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Der siebenundvierzigjährige Oberleutnant der Landwehr in der Reserve Ludwig D., der mit seiner Frau Lucie und seinen drei Kindern, zwei Söhnen, Konrad und Rudolf, und einer Tochter, Hilda, bis in die ersten Kriegsjahre ein glückliches Familienleben geführt hatte, war erst im Herbst 1918 in die vorderste Linie der Westfront gekommen. Er hatte seiner Frau Lucie so regelmäßig, als es bei den vielen Verschiebungen möglich war, geschrieben. Ab und zu hatte er seine Feldpostkarten an seinen schon erwachsenen Sohn Konrad gerichtet, der wegen einer leichten Rückgratsverkrümmung nur garnisondienstfähig und bis auf weiteres beurlaubt war. Dieser dreiundzwanzigjährige Mensch, ein sehr begabter Student mit besonderem Interesse für Rechtsphilosophie (aber auch für Medizin), wurde von dem Vater als sein Stellvertreter daheim angesehen, dem er besonders die Fürsorge für den körperlich schönen, ungewöhnlich großen und kräftigen, aber in seinem Wesen schwierigen jüngeren Sohn Rudolf anvertraute, welcher der Familie schon Sorgen genug bereitet hatte.
Die letzte Nachricht aus dem Felde, die seine Familie erhalten hatte, stammte vom Anfang des Monats November 1918. Der Oberleutnant war, obwohl er an vielen schweren Gefechten – meist Rückzugsgefechten – teilgenommen hatte, bis dahin unverletzt geblieben. Auch die fürchterlich in der unterernährten Menschheit jener Jahre aufräumende »spanische Grippe« hatte ihn nie erfaßt.
Sein Freund und Regimentskamerad war der Hauptmann der Reserve Peter von Ohr (in Zivil Vizedirektor des Gefängnisses in B.).
Durch Frau von Ohr war Frau Lucie am 17. November 1918 benachrichtigt worden, daß ihr Mann, und aller menschlichen Voraussicht nach auch »unser guter Ludwig«, der Oberleutnant D., der im gleichen Bataillon stand, nach dem Abbruch der Feindseligkeiten zwischen den Zentralmächten und den Amerikanern (die an jenem Abschnitt dem Truppenteil der zwei Kameraden gegenüberstanden) in den nächsten Tagen demobilisiert daheim eintreffen würden.
Frau Lucies Freude, nur durch die Sorge um die Tochter und den jungen Sohn gedämpft, war unbeschreiblich.
Ihre Tochter Hilda, ein hübsches, überschlankes Mädchen von vierzehn Jahren, war in der letzten Zeit viel kränklich, der Arzt sprach von allgemeiner Körperschwäche und Unterernährung, den Hauptkrankheiten jener Zeit, und wenn die Mutter Morgen für Morgen an das Bett des Kindes trat und es jedesmal blasser und ätherischer fand, wurde ihr Herz schwer von Sorgen.
Mutter Gottes hatte geholfen, dachte sie als gläubige Katholikin bei der Freudenbotschaft. Daß ihr Mann wieder heimkehrte, daß sie wieder für ihn und er wieder für alles sorgen konnte, daß er wieder – und nun in Frieden, auf immer – zu ihr kam, nachdem sie sich schon furchtbar um ihn gesorgt, in der letzten Zeit besonders, das war nur der Jungfrau Maria zu danken. Dennoch wurde es ihr beim besten Willen noch nicht ganz frei ums Herz, nicht mehr so, wie sie sich in Friedenszeiten gefühlt hatte. Warum hatte ihr Mann nicht ebenso wie sein Kamerad die Familie unmittelbar benachrichtigt?
Nicht die häufiger werdenden grauen Haare quälten sie, von denen sie an jedem Tag mehr in ihrem Kamme fand, so wenig lieb es ihr war, daß ihr Mann eine alte Frau in ihr vorfinden sollte, wenn er heimkehrte – wohl aber bedrückten sie das unerklärliche Hinschwinden ihrer Hilda und das weder durch ihre Güte noch ihre Strenge zu beeinflussende Wesen des Sohnes Rudolf, des lieben, herzensguten, bildschönen, aber leider unberechenbaren, heftigen und zugleich wurzellosen, getriebenen Jungen, der keine Ruhe, keinen Halt gefunden hatte, keine Leistung anstrebte, niemandem sich bis in die letzte Faser seines Herzens verbunden zeigte und auf den bis jetzt einzig und allein sein Vater mit seiner ruhigen, gemessenen Hand Einfluß gehabt hatte. Wiederholt hatte Rudolf, ohne daß man das Motiv begriff, das Haus verlassen. Es war nie klargeworden, wo er sich in der Zwischenzeit herumgetrieben hatte, wovon er gelebt – wie er sich seine Zukunft vorgestellt hatte, welchen Trieben er gefolgt war. Nur sein Vater schien ihm gewachsen zu sein. Aber auch zur Zeit, als der Vater noch hier lebte, war Rudolf nach einem feindlichen Fliegerangriff im Jahre 1916 einmal verschwunden gewesen.
