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XIV.

Manfred aber empfand jetzt ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. Es beseligte ihn so, daß es ihm mit der ausgestandenen Angst und Qual und den Gelübden (kommt Zeit, kommt Rat) nicht zu teuer bezahlt erschien. Er war frei, er war (bis auf Steffie) unabhängig, er war nicht süchtig, er war reich, mit der Polizei war und blieb er gut Freund, mochten auch die Demokraten sich die Herren dünken, Rosenfinger war tot, er, Manfred, hatte geschwiegen, er hatte gesiegt, er genoß seine Rache kalt. Er sah, wie Vera einige glitzernde Metallplättchen von der Erde auflas und zu ihren Lippen führte. Noch immer blickte sie Rudolf an, aber er erwiderte glücklicherweise ihren Blick nicht mehr. Stumpfsinnig starrte er zu Boden. Jetzt schüttelte er die Hände, wie eine Katze die Beine schüttelt, wenn sie in Teer getreten ist. Unter seinen schlotternden, geknickten Hemdmanschetten klirrten zwar nicht die Handfesseln, denn diese lagen zu fest an, aber das kokette Armband. Mochte es nur klirren! Er kannte es ja gut, ebenso die Metallplättchen, die Vera eben vom nackten Fußboden aufgelesen hatte, sie waren nichts anderes als die Trümmer der Manschettenknöpfe, die sie ihm vor Jahr und Tag zum Namenstag verehrt hatte und die beim Handgemenge abgesprungen waren. Jetzt freute sich Manfred mehr darüber, daß dieses Andenken zugrunde gegangen war, als daß es ihn kränkte, daß die Knöpfe ein Liebesgeschenk seiner Frau an seinen Todfeind gewesen waren. Das war es, was ihm bei seinen »Kindern« immer den größten Heidenspaß gemacht hatte: mehr noch, als daß er sich bereicherte – daß die anderen ärmer wurden, das gab ihm Wonne. Daß Vera jetzt nur noch auf ihn angewiesen war, daß sie nicht mehr auf eine Wiederkehr des verlorenen Geliebten, des von der Polizei wegen Mordes verfolgten Schwerverbrechers rechnen durfte, das ließ ihn lächeln und mit übertriebener (und dabei doch echter!) Zärtlichkeit die Hand der Frau streicheln, von der er sich bei aller sinnlichen Hörigkeit jetzt gehaßt glaubte und von der er bei aller kalten Klugheit doch nicht lassen konnte.

Aber andere im Elend zu wissen, besonders in selbstverschuldetem, das tat seinem schnöden Herzen unbeschreiblich wohl. – Er stieß mit dem Fuß in den zusammengeknäulten Teppich, hob die Spielkartenpakete, die im Tumult unbeschädigt geblieben waren, vom Boden auf und schichtete sie auf dem Schreibtisch auf.

Der Gefangene blickte sich jetzt noch einmal im Räume um. War es hier, wo er von dem teuflischen Chiffon vor Jahren schon so manche Rauschgiftbriefchen erhalten hatte? Sie waren rot gewesen. Jetzt lagen sie auf der Erde. In seiner ernüchterten Wut blickte er auf die kostbaren, umhergestreuten, zum Teil aufgerissenen Pulverbriefe hinab. Plötzlich fletschte er die Zähne, dann spannte sich sein Gesicht zu zynischem, grinsendem Ekel, und er spie dem Spielbankbesitzer, der sich unvorsichtig zu sehr in seine Nähe gewagt hatte, ins Gesicht. Er bereute, daß er ihn von der sausenden Kassentür weggestoßen, daß er ihm das schäbige Leben gerettet hatte.

Manfred beantwortete dies mit seinem alten, bösen Lächeln, holte sich aus der Tasche des wehrlosen Gefangenen dessen feines, handgesäumtes Taschentuch, wischte sich die Nässe ab, warf es dann auf den Teppichknäuel in die Ecke, unbekümmert auflachend. Dem Kommissar war dies nicht recht, er tadelte Manfreds Verhalten durch einen strengen Blick. Jetzt fielen auch ihm die in verschiedenfarbenes Papier gewickelten Briefchen auf. »Was haben Sie da? Wie kommen Sie dazu? Rotes Zeugs, grünes Zeugs, was soll das, wie? Was ist denn zum Beispiel das hier?« fragte er und hob eines der Briefchen auf, schüttete den Inhalt – weißes, glitzerndes Pulver – auf die Handfläche und dann auf den Boden, wo es wie Pulverschnee verstäubte. Manfred zuckte die Achseln. »Aspirin! Nein? Vielleicht doch kein Aspirin? Was glauben Sie?« fragte er ironisch den Polizisten.

