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Kaum hatte Konrad den Hörer aus der Hand gelegt, als die Klingel des Apparates von neuem ertönte. Diesmal war es von Ohr: »Na endlich! Das war aber ein Dauergespräch! Du warst heute nachmittag bei mir?«
»Ja, ich hörte, daß du mich sprechen wolltest.«
»Stimmt. Es handelt sich um verschiedene Einzelheiten. Im Grunde immer um dieselbe unangenehme Sache. Hörst du?«
»Gewiß. Ich nehme jedes Wort ernst, das du sagst.«
»Hast du aber bis jetzt nicht bewiesen. Zur Sache nun: die Angelegenheit deines Bruders ist in der Zwischenzeit, während der du mich gemieden hast – bitte nicht unterbrechen, das hast du mir versprochen –, nach verschiedenen Gesichtspunkten weiter gediehen. Hast du die Blätter alle gelesen?«
»Nein.«
»Hättest du aber ruhig tun sollen. Also. Erstens: es wird übel aufgenommen, und zwar ebenso in den demokratischen wie den nationalen Blättern, daß Rudolf eine Ausnahmestellung genießt, z. B. im Untersuchungsgefängnis, daß er mehr Freiheiten hat als die sonst üblichen, und vor allem, daß du in deiner Stellung als Anstaltsarzt bei ihm ein und aus gehst. Nicht unterbrechen! Ich weiß es, und die diversen Redakteure könnten es jederzeit in Erfahrung bringen, daß du seit der Einlieferung des Jungen nicht mehr ex officio deine Amtspflichten hier oben ausübst. Tatsache ist aber doch, daß du jeden Tag in unserem Lazarett warst, daß du im Anfang bei der Entziehung auch die Nächte bei ihm verbracht hast. Das geht eben nicht. Formal sind die Presseleute im Unrecht. In der Sache nicht. Siehst du das ein?«
»Kann sein.«
»Nun gut. Du wirst also die Konsequenzen ziehen und vorläufig alle Besuche unterlassen.«
»Ja, das ist die beste Lösung.«
»Das ist ja prächtig. Fabrizius nimmt sich der Sache an, er studiert den Burschen an Herz und Nieren, er hat guten Kontakt mit ihm, etwas haben wir schon aus ihm herausbekommen und erhoffen mehr.«
»Schön. Sehr schön.«
»Der nächste Punkt ist, daß man die Entziehungskur als geglückt ansehen kann. Fabrizius meint, selten ginge es so glatt wie bei ihm. Du hast dich sehr wacker gehalten, und wir sind einen großen Schritt weiter. Aber auch wir müssen die Konsequenzen ziehen, müssen ihn als haftfähig erklären. Er wird morgen in aller Frühe wieder in die ordentliche Einzelhaft zurückkehren. Diese scheinbar etwas harte Maßnahme hat aber den großen Vorteil, daß er in der Zelle mit Berufsverbrechern nicht so leicht in Verbindung kommen kann wie in dem Lazarett, wo ein paar angeblich todkranke, aber immer noch ganz abgefeimte Gesellen liegen, von denen man ihn dort auf die Dauer nicht separieren könnte.«
»Das halte ich für ganz richtig. Man kann mit ihm keine Ausnahme machen.«
»Was, das sagst du? Aus einem Saulus ist ein Paulus geworden? Mir machst du nur Freude damit! Dagegen bin ich gar nicht entzückt von dem Anwalt, zu dem du deinem Bruder geraten hast, diesem Dr. N. C. Tüchtig mag er wohl sein, und es wird keine Lücke des Gesetzes zugunsten der Lumpenkerle geben, die er nicht kennt, aber er ist und bleibt der Mann der Unterwelt. Wußtest du das nicht?«
»Gewiß wußte ich das, ich habe als Sachverständiger oft genug mit ihm zu tun gehabt. Aber man hat mich nicht gefragt. Man hat mir nichts gesagt.«
