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Wenn Frau Lucie D., die Mutter Rudolfs, Konrads und Hildas, lange Nächte in »Waldfrieden« schlaflos lag, sah sie von ihrem Bett aus ein Kreuz. Es war das Fensterkreuz, dessen breite Leisten sich gegen die herabgelassenen Leinwandvorhänge besonders dann scharf abhoben, wenn ein wolkenloser Mond draußen stand oder wenn ein Auto mit starken Scheinwerfern die serpentinenartig gewundene Bergstraße emporkam, an der das Erholungsheim idyllisch mitten im Walde lag.
Sie wollte aber das Kreuz nicht andauernd vor sich sehen, sie sah es ja nicht leer, sondern – mit einer Gestalt. Sie wollte die Augen wegwenden und sah es dennoch – sie wollte die Gedanken fortdenken, und doch kreisten sie immer um das gleiche. Oft verzagte sie. Ihre Selbstvorwürfe durchschnitten sie, ohne daß sie wußte, wie sie ihnen entrinnen sollte.
Aber selbst in den düstersten Zeiten, nämlich im ersten und im dritten Jahre ihres langen Aufenthaltes hier oben – damals, als sie ihr Herz ganz kalt und ganz klein und doch so scharf in ihrer eingeschrumpften Brust schlagen gefühlt hatte –, selbst damals hatte sie niemals die Hand gegen sich selbst erhoben. Das hatte ihr der Professor, der alterfahrene Leiter von »Waldfrieden« gleich bei ihrem Eintritt an den Augen, in die er seinen besonders eindringlichen Blick gerichtet hatte, angesehen.
Er traute ihr. Während er sonst »echte Melancholiker« niemals mit sich allein ließ, durfte sie einen Teil des Tages und die ganze Nacht allein in ihrem Zimmerchen bleiben – und dies hatte ihr in aller ihrer Angst und Bedrückung wohlgetan. Er kam stets ganz nahe an ihr Bett heran, während er sich sonst vor tückischen Angriffen der Kranken in acht nehmen mußte. Wenn es sie fror (und es fror sie auch im stark geheizten, nach Tannenzapfen riechenden Zimmer oft), durfte sie die Hände unter der Bettdecke verborgen halten, was den anderen verboten war, weil man fürchten mußte, sie könnten sich in ihrer furchtbaren, unmenschlichen Verzweiflung selbst zerfleischen. Und doch lebte sie ein unbeschreiblich bitteres, kaum zu ertragendes Leben hier oben.
Noch zu Hause, in den langen Zeiten, als ihr Herzenssohn Rudolf im Jahre 1915 von einem Tage auf den anderen spurlos verschwunden und nur ihr armer Ludwig bei ihr und den anderen Kindern geblieben war, auch damals hatte sie sich in der Nacht oder in den ersten Morgenstunden gegen die Versuchung wehren müssen mit aller Kraft. Auch während sie in der Kirche zu beten versuchte, hatte sie ihren geliebten Sohn vor sich gesehen, von Hunger gequält, auf der Landstraße, im Obdachlosenasyl – und das damals im Kriege – in der Kohlrübenzeit! –, krank vor Sehnsucht nach ihr, der Mutter, ohne einen Pfennig Geld für ein Telegramm, für eine Postkarte. Wie sollte sie selbst anders zu Frieden und Ruhe kommen als durch noch mehr Leid und – durch den Tod? Denn im Leben konnte ihr niemand helfen, auch die wundertätige Muttergottes nicht, die Mittlerin zwischen Gott und den Menschen, sie, die richtige, vollkommene, schuldlose Mutter.
