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Chiffon hockte jetzt verzweifelt am Bette seiner Vera und versuchte vergebens, sie zu erwecken. Das, was er in der letzten Nacht für den Teil eines Badethermometers gehalten hatte, war nichts anderes als ein Röhrchen, das er längst hätte erkennen müssen, das alte Röhrchen mit zwölf Veronaltabletten. Jetzt hielt er es vor sich hin und schüttelte es, als hoffe er, einige Pulver seien darin zurückgeblieben. Aber nur ein Wattebäuschchen senkte sich hinab, das zum Schutz der leicht zerbrechlichen Pulver in der Tube gewesen war.
Sollte er sofort einen Arzt kommen lassen? In diesem Ort war keiner ansässig, man hätte in das Nachbardorf telephonieren müssen. Das kleine, gottverlassene Hotel hier wäre in Aufruhr geraten und plötzlich bekam Chiffon Angst, die Polizei könne auf ihn aufmerksam werden, und bis jetzt war es ihm doch so schön gelungen (Gott verläßt die Schlauen nicht!), sie von sich fernzuhalten. Aber Vera! Seine innigstgeliebte Vera, die sich wie tot hin- und herschütteln ließ! Er wollte aber keinen Augenblick verlieren, wenn es galt, eine Gefahr abzuwenden.
Bestand aber schon bei zwölf Pulvern eine solche Gefahr? Vera lag da, die nackten Arme ihrer ganzen Länge nach auf dem himmelblauen, seidenen, in Karos gesteppten Deckbett ausgebreitet. Ihre Farben waren nicht schlecht, die Falten um das Mündchen ausgeglichen. Sie atmete regelmäßig und tief. Und doch war wohl Gefahr da? Wer konnte ihm jetzt raten?
Er ging zum Fenster, sein Herz pochte zum Ersticken, in seinem Innern wühlte es wie mit Messern, und doch durfte er jetzt nicht an sich denken, sondern nur an seine geliebte, einzige Vera.
Wie konnte sie dazu gekommen sein? Hatte sie sich allen Ernstes das Leben nehmen wollen? Aber das große Kind kannte doch keinen Ernst! Er konnte es nicht fassen. Ein so glückliches Geschöpf, seine Vera, die endlich ebenso »phantastisch selig« war, mit ihm ihre Hochzeitsreise angetreten zu haben, wie er mit ihr. Hinter ihm in dem großen, hellen Zimmer raschelte es. Er wandte sich schnell um. Er glaubte, sie sei erwacht, ihre kräftige Natur, ihre glücklichen fünfundzwanzig Jahre hätten die betäubende Wirkung überwunden. Vielleicht hatte sie eben erst ihr Händchen bewegt? Er kehrte an das Bett zurück, ihm schien wirklich, das feine, weiße Händchen mit den vielen Ringen wäre in ein anderes Feld der Daunendecke gerückt.
Wie aber sollte er das erkennen? Er hob ihre Hand auf (sie wog schwerer, als er gedacht hatte), und als er den Pulsschlag in einem ganz regelmäßigen Zucken einer kleinen Hautstelle unter dem Handgelenk, in einem winzigen Überschweben eines feinen Schattens über der Schlagader genau sechzigmal in der Minute sich abzeichnen sah, fühlte er sich ruhiger. Es war vielleicht eine zwar starke, eine »ordentliche« Dosis Veronal gewesen. Aber doch keine, die lebensgefährlich war? Jetzt machte er sich Vorwürfe, daß er früher Erzählungen von derartigen »Kindereien«, das ist: Selbstmordversuchen, nie hatte ernst nehmen wollen, da er immer sicher gewesen war, weder ihn selbst noch sein geliebtes Verachen könne einmal solch ein Schicksal treffen.
Vor allem sollte unbedingt der Arzt geholt werden, aber möglichst ohne »Theater« (schon zu sehr waren er und seine Vera hier aufgefallen), und so legte er seine Vera noch etwas molliger in ihrem Bette zurecht, wobei er Kissen von seinem eigenen Bette aus dem Nachbarzimmer mit herzuschleppte, dann ging er, ganz leise die Tür schließend, als fürchte er, er könne die so hold Schlummernde aus ihrem rätselhaften, schweigenden Schlaf erwecken, aus dem Zimmer, begab sich in die Portierloge und verlangte eine Telephonverbindung mit dem Arzt.
Heute, am Sonnabend, war ein etwas lebhafterer Betrieb in dem Hotel, das besonders für Wochenendgäste sich hatte einrichten müssen. Freilich war das Wetter nicht sehr einladend, wie es der Portier in einer langen geschwätzigen Rede betonte, die Wolken zögen sich im Wetterwinkel unheilverkündend zusammen. Für das Hotel bliebe die einzige Hoffnung, daß es in Prag herrlichsten Sonnenschein, hier aber ein ordentliches Regenwetter geben würde, denn unter solchen Umständen müßten viele Gäste sich im Hotel aufhalten und mehr verzehren. Chiffon in seiner Ungeduld verstand nicht, welche Wichtigkeit der Portier diesen Betrachtungen beimaß. Mindestens eine ebenso große wie dem Bitten Chiffons, den Arzt im nächsten Orte heranzurufen. Er selbst durfte ja nicht telephonieren, denn er konnte nicht in der Landessprache die Nummer nennen, obwohl sie ihm der Portier viele Male vorsprach. Er schüttelte sich vor Ungeduld, Sorge und Wut – aber er, er beherrschte sich.