»Nicht gefragt? Man? Nichts gesagt? Du warst doch heute bei ihm? Nun laß es gut sein! Junge, laß es! Du hast mehr getan, als du solltest. Vielleicht merkst du es jetzt selbst. Du kannst jetzt in Ehren abgehen. Die Sache steht für den Jungen seit heute etwas besser. Steffie ist verhaftet, Chiffon ist man hart auf der Spur.«
»Auch davon weiß ich nichts! Von ihm hörte ich nichts als –«
»Diesmal tust du ihm unrecht. Wenn er auch mit den bewußten schweren Jungen Tuchfühlung hat (denn wie sollte er sonst auf den Unterweltsanwalt gekommen sein?), so muß er von dem Fortschreiten der Untersuchung noch nicht alles erfahren haben. Unbekannt bleibt ja dem Gesindel nichts, Gott mag wissen, wie sich die Halunken untereinander verständigen, aber es braucht Zeit hörst du zu? Du bist so still.«
»Sprich nur, mir ist jedes Wort wertvoll.«
Konrad hatte einen Briefbogen herbeigeholt und hatte zu schreiben begonnen: »Liebe Flossie!« – Der Direktor fuhr fort: »Man hätte ja längst auf Chiffon und Steffie kommen müssen, aber ihre Fäden reichen weit. Hätte der unverschämte Bursche, der Steffie, seine Frechheit nicht so weit getrieben, daß er die Personalakten seines Spießgesellen Chiffon-Manfred beinahe vor aller Augen beiseite geschafft hätte, wir wären noch nicht soweit. Das will nicht sagen, daß man heute schon klarsieht. Steffie gibt nicht leicht nach. Er ist schlauer als schlau. Aber was willst du? Die Kreatur, der Mensch, ist voller Schläue und doch voll Jammer. Man weiß jetzt, daß er, Steffie, bei allen seinen Tricks und Künsten dauernd erpreßt worden ist, daß tolle Beträge durch seine Hände gegangen sind, angeblich sollen es Hunderttausende gewesen sein im Lauf der Jahre. Auch bei dem Einwohnermeldeamt hat er allerhand nette Sachen gemacht, Pässe ausgegeben gegen klingende Händedrücke. Jetzt aber bläst er auf der nationalen Trompete, aber sie hat Nebenluft, und es klingt zum Kotzen. Hörst du?«
»Gewiß höre ich, sprich nur weiter!« – Konrad hatte die Anrede ausgestrichen und hatte dafür hingesetzt: »Meine Flossie!«
»Alles was ein menschlicher Kloakenkübel an Lieblichem in sich hat, ergießt sich aus dem Kerl. ›Was soll mir Rosenfinger?‹ geht das los. ›Mir das? Mir, einem alten Kämpfer, einem bodenständigen deutschen Volksgenossen!‹ – ›Sie können doch nicht behaupten‹, sagt der Untersuchungsrichter, ›daß Sie aus vaterländischen Interessen einem Menschen wie Chiffon, der manches auf dem Kerbholz hat, einen erstklassigen Paß auf einen anderen Namen ausgestellt und seine Personalakten, zu denen Sie Zutritt hatten, aus dem Wege geräumt haben. Und weshalb schweigen Sie, wenn man fragt, wann Sie zum letzten Mal mit Herrn Zollikofer zusammen waren? Warum sagen Sie uns nicht, von wem Sie im Spätherbst 1923 diese Riesenbeträge geerbt haben? Und wer und wo ist Ihr Freund Chiffon?‹ – Daraufhin kuscht er, richtet seine Ohren auf und überlegt.« –
Konrad hatte auch die zweite Anrede ausgestrichen, das Blatt zusammengeknittert und auf einem neuen Bogen zu schreiben begonnen. Es war halb zehn abends. Die Post wurde dreiviertel zehn Uhr nachts zum letztenmal geleert. Konnte er bis dahin seinen Brief an seine Frau in den Postkasten eingeworfen haben, so konnte ihr Vater ihn am nächsten Tage ihr nachsenden, und vielleicht war sie in vierundzwanzig Stunden wieder bei ihm! »Meine geliebte Flossie!« schrieb er.
