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XIII.

Während die Eltern stumm nebeneinander gingen – bloß ihre Köpfe hatten sich fast unmerkbar zueinander geneigt, so daß die Wangen sich beinahe streiften, hatten sie sich ihrem Hause genähert, das in dem Übergangsgebiet der Park- in die Geschäftsstraßen lag und wo sie zu ihrem Erstaunen die Fenster ihres Wohn- und Eßzimmers hell erleuchtet sahen. Denn Minna, die treue Seele, hatte geahnt (oder sie hatte es »zufällig« erhorcht), daß das letzte der drei Telephongespräche von der »jungen Gnädigen« stammte, und sie hatte vorsorglich für Flossie und das Kind alles vorbereitet, denn sie diente jetzt der jungen Herrin mit der gleichen Ergebenheit, wie sie jahrzehntelanger alten Herrschaft gedient hatte. Sie zeigte keine Überraschung bei der Nachricht, daß Frau Lucie wohl bald zurückkäme. Vielleicht hatte sie in ihrem starken Glauben nie daran gezweifelt.

»Und warst du gut untergebracht, Flossiechen? Nun erzähl!« sagte er, am Tische sitzend. »Wo hast du denn gewohnt? Doch nicht in der Anstalt?«

»Wo denkst du hin? Mir kommt es fast so vor, als ob die Verdrehtheit dort ansteckend ist, und ein wenig Angst hatte ich doch, nicht für mich, sondern für das Kind, daß sie es mir totküssen in ihrem Wahn. Und auch deine Mutter ließ ich ganz im Anfang lieber nicht zu nahe kommen. Ja, Ottolein, jetzt kommst du dran! Erst Papi, dann du, dann ich. Grießbreichen bekommt das große Kind, das ist doch fein! – Aber das Kleine hat sich auch gar nicht vor ihr gefürchtet und vor den anderen Narren auch nicht, in seiner Unschuld purzelte es zwischen ihnen umher, gelt, du dicker Schelm? Aber immer guckte es die verdrehte Menschheit ganz von unten an, so ernst, wie jetzt uns. Aber sieh lieber aufs Tellerchen, mach's Mündelchen weit auf und mach fix! – Ja, ich habe in dem Dorf oben gewohnt, heißt Grünesthal, alles hat dort so poetische Namen, ein größerer Ort ist es mit einer schönen Kirche, auch die ganze Post geht über Grünesthal. Erst alles richtig herunterschlucken, Otto, dann erst gibt's Neues. Bitte, gib ihr nicht zuviel auf einmal auf den Löffel, Imme! – Und morgens, so gegen acht, gleich nach dem Frühstück, bin ich vom Gasthof durch den himmlischen Wald ins Heim hinuntergegangen – nicht kleckern, Mädelchen! Heraus mit der Zunge! Die Lippen abgeleckt! So ist es schön! – und das Kind immer voraus, so schnell hoppelte es in seiner Freude. Der Weg geht einmal hinauf, dann wieder hinunter, wonnig ist es dort, sicher und friedlich auch. Immenmeister, wische bitte deiner Tochter das Kinn unten mit deiner Serviette ab, so weit kommt sie mit dem Zünglein nicht. Und flott jetzt weiter! Und du iß auch, sonst wird alles kalt. – Und an der Serpentine bei der Autobusstation, weißt du, erinnerst du dich, ach nein, du warst ja niemals dort, solltest ja niemals zu ihr hinkommen, also