Frau Lucie hatte zur Zeit, da ihr Mann während eines Heimaturlaubes den Befehl erhielt, aus der gefahrlosen Etappe an die Front abzugehen, ein Gelübde getan, ohne es ihrem Mann zu sagen und noch weniger ihren Kindern, denen sie ihre Sorgen und ihr schlimmes Vorgefühl verbergen wollte. In ihrem Heimatort, der nahe der russischen Grenze lag, befand sich ein berühmtes Muttergottesbild, schwarz vor Alter, in einem von Edelsteinen strotzenden, schwer goldenen Rahmen, zu dem sie zu Fuß, und zwar barfuß, zu pilgern gelobt hatte, wenn ihr Mann nach dem Ende des Weltkrieges lebend über die Schwelle des Hauses trat. Nur lebend! Nicht unverletzt, das wagte sie nicht zu verlangen, wenn es der Himmel nicht von selbst so wollte, dem sie sich demütig beugte. Sie hatte in diesem Vorgefühl, das sie bis in den Schlaf verfolgte und das nie mehr ganz gewichen war, mit einer Verwundung, selbst einer schweren, nur keiner lebensgefährdenden, gerechnet.
Aber sie hatte bis jetzt ihr Vorgefühl, so gut es ging, bekämpft, hatte als gute Hausfrau sich schon am Tage des Waffenstillstandes daran gemacht, den Empfang ihres Gatten nach Kräften vorzubereiten. Das Schlafzimmer, Arbeitszimmer und das Badezimmer wurden noch einmal in gründlichster Weise sauber gemacht, die besten Wäschestücke, zum Beispiel ein mit den letzten Resten alter Friedensseife gewaschenes und mit den Überbleibseln von Friedensstärke gesteiftes, geplättetes Hemd, echt wollene Socken, die gute, schwere, dunkelrote Sonntagskrawatte wurden zurechtgelegt, der Sonntagsanzug, ein altmodischer, ernster Cut mit gestreiftem Beinkleid, wurde auf dem Balkon ausgelüftet, von Mottenpulver befreit.
Jetzt war sie mit der großen Freudenbotschaft heimgekehrt. Sowohl ihre Hilda, der die gute Nachricht neue Gesundheit gegeben zu halben schien, wie ihr Konrad halfen nun bei diesen Vorbereitungen mit, so gut sie konnten.
Rudolf, der zweite Sohn, der mit seinen siebzehn Jahren von der verhaßten Schule abgegangen und im Spätsommer 1918 freiwillig bei den in B. garnisonierenden Königsjägern eingetreten war, hatte in der letzten Zeit die Kaserne nicht mehr aufgesucht. Er hatte schon vor den Arbeiterumzügen, lange vor der Abdankung des Kaisers und den anderen Ereignissen des 9. November begriffen, daß die militärische »Tour« zu Ende war. Die Arbeiter hatten jetzt einen Teil der Kasernen besetzt, die Militärgefangenen befreit, in den Magazinen Lebensmittel, Kernleder, Wäsche und Kleider beschlagnahmt, auf den Kasernen die rote Flagge aufgezogen. Der Widerstand war schwach. Besondere Gewalttätigkeiten waren in der ersten Zeit nicht vorgekommen, jetzt herrschte scheinbar wieder Ruhe. Die Bevölkerung hatte nur Angst, die Kartoffel- und Brotversorgung könne vielleicht leiden.
Rudolf wußte jetzt noch weniger als sonst, was er mit sich beginnen sollte. Sollte er weiterstudieren? Sollte er weiterdienen? Nichts lockte ihn.
Mit den neuaufgestellten Soldatenräten wollte er nichts zu tun haben. In den engeren Kreis der sich bewußt abseits haltenden, durch die Ereignisse völlig kopflos gewordenen Offiziere war er vorläufig nicht aufgenommen worden, nur die Berufsmilitärs hielten zueinander. So trieb sich Rudolf wie in der Zeit vor seinem Militärdienst von morgens bis abends in der Stadt umher, wanderte von einem »Freund« zum anderen, aber er war in der letzten Zeit wenigstens jeden Abend heimgekommen. Schon dies schien seinen Angehörigen ein gutes Zeichen.
