Bewegungen malen. Die Damen glaubten genug getan zu haben, daß sie auf dieses Schauspiel nicht Acht zu geben schienen; aber Agathon konnte den widrigen Eindruck, den es auf ihn machte, und den innerlichen Grauen, womit sein Gemüt dabei erfüllt wurde, kaum in sich selbst verschließen. Er wollte würklich etwas sagen, welches allerdings in der Gesellschaft, worin er war, übel angebracht gewesen wäre; als ein beschämter Blick auf sich selbst, und vielleicht die Furcht belacht zu werden, und den ausgelassenen Hippias zu einer allzuscharfen Rache zu reizen, seine Rede auf seinen Lippen erstickte; und weil doch die ersten Worte nun einmal gesagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beifall verwandelten. Er hatte nun keine Ruhe, bis er die schöne Danae bewogen hatte, sich mit einer von ihren Freundinnen aus einer Gesellschaft wegzuschleichen, aus welcher die Grazien schamrot wegzufliehen anfingen; und sein Unwille ergoß sich während daß sie nach Hause fuhren, in eine scharfe Verurteilung des verdorbenen Geschmacks des Sophisten, welche so lange dauerte, bis sie bei Anbruche des Tages wieder auf dem Landhause der Danae anlangten, um die von Ergötzungen abgemattete Natur zu derjenigen Zeit, welche zu den Geschäften des Lebens bestimmt ist, durch Ruhe und Schlummer wiederherzustellen.


 << zurück weiter >>