da wartete die alte Dame schon. Mitten auf der Straße stand sie, die Füße in den alten Schuhen, die großen Treter – weiß, voller Staub, und weiß das hübsche Köpfchen auch, aber das Seidenkleid schwarz voll Pracht, immer noch das alte, das wir schon lange kennen, ich hab' es ja selbst umgearbeitet und die vielen Rüschen herausgenommen und den Rock enger gemacht – das hat sie sich doch aus dem braunen Festtagskleid bald nach dem Tod deines Vaters schwarz färben lassen, und da leuchtete sie schon von weitem in der großartigen Sonne wie ein Riesenmistkäfer, die glänzen ja auch wie Pech. Was guckst du denn, du dickes Negerkind? Ja, Banane möcht' sie gerne. Morgen! Morgen ganz in der Frühe. Heute sind sie schon alle schlafen gegangen, die braven Bananen. – Ja, und dann gab's ein Geknutsche und ein Geliebe, und immer kam sie mit einem Päckchen an, hatte etwas Besonderes mitgebracht für unser Kind. Und dann wir zu dritt unter den Tannenbäumen den Berg hinauf, den steilen Weg zu einer Waldblöße, da müssen sie vor kurzem die Stubben gesprengt haben, o Liebster, sieh nur, wie Ottolein die Ohren spitzt, alles versteht sie, wie du und ich! – da war es mehr als schön, geradezu wie im Paradies. Nicht zu kalt und nicht zu heiß, Bienen und Hummeln, tausend Arten Vögel, ich übertreibe nicht, und seltene Schmetterlinge, nicht zu zählen, kein Stäubchen in der wundervollen, schattigen Luft, und ein kleiner Bach nebenbei mit Wasser wie Kristall und eiseskühl selbst bei der Hitze, war es denn hier auch so heiß? Und die Vorhänge habt ihr doch heruntergelassen und nur nachts gelüftet? – Junge, wärst du doch auch mitgekommen, was hat dich nur hier in dieser Hölle gehalten? Du ganz Armer, ganz Lieber, Allerbester und purste Honigimme mit deinen grauen Haaren an den Schläfen, so früh schon. Ist es denn wahr, daß dein Freund, der Jarausky, eine Million gewonnen hat? Frau von Ohr hat es geschrieben. Ob er sich nicht an dem Heim für die Flüchtlingskinder beteiligt? Für Kinder sollte solches Geld doch am ehesten da sein, nicht für die üblen Kerle, die er doch alle nicht mehr weißwaschen wird, die Verbrecher. – Ottily, nicht die Fingerchen ablecken, das sollst du doch nicht, Putzili, dazu nimmt man die Serviette, hilf ihr doch dabei, heute lass' ich mich bedienen und seh' euch beiden zu. Die grauen Haare sind dir viel mehr geworden, du hast sie dir sicher nicht ausgezupft, wie ich es sonst immer mache, aber warte, jetzt bin ich da und weiche nie mehr im Leben auch nur einen Schritt von dir, und die grauen Haare werden wieder schwarz, so will ich dich pflegen. Nein, die Hände brauchst du mir nicht zu streicheln, sag lieber, ob auch du immer bei deiner Frau bleiben wirst – seid ihr satt, beide, ehrlich gesprochen, Otto und Konrad? Sicherlich? Sag, Konrad, sag ehrlich, bist du meiner?« »Flossie, ja, darauf kannst du bauen!«