Jedesmal, wenn draußen die Klingel anschlug, sagte sich die Mutter, er sei es, aber im Grunde ihres Herzens hatte sie seit der ganzen Zeit zum erstenmal jetzt auch die herzaufrührende Vorstellung, ihr Mann sei schon zurück, er wäre es, der vor der Tür stünde und ungeduldig zweimal nacheinander auf den Klingelknopf drückte.
Minna, eine alte treue Seele (ein Dienstmädchen aus Frau Lucies Heimat an der russischen Grenze, das sie seit Beginn ihrer Ehe bei sich gehabt und das sie auch dann nicht entlassen hatte, als die Ernährungsschwierigkeiten sie zwangen, auf ihr zweites Mädchen zu verzichten, das viel jünger und geschickter gewesen war), stand seit dem frühen Morgen mit den Karten der Familie Schlange um das Ei des Monats und sollte nachher ein Päckchen Kamillentee für Hildas Umschläge mitbringen.
Geklingelt hatte jetzt aber weder der Gatte noch der Sohn, sondern der alte Portier, der ihr, der Besitzerin des Hauses, ebenso wie den Parteien, die zur Miete wohnten, anriet, alle verfügbaren Eimer und die Badewanne mit Wasser auf Vorrat zu füllen, da mit einem Streik der städtischen Wasserwerke zu rechnen sei. Als die Mutter sich anschickte, die Wanne vollaufen zu lassen, klingelte es von neuem. Wieder stürzte sie hinaus.
Diesmal war es Rudolf, der in seiner merkwürdigen Kleidung, halb Uniform, halb Sportanzug, den hübschen blonden Kopf ruckartig drehend, die Haltung schlaksig, die Augen überall und nirgends, ohne ein Wort zu sagen, an der Mutter vorbeiging, ihr ein leeres Lächeln zusendend, das sie trotzdem entzückte und sogar beruhigte, worauf er in seinem Zimmer verschwand. Bald darauf ging er ins Badezimmer, und die Mutter hörte ihn plätschern: er war dabei, sich zu rasieren und zu diesem Zwecke das Wasser in der Badewanne zu benützen. Sie, schwach wie immer gegenüber ihren Kindern und ihm gegenüber ganz besonders, rief den älteren Sohn Konrad zu Hilfe.
Alle brauchten das Wasser. Mußte es vorzeitig abgelassen werden, so war vielleicht innerhalb von 24 Stunden kein neues mehr zu erwarten. Bloß die Krankenhäuser würden, wie es hieß, auch bei einem Streik mit Wasser und Strom beliefert.
Die Mutter und der Bruder versuchten Rudolf durch logische Gründe davon zu überzeugen, daß er, ganz abgesehen von dem Vater, dessen Eintreffen man stündlich erwartete, und von den anderen Angehörigen, auch sich selbst schädige, wenn er das ganze Wasser verschwende, statt sich die nötige Menge aus der Badewanne zu nehmen und sich in seinem Zimmer zu rasieren. Denn wenn wirklich »Wassersperre« eintrat, wie sollte man am nächsten Tage, vielleicht an den nächsten Tagen, Wasser zum Kochen und Waschen herbeischaffen?
Er hörte sich alles an, trat schließlich von der Badewanne weg nickte sogar dem Bruder in seiner ebenso freundlichen wie nichtssagenden Art zu –, ob er aber wirklich überzeugt war, konnte man bei einem so unberechenbaren Menschen nicht wissen.
Es war ein düsterer, regnerischer Tag. Obwohl es längst an der Zeit war, wurden die nach oben gegen Fliegersicht mit Blechscheiben abgedeckten Bogenlampen draußen auf der Straße nicht wie sonst angezündet. Die Mutter zog die Vorhänge zur Seite. Eine fahle Dämmerung erfüllte den Raum. Nicht Tag, nicht Nacht. Die blanken Flächen der Möbel glimmerten matt. Eine alte Pendeluhr schlug diskret und beruhigend fünf Uhr.
Die Tochter, eben noch munter und lebhaft, klagte, auf dem Sofa liegend, mit matter, eintöniger Stimme plötzlich wieder über Schmerzen im Kreuz. Die Mutter bettete sie noch sorgfältiger auf dem Sofa im Wohnzimmer, von dem sie die Kleidungsstücke und das Hemd ihres Mannes fortgeräumt hatte. Sie legte die einzelnen Stücke im Halbdunkel behutsam über die Lehnen der Stühle. Das schneeweiße, sehr lange Hemd ihres Mannes sammelte den Rest der Helligkeit auf sich. Es knisterte leise.