»Machst du dir Notizen?« fragte der Direktor. »Ich höre dich mit Papier rascheln. Sei unbesorgt, man wird die Fährte diesmal nicht loslassen. Sie paßt zu gut zu der Vorstellung, die sich die Staatsanwaltschaft von dem Mord an Rosenfinger gemacht hat. Unterbrich mich nicht, ich weiß, was du sagen willst –«
»Bitte, kehre möglichst sofort mit dem Kind zu mir zurück«, schrieb Konrad, den Hörer mit der linken Hand ziemlich weit vom Ohr entfernt haltend, mit der rechten die Feder führend. »Ich werde dich nicht unterbrechen«, sagte Konrad, »ich denke gar nicht daran!«
»Also dann höre weiter: ›Wer anders als Sie kann Ihrem Duzfreund Chiffon in wohlverstandenem Interesse die Flucht erleichtert haben?‹ fragt der Untersuchungsrichter. ›Wer anders? Und Flucht? Und Freund?‹ legt der gute Steffie mit geiferndem Munde los. ›Sind das nicht ausgesprochene, vom Gesetz verbotene Suggestionsfragen? Ja, das sind sie.‹ – In Parenthese gesagt, Konrad, das stimmt. – ›Mit mir könnt ihr euch alles erlauben‹, geht Steffie mit seiner Eisenstirn los, ›ich habe ja keinen Gefängnisdirektor als Vormund gehabt, ich bin mit Wasser aufgezogen, ich habe keinen Gerichtsarzt mit transparentem Sachverständigeneid zum Bruder, der Tag und Nacht bei mir Wache hält und mich schützt!‹ – Hab' ich's dir nicht gesagt, Konrad! Aber laß erst einmal die Sache abgeschlossen sein. Ich ziehe dann in Frieden ab und mit voller Pension und gehe, Gott weiß, wohin – vielleicht in die Politik. Es scheint da ein starker Bedarf an Männern zu sein. Übrigens will dich meine Frau sprechen, am besten morgen früh. – ›Wo also sind Ihre Beweise, Herr Staatsanwalt?« fragt Steffie. – ›Wir werden Sie Ihnen gewiß nicht vorenthalten. Nur Geduld!« – In Klammer, Konrad, der einzige Beweis ist vorläufig, daß einige Paßformulare fehlen, und was sonst gemunkelt wird, zählt vorläufig noch nicht. Trotzdem ist es ein Meistertreffer der Staatsanwaltschaft gewesen, oder ich will Pumps heißen!«
›Es gibt nichts, was Deine Abwesenheit, unter der ich sehr leide, notwendig macht«, schrieb Konrad, ›vor allem komm! Ich werde vielleicht Deinem Rat, was R. betrifft, folgen. Folge nun Du meinem Wunsch! Verstehst Du mich? Ich bitte Dich! Drahte Deine Ankunft. Ich hole Dich von der Bahn ab, wenn Du verreist sein solltest, wie ich nach den Worten Deines Vaters annehmen muß.«
»›Sind etwa der Herr Staatsanwalt Jude?‹ geht es weiter aus Steffies Munde«, sagte von Ohr, »›Ich? Wie kommen Sie darauf?« – ›Will ich Ihnen gern sagen«, antwortete der unverschämte Geselle vor dem protokollführenden Referendar, ›lieber unter vier Augen, aber wenn es sein muß, auch so.‹ – Da wird der Staatsanwalt knallrot, ein nie dagewesenes Phänomen, mir hat es der junge Hund, der Referendar, nachher erzählt und dabei sich vor Lachen geschüttelt. – ›Ich könnte es sonst nicht verstehen‹, hat Steffie orakelt, ›daß Sie sich gegen einen in Krieg und Frieden stets national gesinnten und vielleicht sogar wohlverdienten Mann zu einer so gehässigen, haltlosen Anklage hergeben und meinen ehrlichen Namen in den Schmutz zu zerren versuchen. Wegen ein paar Läppereien im Büro! Das passiert überall, liegt nur an dem – System. Formulare! Formulare?! Deshalb gehen Sie mir an meine Ehre? Verhaften mich! Verhören mich Tag und Nacht. Mich! Aber, was will man von Ihnen groß verlangen?‹«
Konrad fügte noch unten an: »Bitte Liebes, komm also unter allen Umständen und komme gleich, es mag der Grund Deiner plötzlichen, unüberlegten Abreise gewesen sein was immer. Ich grüße Dich und küsse Dich und mein Töchterchen in Liebe wie immer, Dein Konrad.« »Wie war das also?«« fragte er dann, den Hörer fester an sein Ohr pressend, und der Gefängnisdirektor erzählte weiter: »Dem Staatsanwalt imponiert soviel Unverschämtheit doch, und er läßt es so weitergehen, als wären sie beide am Stammtisch und nicht beim Verhör. ›Wie ich dazu komme, wollten Sie eben wissen, Herr Substitut? Du lieber Gott, sind Sie nicht Vertreter des Novemberstaates, der – Saurepublik?‹ ›Wie? Was? Was?‹ schreit der Substitut käsebleich und fingert wie verrückt mit seinen zehn Fingern herum, wie das seine Gewohnheit ist. ›Nanu? Nanu!‹ sagt Steffie. ›Was ist denn los? Welch ein Erstaunen? Ich meine natürlich – saubere Republik.