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V.

An dem Portal des Gefängnisses begegnete Konrad dem katholischen Gefängnisgeistlichen Stanislav Jarausky, der sich ihm beim Heimweg anschloß. Der schon über 58 Jahre alte Geistliche war mit der Familie D. seit vielen Jahren befreundet. Er war zeitweise der Beichtvater der Mutter Konrads gewesen, hatte Hilda bei ihrem Streben, von zu Hause fortzukommen, unterstützt und hatte sie in das geistliche Erziehungsinstitut hinbegleitet, wo sie sich jetzt, fast vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen, befand; er hatte Konrads Töchterchen getauft. Konrads Freund war er trotz allem nicht.

Dieser Geistliche, ein wahrer Menschenfreund, der in jedem Menschen, auch in der verworfensten Kreatur etwas Bemitleidenswertes und mit christlicher Liebe zu Umfassendes sah, war im Gefängnis nicht beliebt. Daß er den Subalternbeamten nicht sympathisch war, konnte man verstehen, denn er nahm zu oft die Partei der Unruhigen, der schwer »in stramme Zucht« zu Bringenden, er hörte stundenlang den Querulanten zu und erweckte in ihnen den Glauben, er halte ihre Klagen für berechtigt, ihre an Verfolgungswahn grenzenden Systeme für logisch. Er war auf Schonung der körperlich Schwachen bedacht, die sich in den »wie ein geölter Blitz« laufenden Fabriksbetrieb, Marmorschleiferei, Tüten- und Kartonagenfabrik, Hauswerkstatt, Garten und Feld, nicht so einfügen wollten, wie man es von ihnen erwartet hatte. Er redete mit den abgebrühtesten Verbrechern wie mit seinesgleichen und erlaubte ihnen sogar, sich in seiner Gegenwart zu setzen, er schloß die Augen vor ihrem höhnischen Lächeln, vor ihrem gotteslästerlichen »Trieb«, wenn sie aus den Heiligen- und Muttergottesbildchen mit den Nägeln oder durch raffiniert ausgeklügelte Kniffungen obszöne Bildwerke fabrizierten, um diese zu verkaufen oder für Gegendienste zu verleihen. Nicht er war es, der dies zur Anzeige brachte und dadurch den Betreffenden einige Tage »B.Z.«, das heißt Beruhigungszelle verschaffte, sondern regelmäßig waren es Mitgefangene, die sich ebenfalls an diesen Scheußlichkeiten hatten weiden wollen, denen dieses aber nicht gelungen war, weil sie den Gegenwert im Gefängnistauschhandel nicht hatten erlegen können oder wollen. – Weshalb aber liebten ihn auch die Gefangenen nicht? Selbst der Arzt, der im allgemeinen nicht »dußlig«, das heißt weichherzig war, und vor allem selbst der oft rücksichtslos energisch auftretende Direktor, ja selbst der knickerige Rentamtmann, der die Wirtschaft des Hauses und insbesondere die Küchenauslagen regelte, alle waren beliebter als Jarausky. Wie oft hatte er die körperlich Schwachen gegen die körperlich Überlegenen zu schützen gesucht, die Unerfahrenen und Verzweifelten gegen die Abgebrühten und Zynischen, man wich ihm nur um so mehr aus. Seine von Liebe und Mitleid überquellenden Predigten, die er, immer die gleichen nach einem gewissen Turnus, mit seiner etwas heiseren Stimme, oft unter echten Tränen, sonntags und feiertags von der Gefängniskanzel herab vortrug, machten auch die frischen, leicht zu beeinflussenden Gefangenen nur gähnen, und die älteren Insassen verständigten sich während der Predigten, aufgeregt mit der Zunge hinter den stummen Lippen spielend, durch Fingersprache an den hölzernen Trennungswänden, und ihr einziger Wunsch wäre nur der gewesen, Jarausky hätte weniger mit der Stimme gezittert, dafür aber lauter gesprochen, denn bei dem gar zu süßen, leisen Singsang seines aus dem Halse kommenden Organes mit dem wasserpolnischen Akzent konnten die Wachen das Pochen zu leicht hören, und dann »setzte es etwas«, nämlich die gesetzlich gestatteten Stockhiebe, mindestens zehn, oft aber mehr. Der protestantische Geistliche, der kräftig drauflosdonnerte, war bei »seinen« Gefangenen viel mehr beliebt, vor ihm nahmen alle, auch die katholischen Sträflinge, »Haltung« an, während sie an dem alten Jarausky oft mit schiefem Mund und scheelen Blicken vorbeischleiften, manchmal absichtlich einen erbärmlichen, hündisch flehenden Gesichtsausdruck annehmend, um sein Mitleid herauszufordern. Kam er aber hinter ihnen her, beseelt von dem Wunsche, ihnen, auch ohne daß sie es verlangten, zu helfen, liefen sie davon, der Geistliche in seinem schleppenden, vor Alter in den Nähten krachenden Gewande konnte nicht flink genug folgen und merkte zu spät, daß man sich über ihn lustig gemacht hatte.