Der Portier verstand die Ungeduld Chiffons nicht. »Kommt Zeit! Kommt Rat! Nur mit der Ruhe!« Nach fast einer Viertelstunde, während der Chiffon, wie auf die Folter gespannt, von einem Fuß auf den andern trat, meldete sich endlich die Nummer des Arztes. Aber der Doktor war zu Patienten in der Umgegend gefahren – vor eben zehn Minuten – mit seinem Motorrad, man würde anrufen, sobald er zurückkäme.
»Er soll dann sofort kommen!« wollte Chiffon rufen: »Er sososoll«, aber schon hatte er begonnen zu stottern, inzwischen wurde die Verbindung getrennt. Vergebens versuchte der Portier, sie wiederherzustellen.
Endlich, als sich Chiffon bereits auf der Treppe befand, klingelte es wieder aus der Telephonzelle. Chiffon stürzte sofort wieder zurück, der Portier gab ihm aber den Hörer nicht in die Hand, sondern sprach, breit lächelnd, in seinem für Chiffon unverständlichen Idiom in den Apparat hinein, mit seiner Bärentatze Chiffon davon abhaltend, den Hörer zu ergreifen.
»Wawawawawas ist, wawawann kommt er, der Arzt?« fragte endlich Chiffon, immer von neuem in sein unseliges Stottern geratend.
Der Portier schüttelte den Kopf.
»Aaaa-aber Sie haben doch eben erst –«
»Nur mit dem Postamt. Macht siebenfünfzig.«
»Wie, was? Siebenfünfzig? Wie, was?«
»Sie können sofort zahlen, sieben Tschechenkronen, fünfzig Heller«, sagte der Portier etwas ungeduldig, da ein Motorrad mit zwei jungen Leutchen vor dem Portal des Hotels hielt, voraussichtlich die ersten Wochenendgäste.
»Wann – kommt – er?« fragte Chiffon, da er sein ganzes Augenmerk darauf gerichtet hatte, deutlich zu artikulieren.
Der Portier glotzte ihn verständnislos an.
»Es ist gut – ich zahle später«, sagte Chiffon, sich mit aller Mühe fassend, »und sobald der Doktor kommt, soll er sofort hinaufkommen.«
»Ja, was ist es denn? Die gnädige Frau fühlt sich vielleicht nicht wohl?« fragte der Portier, jetzt wieder höflicher werdend, als er gemerkt hatte, daß die jungen Leute das schwere Motorrad zu zweit an eine Barriere am Ufer des Sees geschoben hatten, da sie offenbar nicht die Absicht hatten, über Nacht hier zu bleiben.
»Nichts! Eine Kleinigkeit! Das zarte Geschlecht! Hahaha! Schlechter Schlaf, nicht? Immerzu! Es wird schon besser!« sagte Chiffon, bereute aber diese Worte, sofort. Er hätte im Gegenteil den Zustand seiner Frau viel düsterer darstellen sollen, damit der Portier den Arzt schneller herbeischaffe.
Chiffon lief jetzt die Stufen wieder empor, mit der Hand fest auf den Leib drückend, um die rasenden Schmerzen im Magen abzuschwächen. Als er die Tür öffnete, war ihm, als hätte sich Vera eben aufgerichtet, als hätte sie in ihrer kindischen Schelmerei bloß die Kranke spielen wollen. Aber sie hatte ihre Lage nicht geändert. Er setzte sich erst an den Bettrand, dann aber, sehr traurig, ließ er sich auf den Teppich zu Füßen des Bettes niedergleiten, legte den Kopf auf die Bettdecke, und zwar so, daß Veras warme, weiche Hand seine Haare gerade noch berührte. Die wütenden Magenschmerzen besänftigten sich etwas.
Daß ihre Hand so weich, so warm war (wärmer als sonst, so schien es ihm), das war doch sicher ein gutes Zeichen. Nur ein klein wenig Geduld! Vielleicht schlug Vera sofort die Augen auf, wenn man sie beim Namen rief oder ihr ein Licht vor die Augen hielt oder... Er erhob sich sofort wieder und sah sie an, angestrengt nachdenkend. Plötzlich fiel ihm ein, ein »starker Sinnenreiz« würde sie vielleicht am schnellsten aus ihrem unseligen langen Schlafe wecken. Eine starke, schöne Musik, Pauken, Trompeten, Beethoven zum Beispiel. Aber hier Beethoven?! Am Nachmittag gegen fünf Uhr sollte es Tanzmusik geben. Und sie hatte sich in der letzten Zeit gewünscht, wieder einmal mit ihm zu tanzen. Vielleicht war sie bis dahin erwacht, hatte frische Augen, ihre guten alten schönen Farben ... Mit einem Seitenblick streifte er das Nachtkästchen, auf dessen Glasplatte neben ihren vielen schönen Ringen der goldgefaßte Lippenstift lag, mit dem sie sich in der letzten Nacht die Männergesichter auf die Knie gezeichnet hatte.