‹ So kleckst der Kerl vor sich hin. Jetzt war er schlagfertig. Bei seinen Unterweltsbrüderchen leider nicht immer. Wer mag ihn wohl Kleckschen genannt haben? Eine ganze Menge von dieser Bande hat ulkige Spitznamen, meist dumme. Aber wer diesen Kerl Kleckschen getauft hat, der muß ihn sehr genau aus der Nähe gekannt haben, weiß Gott. Und so hat unser Kleinkleckschen auch diesen Pfeil seelenruhig auf unseren Vertreter der Obrigkeit abgeschossen, und immer noch läßt er nicht nach, und der andere hat Angst, bei den nächsten Wahlen könnte es scharf rechtsum gehen und er bliebe vielleicht zeitlebens auf seinem elenden Substitutsgehalt sitzen bei all seiner Klugheit und Anständigkeit, er hört sich also alles vor Zeugen an und ringt nur die Finger nach seiner Art. ›Herr Staatsanwalt haben mich wohl immer noch nicht recht verstanden‹ so kleckst der alte Bursche vor sich hin in seinen gefärbten Bart und sabbert in stiller Freude ein weniges auf seine Hemdbrust hinunter, ›wir werden nun mal die hochehrwürdige deutsche Republik von Weimars Gnaden buchstabieren, also: S wie Salomon, A wie – sagen wir Aaron, U wie Unkraut, B wie Benjamin, E wie Elias, R wie Ruth, sauber, sauber, kennen das Wort doch noch, sauber wie Novemberwetter, sauber wie mein ehemals weißes Hemdbrüstchen.‹ Darauf reckt sich der fiese Kerl, läßt seine alte, aber immer noch recht ansehnliche Muskulatur spielen, zieht die Manschetten mit den großen Brillantknöpfen züchtig vor und sieht dem Untersuchungsrichter starr ins Gesicht. Na, und was willst du, Herzenssohn, an diesem Tage, heute mittag war's, da wurde für die Republik mit dem unglückseligen Geburtsfehler keine Lanze mehr gebrochen. Und doch, das ist mir jetzt aufgegangen, wo sich allerhand Säue an diesem Pfahl den Rücken reiben, vielleicht ist der neue Staat besser als sein Ruf. Nicht an dem System hapert's, jedes System hat Schwächen, nur am Murr, am Zug, an der Menschenbehandlung. Aber das muß man ja. einem Steffie lassen, da ist noch etwas, er kann etwas, ritterliche Künste, Jiu-Jitsu, Fechten, Schießen, was du willst, und alles Ia. Ein welterfahrener Mann, allerdings ein zu großer Genießer, zu rücksichtslos, ein Menschenleben ist ihm keine Zigarette wert, darin begegnet er sich wunderbar mit der heutigen Jugend. ›Ich höre da immer von Rosenfinger. Was wollt ihr nur alle mit eurem Rosenfinger? Wieviel sind bei Verdun gefallen? 80 000 oder 800 000? Darüber sollt ihr trauern, aber Zollikofers, deren wird es immer geben. Immer zuviel.‹ Und man wagt ihm nicht recht an die Nieren zu gehen. Er schlägt zurück. Aber wenn er wirklich etwas zum Auspacken hat, dann gibt das eine Zirkusvorstellung mit allen Attraktionen zu Wasser und zu Lande und zur Luft! Aber sei unbesorgt, die Schlußrede haben wir. Seine Frechheit blendet im Augenblick, er schmettert einen mit seiner Unverschämtheit zu Boden und macht K. O., aber auf die Dauer kann er sich nicht halten. Es ist zuviel gegen ihn. Man tut nichts Besonderes dazu, und doch belastet fast alles ihn, und was übrigbleibt, belastet seinen Freund Chiffon. Rudolf ist aber genausosehr oder sowenig Himmel einen zerbrochenen Topf ganz gemacht hätte. Neuerdings scheint dein Bruder den Wunsch zu haben, die Mutter zu sehn. Nun, das wird ja ein Theater geben! Aber vielleicht schadet es nichts. Mag er nur beichten und flennen. Das alles ist ja so hohl!«
»Das wäre doch ein großes Glück!«
»Sicher, das wäre es. Man soll nie verzagen. Eure Mutter scheint sich jetzt zu erholen. Meine Frau weiß mehr. Langsam wird es Tag! Da ist auch noch von einem ominösen Spitzentaschentuch die Rede, das man in Rudolfs Paletottasche gefunden hat, das aber offenbar nicht Rudolf gehört und das er empfangen hat, als er schon gefesselt war. Vielleicht führt auch das weiter. Laß uns erst mal diesen Halunken Chiffon haben!«
»Wo sucht man nach ihm?«
»Wo? Wo? In Köln, glaube ich. In Köln wohl. Jetzt gute Nacht. War doch gut, daß wir uns gesprochen haben.«
»Das hat auch mir sehr, sehr wohl getan. Ich danke dir sehr.«
»Hättest du schon längst haben können. Versteck dich nie mehr vor mir! Nein?«
»Nein!«
»Und grüß Flossie! Alter Bursche, grüße sie bald!«