»Sag, ich kann dir doch trauen? – Nein, Ottolein, jetzt ist Schluß. Mehr gibt es nicht! – Ganz im Ernst?«

»Und ich dir?«

»Mir trau! Konrad, mir trau immer!«

»Und ich dir auch, Flossie!«

»Siehst du, Junge, jetzt muß der Pastor nur noch einmal Amen sagen, dann sind wir wieder von frischem verheiratet! Aber jetzt lass' mich dir noch schnell zu Ende erzählen, dann soll Ottolein zu Bett, ja süßes, braunes Schokoladenmägdelein, jetzt mußt du ins Bettchen, die Augen fallen dir schon zu, das Sandmännchen hat feste gestreut, ja? – und wir auch, ja wir auch ins Bett, nein, jetzt im Augenblick aber doch noch nicht. Immerzu könnte ich bei dir sitzen und deine Augen ansehen und deine wunderbar hohe, weiße Stirne, ich fürchte, Kind, ich bin jetzt sogar dumm in dich verliebt, Konrad! Nun siehst du, dort bei dem Bach hat deine Mutti, ich darf sie doch Mutti nennen, jetzt kommt es mir vom Herzen, und du sagst ja meiner Mutter auch Mutti, jetzt erst werden wir alle eine große Familie, wir zwei besonders, du und ich. Und unsere Kinder natürlich auch! Junge, jetzt sind es bald ein sechstel Dutzend! Gelt, du, ich bin dumm? Und siehst du, als wir dort waren, hat Mutti das Kind ausgezogen, so fein vorsichtig, mit den Fingerspitzen alles sanft herunter und alles auf ein Tuch gelegt, ihr graues, warmes, altes, das sie schon so lange hat, und Ottolein war zum Platzen glücklich, ganz blank, ohne Gewand in der Sonne, aber gelacht hat es nicht, so wenig wie früher. Wenn man es kitzelte, dann ja, aber das zählt doch nicht. Dort hat Otto sich mit ihrem nackten Ärschlein ins hohe Gras gesetzt, mit den dicken braunen Beinchen gerade über dem Wasser, da unten war alles gespiegelt, Minzen sind da und scharfe Kräuter, so eine Art Schilf und Adlerfarn, aber wir haben eine weiche Stelle gesucht, und da saß behäbig unser Ottolein, nackt wie im Paradies, zum Küssen schön und ganz unheimlich artig, und wie ein Altes im Lehnstuhl saß es im Gras und haschte die Schmetterlinge und spuckte nach ihnen, weil sie ihm doch vor der Nase wegflogen, die dummen, und zeigte auf die Steine und wollte sie haben und nannte sie Bappi. Kein Wort mehr, immer das gleiche! Dabei versteht sie alles, was man spricht, den klugen Kopf hat sie von dir, deine Tochter. Aber auch den Ernst, den bösen ich möchte doch so gern, daß du lachst, wozu erzähl' ich dir das alles, ist doch nur dummes Geschmöke, ach, nur ein bißchen lach! Schon daß ich sehe, daß du bei mir bist, daß alles wieder ist wie vorher! Und wenn also deine Mutter sah, wie dein Töchterchen totenernst auf seinem blanken Hinterteilchen saß und Steinchen auf Steinchen in das Wasser hinabschmiß und die Augen rollte und immer nur Bappi dazu sagte, wenn's aufplatschte, da mußte sie aus vollem Herzen lachen. Sie mit ihrer Melancholie! Was hat sie gelacht! Und das Kind, husch, husch, aufgucken mit den großen Augen, und mit einem Mal, hast du nicht gesehen, ging's los, ja geradezu so wie jetzt bei dir, und Ottolein lachte sich mächtig eins, so daß das dicke Bäuchlein wackelte und der Nabel sich ihr ganz tief einzog und die Rippen nur so zitterten und die blonden Locken wippten. Und warum? Warum lachte es die Großmutter an? Mutter aber nie? Das rätst du nicht, du Überkluger? Oder doch? Das steht in euren Akten nicht geschrieben! Sie lachte und purzelte, mit den Patschhändchen nach vorn und griff der alten Dame ins Gesicht, weil sie da was leuchten sah, der dicke rosige Sommerschelm, und ich lachte mit, wir drei lachten wie die Heiden, ich aber nur zur Form, machte Theater, denn an dich dachte ich auch jetzt, was aus uns schließlich wird, und an deinen armen Bruder. Denn arm ist er, mag kommen, was will. Denn das habe ich begriffen in diesen komischen Tagen, als kein Brief kam und nichts von dir. Vater hätte mir doch alles nachgeschickt. Er mag dich sehr! – Und jetzt geht Ottolein zu Bett! Nein, was muß Mutti sehen, das große Kind – und will getragen sein! Na, heute soll es noch hingehen, weil es Sonntag ist in meinem Privatkalender, ja? Imme? Imme!«

Sie hob das Kind auf ihre bloßen schönen Arme und trug es in das Kinderzimmer. Nach einer Weile kam sie zurück. Inzwischen hatte sie das Kind ausgekleidet, ihm die Händchen gewaschen, den Mund mit einem in Mundwasser getauchten Läppchen ausgewischt, die widerspenstigen Löckchen mit einem ihrer alten grünen Bänder eingebunden, das Kind aufs Töpfchen gesetzt und sich dabei erinnert, daß heute alle diese Maßnahmen in ganz verkehrter Reihenfolge vor sich gingen. Das Kind hatte vor Müdigkeit sogar etwas zu weinen begonnen, und Flossie wartete noch, ein Lied mit lauter falschen Tönen vor sich hin singend, darauf, bis es einschlief. Als es seine ersten leisen Schnarchtöne hören ließ und sich ganz lang ausstreckte, machte sich Flossie im Badezimmer etwas zurecht, holte das Badewännchen des Kindes von seinem Nagel herab, wischte den Staub aus seinem Inneren, um es für den nächsten Tag bereit zu haben. Dann hatte sie sich einige Tropfen Kölnischwasser gegönnt, und mit dem engen Kamm war sie sich ein paarmal an den Schläfen fest durch ihr dichtes, auf knisterndes Haar gefahren und hatte die Nadeln im Nackenknoten fester gesteckt, und all dies hatte keine zehn Minuten gedauert.