Man konnte glauben, der Vater sei im Badezimmer, er könne jeden Augenblick eintreten, im schokoladefarbenen Schlafrock aus Kamelhaar, mit der roten Schnur gegürtet, seine Sachen an sich nehmen und, zum erstenmal wieder nach langer Zeit, als ein gutaussehender Mann in vorgerückten Jahren, ein höherer Beamter in der Verwaltung, mit seinem oft sehr ernsten, aber immer guten Gesicht in Zivil im Kreise seiner Familie erscheinen.
Es war der einzige Anzug, der von der umfangreichen Garderobe des Vaters übriggeblieben war: das Rote Kreuz hatte bei Beginn des Krieges eine Sammlung veranstaltet, und alle vaterländisch Gesinnten hatten die entbehrlichen Kleidungsstücke mit begeistertem Opferwillen abgeliefert, ebenso wie sie später (nicht mehr alle) die Goldstücke und (nicht mehr viele) die Kupferteile der Gasbadeöfen und die Klinken der Türen abgeliefert hatten.
Die Mutter trat zu Hilda, um zu sehen, ob sie schlafe. Das Mädchen schrak bei ihren etwas schweren Schritten empor, riß die großen grauen Augen auf, verstört zog sie die schöngeschwungene Unterlippe ein. Aber dann beherrschte sie sich, verschluckte die Seufzer, wollte nicht mehr klagen. Die Mutter holte das moderne elektrische Heizkissen herbei, das immer gute Dienste geleistet hatte, brachte die Schnur mit dem Steckkontakt in Verbindung und stellte den Schalter auf Stärke II. Nach einer Weile fühlte sie hin. Das Kissen, weißlich im dunklen Zimmer schimmernd, lag zwar ordnungsgemäß auf Hildas dünnem Kleidchen aus Nesselstoff, war aber immer noch kalt. Die Mutter drehte den Schalter der Beleuchtung an. Vielleicht war die Schnur, die aus Ersatzmetall und Isolierungsersatz (Papierfaser) angefertigt war, durch Kurzschluß unbrauchbar geworden?
Der Schalter an der Wohnzimmerwand ließ sich zwar richtig drehen und knackte, aber das Licht des Lusters ging nicht an. Die Mutter rief Rudolf, um die Sicherung auszutauschen. Die neuen Sicherungen, die man in der letzten Zeit aus Ersatzmetallamellen etc. fabrizierte, wurden häufig ohne besonderen Anlaß unbrauchbar. Aber auch die neueingesetzte Sicherung (Rudolf hatte ab und zu Spaß an solcher Arbeit, auf die Dauer interessierte sie ihn nicht) brachte kein Licht. – »Ulkig! Kein Strom!« sagte Rudolf, stieg die Leiter wieder herab und zündete sich eine Zigarette an, obwohl ihn die Mutter gebeten hatte, in Gegenwart der leidenden Hilda, die den Rauch nicht vertrug, nicht zu rauchen.
Diesmal aber kam die Mutter nicht dazu, ihm Vorwürfe zu machen, die Klingel an der Entreetür rasselte zum drittenmal im Verlauf dieser Stunde, 17. November, in der Zeit zwischen fünf und sechs. Rudolf verschwand in der Küche, neben der die kleine Dienstbotenkammer lag, und schlug die Tür hinter sich zu. Die Mutter merkte noch, daß er die Tür zur Dienstbotenkammer öffnete. Was wollte er dort? Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, sondern sie beeilte sich und öffnete die Tür in das Entree.
Es war zu ihrer Freude der Depeschenbote. Die Frau, die es als selbstverständlich annahm, daß ihr Mann aus Köln oder sonst einer Stadt auf der Heimreise ihr nun endlich die Stunde der Ankunft telegraphierte, gab dem Depeschenboten, einem ganz jungen, graublassen, ausgehungerten Menschen in Zivilkleidung mit einer blauroten Postbinde um den linken Arm, eine Mark. Der Junge dankte herzlich und schoß, ohne sich umzusehen, die halbdunkle Treppe wieder hinab. Die Mutter ging, stumm vor sich hinlächelnd, zu dem Zimmer des ältesten Sohnes.
Als sie aber an der Tür des Wohnzimmers vorbeiging, hörte sie die Tochter drinnen ungehemmt stöhnen. Da hörte sie zu lächeln auf.