In diesem Augenblick war die Hitze in dem engen Raum durch die Anwesenheit so vieler Menschen bei geschlossenen Fenstern so gestiegen, daß Rudolf Durst bekam. Er fragte einen Polizisten (nicht Vera), ob er nicht »vorher« etwas zu trinken bekommen könne. Die Beamten waren des gefährlichen, baumstarken Menschen ohne Anwendung der Waffe Herr geworden. Das stimmte sie als Männer einem Mann gegenüber milde, auch wenn es ein Mörder sein sollte. Sie sahen den großen leichenblassen Menschen von der Seite an. Es war sonderbar, daß man Rudolf nicht leicht zürnen konnte. Und was lag an einem Glas Wasser? So ließen sie es, dem höhnischen Ausdruck auf Manfreds Gesicht zum Trotz zu, daß Vera in die Küche eilte und mit einer Flasche Wein zurückkam, die sie mit Hilfe des Wachtmeisters entkorkte, um aus einem zufällig dastehenden Wasserglas (ein Weinglas hatte sie vergessen) das Getränk ihrem Rudolf einzuflößen.

Aber es schien ihm nicht zu behagen. »Bitter! Bitter!« sagte er heiser. – »Nein, nein! Rudolf!« antwortete Vera leise.

Sie ließ die Augen nicht von seinen schönen, aber schon leicht angegrauten Haaren, von seinen regelmäßigen, aber doch schon sehr verwüsteten Zügen, von seinem kleinen zarten Munde, dessen hellrosa gefärbte, etwas kraftlose Lippen jetzt den Rand des Glases umfaßten. Er trank weiter, denn der Durst war stärker als die »Bitterkeit«, die er im Wein gespürt hätte. Sie strich ihm zart, fast ohne ihn wirklich zu berühren, mit ihrer freien linken Hand über sein immer noch lockiges Haupthaar. Die grauen Fäden, die sie bei ihrem Manne immer abgestoßen hatten, rührten sie bei ihrem »großen Jungen«, bei ihrem armen Rudolf, fast zu Tränen, aber sie beherrschte sich. Konnte sie ihm nicht helfen, ihm in nichts nützlich sein? Jetzt führte sie ihre kleinen, rosigen, ringgeschmückten Fingerchen zwischen die lauwarm gewordenen Handfesseln und die Haut ihres Geliebten. Sie war ihm jetzt so nahe wie noch nie, sie hätte fast immer bei ihm so bleiben mögen.

Aber die Polizisten drängten zum Aufbruch. Fröstelnd schlang Vera die Enden ihrer Federboa um ihren Hals, einzelne weiche Federn berührten streichelnd seine beiden geballten Fäuste. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Sie ließ sie halb offen, und zwischen ihnen schimmerten die bezaubernden, bläulichweißen Zähnchen hervor.

Sie senkte den Blick. Unter ihren langen, emporgerollten, schön gebogenen, messingfarbenen Wimpern lagen bläuliche Schatten, und die Adern zeichneten sich ab in zarter Verzweigung, blau wie bei einem kleinen Kind.

Sie hielt das Weinglas in der Hand, sie trank, während ein tiefer Seufzer aus ihrer Brust kam, den letzten Tropfen aus, dabei sah sie noch einmal von unten ihren großen Rudolf an, und er erwiderte diesen Blick von oben herab, aber unsicher, voller Zweifel und scheinbar ohne ganz zu verstehen, wo er war. Allmählich kam mehr Leben in seine Züge, und mit einem Male gab er ihr einen Wink, ein Zeichen, aber sie verstand es nicht, und bald war es vorbei.