Jetzt setzte sie sich zu ihrem Mann an die Breitseite des rechteckigen Speisezimmertisches, wo er nach dem Essen sitzen geblieben war, und er hatte in seiner Zerstreutheit die Brosamen von seinen Butterbroten auf den Teppich hinabgestreift, etwas, das Flossie sonst immer zu heftigem Tadel veranlaßte, denn sie bestand darauf, daß es mit dem Tischbesen und dem Nickelschaufelchen geschah. Jetzt bemerkte sie es zwar sofort, wollte sich aber an diesem »Sonntag« bezwingen und nicht davon reden. Sie nahm ihn bei den Händen, zog ihn näher an sich heran und fragte: »Sag mal, alter Immenschelm, hast du mir nicht am Telephon von einem Brief erzählt, den du heute abend an mich geschrieben hast? Aber laß! Ich will gar nichts wissen! Wenn du dich aber doch aussprechen mußt, ich bin da und bin jetzt wieder ganz frisch. Aber wollen wir heute nacht wirklich noch all die ernsten Sachen besprechen? Mir braucht mein Lieber nichts zu sagen, ich weiß alles. Glaubst du es nicht?«

»Ganz sicher weiß ich das doch nicht«, sagte Konrad, etwas verlegen lächelnd.

»Doch, getreuer Konradin, alles weiß ich. Wozu war' ich sonst deine Frau? Aber sieh nur – nein, du brauchst nicht so ernst zu gucken, gerade eben warst du so hübsch, als du ein wenig gelächelt hast, vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten, ich will dir doch nur Frohes bringen. Aber sieh doch nur«, sagte sie in ihrer Verlegenheit errötend und trotz des Kölnischwassers zu schwitzen beginnend, was sie nur noch kindlicher machte, »sieh, Junge, nur hier auf dem Teppich die Brosamen und Krümel alle! Muß das sein? Wenn du nur wüßtest, was das immer für arge Mühe macht, mit dem scharfen Besen unter den Tisch zu kriechen und da – in der Unterwelt zu bürsten, was das Zeug hält. Und das muß ich tun, denn den alten Knochen unserer Minna würde das Bücken zu schwerfallen. Und den Staubsauger wollen wir nur zweimal in der Woche nehmen, damit wir unseren schönen deutschen Perser schonen, unser bestes Stück – aber du bist nicht böse, daß ich es dir sage?«

»Nein, Liebste, nein, ich will es nicht wieder tun. Aber meine Gedanken wirst du nicht so leicht erraten. Das konnte niemand bisher.«

»Es wäre auch schlimm genug, wenn jemand außer mir – sag mal, wollen wir wetten? Was bekomme ich, wenn ich deine Herzensgedanken und innersten Wünsche errate oder vielmehr immer nur den einen einzigen?«

»Ich habe ja nichts, was nicht auch dir gehört!«

»Sicher? Ja, ich will es glauben, also abgemacht! Und nun paß auf, und sag's, so ehrlich du kannst, ob ich recht geraten habe. Ja, leg nur deinen Kopf an meine Schulter, die Musselinbluse ist ja ohnedies von der Reise schmuddelig, da kannst du deinen lieben Kopf ganz tief hineinbohren. Also hör, du willst weg von hier. Du magst jetzt nicht mehr in der Stadt leben, wo Rudolf ist. Es fragt sich nur, wie richten wir es ein? Mutter kommt mit, das hilft ihr und uns. Aber er!! Ja, ich sag es dir ganz offen, recht so, sieh mir tapfer in die Augen, wie ich dir auch. Wir müssen ja jetzt in dieser Lage ganz goldehrlich sein. Du möchtest ihm am liebsten nie mehr begegnen. Du liebst ihn nicht mehr so fanatisch, so... So, habe ich gut geraten? Und hast du endlich an die Stelle im Flüchtlingsheim gedacht?«

Er sagte nichts, seine dünnen Lippen waren fest geschlossen.