Aber ihn machte nichts irre. Er hatte seine geistlichen Examina nur mit Mühe bestanden, viele Gedanken gingen in seinem Kopf nicht um, aber er stand fest in seinem Glauben, er glaubte an das Wort des heiligen Augustinus (seine Prüfungsfrage im Examen), »die Vollendung des Gesetzes ist die Liebe«, er glaubte an die Erlösung jeglicher sündigen Menschheit durch das teure Opferblut Christi, er glaubte felsenfest an die gerechten Gerichte voller Zorn, aber noch mehr voller Gnade jenseits des Grabes und der Auferstehung, an die alles umfassende Heilkraft der heiligen Sakramente, die diesen verlorenen Schäfchen zu spenden seine Pflicht war.

Seine mäßigen Einkünfte rechnete er nicht nach, er verbrauchte sie nur zum geringsten Teil für sich. Er sparte an Essen, an Kleidung, selbst an Seife. Seine Sauberkeit war nicht immer tadelsfrei, seine Kleider hatten Speckglanz, und ihr Schwarz war grünlich geworden, er ging oft tagelang unrasiert umher, was die Gefangenen höhnisch mit Anspielungen auf seine Abstammung feststellten, während der protestantische Geistliche stets wie aus dem Ei gepellt, mit sauberen, in gesundem Rot glänzenden Wangen unter ihnen erschien, kein Stäubchen auf seinem tadellos geschnittenen Gehrock. Seine Einnahmen waren, so glaubte Jarausky, nicht für seine unwichtige Person bestimmt. Einen Teil verwandte er auf Ausschmückung der Gefängniskapelle, sehr zum Verdruß des Protestanten, dann für die bunten, goldumrahmten, oft kunstvoll geprägten Bildchen, die er unverdrossen an die Gefangenen austeilte, obwohl sie doch immer wieder mißbraucht wurden.

Schon im Mai jeden Jahres wurde von ihm ein Krippenfond angelegt für die Weihnachtsbescherungen, und nur der Rest seines Einkommens fiel, oft nach sehr erregten, in polnischer Sprache geführten Unterredungen, seiner alten, aber noch sehr lebenslustigen Mutter zu, die dieses Geld weniger in Essen, Kleidung, Miete als vielmehr in Spirituosen und in Lotterieanteilen anlegte und die durch keinen Mißerfolg bei den Losen und durch keinen Katzenjammer nach dem Schnaps zu belehren war.

Er hielt, wie dies vorgeschrieben war, die Sträflingsschule und widmete ihr viel mehr Zeit, als im Anstaltsplan vorgesehen war. Trotzdem waren seine Erfolge sehr gering. Die Sträflinge gingen nur höchst ungern hin, obwohl sie doch während dieser Zeit von körperlicher Arbeit ebenso wie von der furchtbaren Einsamkeit in den Einzelzellen befreit waren. Sie dösten, in die engen Schulbänke geklemmt, mit leeren Augen und offenem Mund dahin, bei den Prüfungen antworteten sie widerwillig, gaben absichtlich alberne, zum Lachen reizende Antworten, waren bockig und boten der Aufsichtsbehörde solches Ärgernis, daß die Rede davon war, die Stelle des Gefängnisgeistlichen – und Lehrers möglichst bald durch eine jüngere und selbstbewußtere Kraft zu besetzen. Aber als man beim bischöflichen Ordinariat dies dem armen Jarausky vorschlug, wehrte er sich, er versprach mehr Energie, er wollte von seinen undankbaren Schülern nicht lassen, und da eigentlich nichts gegen ihn vorlag, ließ man alles, wie es war.

Nun ging er neben dem Arzt einher und begleitete ihn heim. Es war sehr feinfühlig, und es war ganz christlich, daß er den Bruder Rudolfs schonte, daß er ihn weder zu trösten versuchte, noch daß er ihm Vorwürfe machte, wie solche der Untersuchungsrichter zum Beispiel beim Verhör in ganz unverhüllter Weise gemacht hatte; er ging in etwas ungleichem Takt neben ihm her, sah ihn von der Seite an, nicht zu oft, nicht mit der Neugierde, nicht mit dem Gedanken: das ist also der Bruder des unter Raubmordverdacht verhafteten, schwer kokainkranken Rudolf D. Er begann kein Gespräch über die häuslichen Angelegenheiten des Arztes, über seine Frau, sein Töchterchen Ottegebe, das er aus der Taufe gehoben hatte und das daheim nur den Namen »unsere Otto« trug, er versuchte den Arzt nicht abzulenken von dem, was ihn in seinem Inneren durchwühlen mußte. Der feinste Menschenkenner, der zarteste Seelenarzt hätte nicht schonender vorgehen können – und dennoch war er jetzt dem Arzt mit seinem Schweigen und seiner Feinfühligkeit zur Last.

Konrad sehnte den Augenblick herbei, in dem der Geistliche sich endlich verabschieden würde. Auch das bemerkte der Menschenfreund, er suchte nach einer Form, und da er sie in seiner Schüchternheit nicht sofort fand, hängte er sich weiter dem Arzte an, der zu gern wenigstens fünf Minuten allein geblieben wäre. Schon war das Haus Konrads in der Nähe, in dem Speisezimmer waren die Fenster geöffnet. Der Frühsommerwind bauschte die sauberen, frisch geplätteten Vorhänge zu den Fenstern hinaus, und sowohl der Arzt wie der Geistliche sahen, wie Flossie hochroten Gesichtes sich zum Fenster herausbeugte, dann beim Anblick der zwei Männer wie erschrocken zurückfuhr. – Jarausky seufzte, drehte die Finger, und erst an der Haustür verabschiedete er sich, ungeschickt genug.


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