Jetzt, da sich auch in dem Gefangenen etwas löste und er nur mit aller Gewalt seiner Tränen Herr wurde, dachte Manfred, der abseits stand und sich mit seinem Taschentüchelchen den Schweiß von seinem fahlen, faltenreichen, alten Gesichtchen abtrocknete, daß dieser Rudolf, sein Feind, seine Vera überall und ganz allein hätte besitzen können. Wenn auch nicht körperlich. Aber was war der nackte Körper, wie er ihn, wie er seine Vera besaß, ohne sie selbst, ohne ihre Neigung? Nur ein Pfahl im Fleisch. Wenn er noch so ironisch über Liebe lächelte und statt Liebe lieber »Neigung« sagte, so wußte er doch, er wurde niemals ganz hingebend geliebt. Nicht von der Mutter, nicht von dem »Kameraden« Steffie, dem falschen Biedermann, nicht von seiner Frau Vera und auch von seinen »Kindern« nicht. Geliebt? Aber Rudolf wurde es doch! Nicht allein von der haltlosen kleinen Vera, die auch bei ihm ihr zweideutiges Herzlein spielen ließ, sondern sehr von seiner, Rudolfs Mutter, die angeblich aus Kummer über ihren Sohn schwermütig geworden sein sollte, und viel mehr noch von dem tüchtigen, sachlichen, allen Schwierigkeiten zum Trotz erfolgreichen, klugen und stets tadellosen älteren Bruder. So geliebt, daß dieser »tadellose« Konrad nur um Rudolfs willen sich die einzige Inkorrektheit seines Lebens, eben in dem amtlichen Gutachten über seine, Manfreds Krankheit, die ominöse Herzmuskelschwäche und Blutarmut, hatte zuschulden kommen lassen ...

Und doch stand jetzt dieser vielgeliebte, schöne, hochgewachsene Rudolf mit Handschellen an den Händen da, und er, Manfred, konnte auf seinen Gummiabsätzen leise an ihn herantrippeln und ihm von unten in sein verzerrtes wahnsinniges Gesicht und auf sein grau gewordenes (auch er!!) Gelock sehen und dabei den Grundzug seines Wesens zu erforschen versuchen: Was war es? Was hatte diesen Unglücksmenschen in seinem Rausch hergetrieben? Mitten in der Nacht? An einen Ort, wo er niemals gern erwartet war? Was wollte sich Rudolf hier holen? Etwas Kokain oder etwas Rache oder etwas von seiner Vera – denn ganz wollte und konnte er sie nicht besitzen? Oder nichts von alledem? Nur zum Zeitvertreib? Nur um einen dummen Ulk zu machen? Zu sehen, ob er, Manfred, schreckhaft wäre? Ob es ihn kitzelte, wenn man ihm Zigaretten in den Raum zwischen dem Kragen und dem Hals warf? Ihn zittern zu sehen, wenn er das Heranpfauchen der Kassenschranktür spürte? Das alles hatte er ja nun zur Genüge gehabt, diese Genüsse hatte er genossen, und jetzt mußte er seine Dummheit bezahlen.

Nicht jeder hat ein Recht auf unbeschränkte Dummheit! Man knallt nicht ungestraft auf Polizisten im Dienst los und wird zum Mörder, wenn man es bis jetzt noch nicht war, und schiebt den breiten Buckel unter die Last, die eigentlich ganz andere zu tragen gehabt hätten. Er, Manfred, wußte, man konnte sehr scharfe und respekteinflößende Hunde dadurch unschädlich machen, daß man ihnen, wenn sie erst einmal richtig gereizt waren (und war Rudolf nicht durch sein gehöriges Quantum Kokain gereizt genug gewesen?), ein einfaches Stück Holz vor die Beißerchen hält. Sie beißen sich fest, sie halten so fest ihre Zähne daran geklammert, daß man sie mit diesen Stöcken in die Höhe heben kann, sie lassen nicht locker und dünken sich noch fürchterlich dabei. Kinder! Kikikikinder! Nur ein gewisses Maß von Dummheit ist straflos. Die bodenlose Dummheit ist ein Abgrund, der den Menschen ebenso verschlingt – wie die Schuld. Vielleicht waren Dummheit und Schuld überhaupt das gleiche?

Jetzt hatte er das dumme Biest an seinem Stocke hochgehoben, jetzt ließ er es zappeln und zog sich diskret zurück.

Er aber, Rudolf, hatte sich immer von seinen Freunden zurückgezogen. Nur vor denen war er geflohen, die es gut, sehr gut, nur zu gut mit ihm gemeint hatten, vor seiner Mutter, vor seiner Vera, vor seinem Rosenfinger mit den Millionen, vor seinem Bruder, dem guten Arzt.


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