Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der kinderlose, etwa achtundsechzigjährige Makler und Kriegsgewinnler und Inflationsspekulant war erst in den letzten Monaten vor seinem gewaltsamen Tode richtig gealtert. Bis dahin hatte er ein für seine Jahre ungewöhnlich jugendliches Aussehen gehabt und sich auch über seine Jahre hinaus jung, »unverbraucht« gefühlt.
In den Kreisen, in denen er in Vorkriegszeiten mit seiner bescheidenen, dicklichen Frau verkehrt hatte, fühlte er sich jetzt schon lange nicht mehr wohl, die alten Bekannten staunten den neuen Luxus an, sie machten große Neidaugen, fragten nach dem Geheimnis des Erfolges, gingen dann, und der alte Makler rief sie nicht zurück, nahm ihre kümmerlichen Einladungen nie an. Die richtigen »großen« Kreise, die alten Vorkriegsindustriellen, verkehrten mit ihm nur geschäftlich, das heißt telephonisch. Im übrigen hielten sie sich zurück, ohne beleidigende Schärfe. Sie entschuldigten sich und kamen nie.
Sein Haus hatte der alte Mann nach seinem Begriff von wahrer Schönheit eingerichtet. Junge, schöne, blühende Gestalten bei sich zu sehen war ihm eine Herzensfreude, allen sportlichen Betätigungen war er zugetan. Im Sommer ließ er in seinem Gartenplatz Tennis spielen, im Winter in seinem großen Turnsaal Jiu-Jitsu- und andere Kämpfe abhalten und sah still, eine gute Zigarre erloschen im Munde, aus einer Ecke zu. Auch junge Mädchen sollen ab und zu bei ihm ein und aus gegangen sein. Er liebte sie, liebte sie nicht; er mochte sie alle, nie einen einzigen, eine einzige. Den jungen Rudolf ausgenommen.
Noch kurz vor seinem Tode (Halsschuß vor dem prachtvollen eichengeschnitzten Renaissancetisch in der übrigens außerordentlich vernachlässigten Wohnung) hatte er den Besuch des jungen Arztes Dr. Konrad D., Rudolfs Bruder, empfangen. Damals schien es seine größte Sorge (von Rudolf abgesehen) gewesen zu sein, den äußeren Anschein der Greisenhaftigkeit zu meiden. So hatte er sich das sehr spärlich gewordene Haupthaar dunkelbraun färben lassen, hatte sich »taktvoll diskret« geschminkt, hatte die buschigen, bärbeißigen Augenbrauen zum Teil ausrasiert und ihre Linie mit einem schwarzen Fettstift ästhetisch verbessert, und vor allem hatte er seine Fingernägel und auch sonst die Hände mit allem Raffinement schön und jugendlich zu erhalten versucht. Daher sein Spitzname Rosenfinger, den er im Munde seiner spottlustigen, sogenannten Freunde erhalten hatte und von dem er wußte. »Schmeckt euch doch ganz gut von meinen Rosenfingern«, sagte er lächelnd, wenn er sie bei sich mit seinen Freß- und Saufgelagen bewirtete.
Und doch mußte er das Groteske an seiner unnatürlichen Erscheinung zum Schlusse selbst eingesehen und er mußte sich selbst, den ewig jungen Rosenfinger, zynisch-trostlos in seiner unabwendbaren Greisenhaftigkeit belächelt haben. Ein gewisser Humor, vielleicht auch eine gewisse Haltung, waren ihm nicht abzusprechen gewesen. Er konnte lieben. Eine Art Weisheit war ihm nicht fremd gewesen. »Die Zeit macht viele zum Narren«, hatte er einmal zu Chiffon gesagt, »mich nicht. Mich macht sie lachen. Lache ich aber nicht, so sehe ich mir die Zeitung an, oder da guck' ich in den Spiegel rein, und sieh mal, gleich lache ich!« Er wußte also, was er tat, vielleicht ahnte er auch, was ihm bevorstand. Nicht vor dem Tode, sondern nur vor dem Sterben oder, besser gesagt, vor den letzten Augenblicken unmittelbar vor dem Tode hatte er immer eine »blödsinnige« Angst gehabt. »Was gäb ich drum, könnt' ich aufwachen und wär' tot wie ein Klotz! Könnt ihr mir nicht helfen, Kinder?«
Er hatte nur entfernte Verwandte, angeheiratete Cousinen, die in sehr dürftigen Verhältnissen in kleinen Ortschaften zwischen Freiburg im Breisgau und Basel lebten. Sie hätten in den letzten Jahren gern seine Entmündigung betrieben. Aber dazu war sein Verhalten eben doch noch zu »geordnet« gewesen.
Es war die Zeit der zu Ende gehenden Inflation, und die furchtbar haltlosen Zustände begannen sich allmählich zu festigen.
Die polizeiliche Untersuchung des Mordfalles Jakob Zollikofer, genannt Rosenfinger, die nach dem ersten Anlauf etwas kraftlos weitergeführt wurde, schlief über einigen ergebnislosen Nachforschungen ein. Von Rudolf D. war noch keine Spur zu entdecken gewesen. Aber auch die Verdachtsmomente gegen ihn hatten sich nicht weiter verstärkt.
Man hatte dem ermordeten Makler einen unseligen Einfluß auf junge Menschen nachgesagt. Nach seinem plötzlichen Tode war er bald vergessen.
Niemand hat ernsthaft um ihn getrauert.