Aber er küßte sie, ihren Kopf mit beiden Händen zart umfassend und leicht niederbeugend, auf ihren bloßen Nacken, dicht unter dem dicken, im elektrischen Licht stark glänzenden, noch zart nach dem Eisenbahnrauch der Reise riechenden, hellen Haarknoten. Auch sie sagte nichts, sie hob den Kopf lächelnd auf, setzte sich mit einem leisen »ich bin dir doch nicht zu schwer?« ihm auf den Schoß, wobei sie in einem schelmischen Lächeln ihre ebenmäßigen, weißen Zähnchen entblößte.

»Und das Wichtigste hast du ganz vergessen«, sagte sie, wobei sich das Lächeln immer mehr verstärkte, »stundenlang habe ich über Ottolein Geschichten erzählt und immer weißt du noch nicht, wieso sie das Lachen auf einmal gelernt hat von deiner alten Mutter. Und du Rabenvater bist wohl auch gar nicht neugierig?«

»Doch! Sehr!«

»Weißt du«, sagte sie, ihn an beiden Händen fassend und etwas ganz anderes in seinen Augen suchend als die Wirkung ihrer Erzählung, »Mutti hat doch Goldkronen. Früher hat sie nie gelacht, deshalb ahnte kein Mensch das viele Gold in ihrem Mund, sie hat ja immerzu die Lippen zusammengekrampft gehabt. Aber jetzt auf der Waldblöße bei den Pfefferminzstauden und so weiter, da ging dem weißhaarigen Trauerkloß mit einemmal der Himmel auf, sie lebte gern, sie freute sich, lachte aus tiefstem Herzen, und da sah das Kind etwas Himmlisches in dem Sonnenglanze blitzen und blinken, das waren die alten Goldkronen, und danach griff das freche Balg, und daran freute es sich und kreischte und lachte wie toll.«

»Und hast nicht auch du das Wichtigste vergessen, Flossie?« fragte er.

Sie schlüpfte schnell von seinem Schoß hinab, erschrocken wie sie war, und sah ihn groß an.

»Hast du denn ganz die Blumen vergessen«, sagte er mit gütiger Ironie, die selten an ihm war, »die noch tief in deinem Köfferchen schmachten?«

»Wahrhaftigen Gotts«, und eine flüchtige Röte kam in ihr unregelmäßig geschnittenes Gesicht, in das sich die ersten feinen Fältchen um die Mundwinkel einzuzeichnen begannen, »siehst du, Immenmeister, ich Dumme will die dreimal Weise machen, und du mußt mich an meine Pflicht erinnern!«

Sie holte die Blumen, Rosen und Maiblumen, aus dem Köfferchen, wo sie zwischen Zeitungspapier zusammengedrückt gelegen hatten, wobei ihre ganze Frische verlorengegangen war. »Ach, wie laßt ihr doch die Köpfchen hängen!« sagte sie und bewegte die Blumen hin und her, wie um sie aufzumuntern. Aber sie baumelten nur noch schlaffer in ihrer Hand. – »Bitte schnell das Pyramidon. Und frisches Wasser lassen wir laufen. Paß auf, das hilft!« Beide liefen auf den Zehenspitzen, um das Kind nicht zu wecken, durch das dämmerige Kinderzimmer, an dem weißen Bettchen vorbei, in das Schlafzimmer, wo das alte Medikamentenkästchen stand, das zum großen Teil, aber nicht ganz, mit verschiedenen Teesorten gefüllt war, die einen starken, zum Niesen reizenden Duft ausströmten. Das Kästchen war früher einmal mit Gewalt geöffnet worden.

»Nicht mit den Fingernägeln! Du brichst sie dir ab, Immentreu! Ich nehme eine Haarnadel zum öffnen«, flüsterte Flossie, mit Macht ihren Niesreiz unterdrückend. Aber kaum war das Kästchen offen, als sowohl er wie auch sie zu niesen begannen, und öfter, als ihnen lieb war. »Ist das hier das rechte?« fragte endlich Flossie, sich die tränenden Augen mit dem Zipfel ihres Musselinärmels trocknend, und zeigte auf ein Päckchen von kleinen Medikamentenbriefchen. Er schüttelte, die Nase mit seinem Taschentuch reibend, den Kopf, dabei bohrte er vorsichtig in der Lücke, wo sich früher das herausgebrochene Schloß befunden hatte.