Und ein solches Sonnenkindchen sollte Selbstmordabsichten haben? Einen Augenblick dachte er daran, sich das Bild auf ihrem Knie anzusehen, aber dann deckte er sie noch fester zu. Er beugte sich über sie und hätte sie gern geküßt, aber er hatte eine Art Scheu davor. Statt dessen nahm er die schweren großen warmen Perlen ihrer Perlenschnur, die sie anbehalten hatte, zwischen seine Lippen und ließ sie eine nach der andern hindurchgleiten, von einer in Worte nicht zu fassenden Zärtlichkeit für dieses, sein einziges, rotblondes Häschen erfüllt – langsam verzogen sich seine Schmerzen ganz –, plötzlich knirschte es unheilverkündend zwischen seinen Zähnen, denn er war an die Diamantschließe gekommen, die das Halsband im Nacken zusammenhielt. Er schrak auf. Veras Gesichtchen hatte sich etwas verändert, es waren Schweißtropfen auf dem Nasenrücken zu sehen, wo einige goldbraune Sommersprossen verstreut lagen in der flaumartig matten Haut... Vielleicht war ihr die Decke, die er vorhin bis zum Halse emporgezogen hatte, zu schwer. Ihr Hälschen war so dünn, die zwei Linien um ihren Mund, die er zuerst im Eisenbahnwagen zwischen B. und Prag an ihr beobachtet hatte, hatten sich verschärft. Nicht mehr wie mit einer Nadelspitze angeritzt, sondern wie mit einer Messerschneide eingeschnitten, liefen sie neben den kleinen Nasenlöchern hinab zu den Mundwinkeln. Wessen Werk waren sie? Nur Rudolfs Werk! Und Chiffons Haß, der sich in seinem Glück etwas beruhigt hatte, flammte wieder auf. Aber was konnte er tun! Er wußte ja nicht einmal, welches von den beiden Fratzengesichtern, die Vera auf ihre Knie gezeichnet hatte, sein Bild war und welches Rudolfs Fratze.
Er trat von ihr weg und sah auf die Tanzterrasse hinab, wo die Kellner unter lauten Gesprächen die Tische deckten und die wehenden Tischtücher mit Klammern an den Tischplatten befestigten, denn es hatte sich unter dem stark bewölkten Himmel ein sausender Gewitterwind erhoben. Er wollte zornig auffahren. Schon hatte er in seiner Wut darüber, daß sie sein Verachen im Schlafe störten, ein lautes Wort hinuntergerufen, als ihm plötzlich einfiel, es wäre ja gut, daß sie Lärm machen, vielleicht weckten sie dadurch seine Frau wieder auf.
Die Kellner hatten erschrocken nach oben gesehen. Er tat, als bemerke er es nicht. Einer von ihnen stellte, wie es schien, eine Frage an ihn, im Heranknattern eines Motorrades verstand er sie nicht und nickte nur gleichgültig, dann kehrte er vom Fenster ins Innere des Zimmers zurück.
Im Zimmer herrschte eine starke Unordnung, wie er erst jetzt, genauer umhersehend, bemerkte. Flink auf den Zehenspitzen umhertrippelnd räumte er Verschiedenes in den Schrank, ein Käppchen, das weiße Mäntelchen, einen Gürtel aus Seide, die weißschwarze Federboa, ein Parfümfläschchen, eine Dose mit Gesichtspuder, ein Glasgefäß mit Hautpuder, Watte zum Abschminken, eine Nadel mit ihrem Buchstaben V., ein Kämmchen, den Rücken in Gold gefaßt, mit einem Haar von ihr, ihr Nähbeutelchen, ihren Manikürkasten, Magazinhefte mit Eselsohren, ein kleines Notizbuch mit klebrigem Einband, weiße Schuhpaste, gelbe Schuhcreme, viele kleine billige Spiegelchen, die Bildchen von Schokoladenpackungen, mit einer Nähnadel aneinandergeheftet, getrocknete Blumen in einem Kuvert ohne Aufschrift, Schachteln mit Zigaretten, Schachteln mit Knöpfen, mit allerhand Kleingeld, mit gebrauchten Fahrscheinen – Kuverte von Briefen an ihn aus der Zeit in B., eine Bürste mit silbernem Rücken –, dann zwei Paar weiße, etwas angeschmuddelte Handschuhe, einige Wäschestücke. Die cremefarbenen Schuhe schlug er über die Leisten, machte Ordnung überall, die winzigen Schokoladebrösel fegte er vorsichtig, damit sie auf der Daunendecke keine Flecken hinterließen, in die hohle Hand und schüttelte sie aus dem Fenster. Hätte sie nur Rudolf nie gekannt!