»Wir müssen es doch einmal in Ordnung bringen lassen, meinst du nicht, Flossie?« sagte er nachdenklich.

»Wird gemacht. Morgen kaufe ich im Einheitspreisgeschäft ein kleines Schloß, oder besser, ich klaue es bei Vater irgendwo, wir müssen ja jetzt sparen, und den Schraubenzieher besitze ich ja schon, das mache ich alles selbst. Sag mal, Immendoktor, vielleicht ist das hier das rechte?« Er sah die Pulver genau an. »Ja, es sind noch alte von Vaters Zeiten her, das ist seine Schrift.«

Sie erhob sich schnell, und beide gingen durch das dunkle Kinderzimmer ins Wohnzimmer zurück, wo die Blumen, auf dem weißen Tischtuch ausgebreitet, Blüten und grüne Blätter wie tot von sich gestreckt, alles Leben eingebüßt zu haben schienen. Aber in einem Augenblick hatte Flossie sie aufgenommen, die Stengel schräg abgeschnitten und auf diese Weise etwas verkürzt, sie bezaubernd geordnet und in das Wasserglas gestellt, wo ihr Mann das Pulver bereits aufgelöst hatte. Und langsam, während beide wie die Kinder mit glänzenden Augen dabeistanden, kam wieder etwas Glanz in die matten Blätter, die Stengel strafften sich, und die Köpfe der Blumen richteten sich auf, so daß sie fast wie frisch aussahen.

Sie löschten, immer noch Hand in Hand, das Licht aus und gingen in das Schlafzimmer, und auf dem Wege begann Konrad, was er sonst fast nie tat, eine Melodie leise vor sich hin zu summen. Seine Frau hielt ihm mit ihrer schönen, langen, kühlen Hand, an der noch der Duft der Blumensäfte hing, den Mund zu, er aber drückte ihre Hand noch fester an seine Lippen, breitete ihre Finger aus, bis sie fast sein ganzes Gesicht bedeckten, ihr Daumen an seinem Backenknochen und ihr feiner, dünner, fünfter Finger mit der bogenförmigen, federnden Fingerspitze über seinem linken Auge und der Finger mit dem Ehering über seinem Munde.

Zart machte sie sich nach einer langen Weile los und begann sich im Dunkel zu entkleiden. Einen Augenblick hielt sie inne, mit gebeugtem Köpfchen und die Hände ineinander verschränkt auf dem Bettrand sitzend, dann stand sie auf, und mit der einen Hand an dem Achselträger ihres Taghemdes, langte sie mit der anderen nach dem Pyjama, der unter ihrem schlichten, glatten, kühlen, in der Dunkelheit matt schimmernden Kopfkissen fein säuberlich zusammengefaltet lag – als er nochmals ihren Arm ergriff und ihn zart und doch stark und innig bis hinauf an die Schulter zu küssen begann.

Sie hob ihren Kopf in die Höhe, die Augen geschlossen, die weiße Kehle schimmerte heller als der Bezug des Bettes, und sie blickte erst auf, als er seine beiden Arme, sich ganz über sie beugend, um ihren etwas feuchten, kühlen, leicht zitternden Hals schlang. Noch einmal öffnete er, schon ganz an sie hingegeben, seine Augen und sah, daß auf ihrem Bett nur das Kopfkissen und der Pyjama lag, den sie schon nahe an sich herangezogen hatte. Er sah, daß ihre Decke fehlte, die schöne, gelbe, geschonte, in regelmäßigem Muster gesteppte Daunendecke, die jetzt über Rudolfs grober Pritsche im Gefängnis lag.

Er wollte ihr seine Decke geben, er machte sich sanft los, um sie auf Flossies Seite hinüberzuschieben, und wollte dann zum Schrank, wo noch von Vaters Zeiten eine warme, graue alte Decke lag, das Gegenstück zu der, die seine alte Mutter nach »Waldfrieden« mitgenommen hatte und auf der sie sein Kind auf der Waldwiese gebettet hatte, aber seine Flossie verstand nicht, weshalb er von ihr fort wollte, sie nahm seine Arme und legte sie sich wieder um ihren Hals. Sich völlig in diese Arme hineinschmiegend, erwiderte sie seine Umarmungen mit der ganzen ungestümen Kraft ihrer jungen Jahre und ihres starken Herzens und ließ ihn nicht von sich.


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