In späteren, ebenso schweren Zeiten, ja noch schwereren, in denen nach dem furchtbaren Tode ihres Mannes Rudolf wieder bei ihr gelebt, aber ihr dennoch mit jedem Tage fremd und fremder geworden war – nur durch ihre Schuld, warum denn sonst? –, als das Vermögen von Tag zu Tag trotz der größten Sparsamkeit zusammengeschmolzen war und die wertlosen Banknoten eines Tages im Mülleimer auftauchten, die feinen, prachtvoll lithographierten Hundertmarkscheine, und als ihr armer Rudolf seine Sachen aus der schlecht geheizten Wohnung in einem Köfferchen »zu einem reichen, feinen, alten Freunde« fortschaffen mußte und seine Augen mit anklagendem Ausdruck durch sie hindurchglitten – damals wurde sie von der Versuchung, meist nachts, so stark bedrängt, daß sie in ihrer Angst hatte aufstehen müssen, um zuerst in Rudolfs verlassenes, eiskaltes Zimmer, dann aber in das dumpfige Kämmerchen der Magd zu gehen auf bloßen Füßen.
Mit der letzten Kraft hatte sie die schnarchende Magd an den dürren Schultern wachgerüttelt und sie himmelhoch angefleht, bei ihr zu schlafen, sie nicht zu verlassen.
Sie hatte am nächsten Tage nichts mehr essen wollen, hatte bei Tisch alles Hilda und Konrad zugeschoben. Konrad und Minna hatten darauf gedrungen, daß sie ordentlich esse, aber das viele laute Reden dröhnte schauerlich in ihren Ohren. Sie wollte antworten. Sie schwieg. Ihre Kehle war wie zugewachsen. Als auch all ihr Bitten vergeblich gewesen war und sie nur das alte, trockene, tränenlose Weinen, das furchtbarste und quälendste und undankbarste auf der Welt, zur Antwort gehabt hatte, da hatte sie sich zuletzt von der Magd füttern lassen müssen. Sie saß ihr an einem schmalen Küchentischchen gegenüber, einen weißen Latz um ihren mageren, häßlichen Hals gebunden. Denn der alten Minna zitterten die Hände, wenn sie ihr den Löffel so lange an die zusammengepreßten Lippen halten mußte, und viele gute Bissen kleckerten herab, gingen verloren und machten unnütze Mühe beim Aufwischen.
Sie sah umher, sie schüttelte den Kopf über sich. Kein froher, leichter Atemzug wollte ihr das Gewicht von der eingeschrumpften Brust wegheben.
Die Küchenuhr holte aus und schlug. Es war noch früh. Aber das Leben gehörte ihr nicht mehr, es war vielleicht schon die letzte Stunde?
Im Treppenhaus gingen die Menschen mit hohl tönenden Schritten an ihrer Tür vorbei. Immer eine Etage höher, eine Etage tiefer zu ihr niemand.
Rudolf war nicht mehr zu sehen, er litt vielleicht Not, und bei ihr war es schade um die guten Bissen, die Minna ihr sorgfältig in winzigen Portionen an den Mund schob. Man hätte sie lieber der hochaufgeschossenen Hilda geben sollen, die in den letzten Jahren auch so wortkarg und scheu geworden war, mit ihren Gedanken in einer anderen Welt.
Bei ihr blieb nur Konrad, der vernünftige, der sie nicht verstand und den sie nicht sehr herzlich lieben konnte. Warum nicht? Er verdiente alles Gute. Aber sie, sie hatte ein zu hartes, zu leeres Herz. Ihr kam deshalb nichts von den guten Dingen des Lebens zu. Es war schade um die viele Luft, die sie einatmete, die sie andern wegnahm, die glücklicher waren als sie. Sie wollte sich klein machen, sich in die Winkelchen verkriechen, die dunklen, die engen, die warmen, geschützten, und wenn sie auf dem von Flossie neu weiß lackierten Küchenstuhl saß, immer die Röcke noch fester an die knochige Gestalt heranziehend und auf einer Kante sitzend, dachte sie immer nur: Wozu denn der viele Platz für mich?
Er gebührte ihr nicht, sie sollte »eigentlich« ganz und gar nicht mehr hier oben sein, sondern tief unten, weit weg, bei ihrem Mann, begraben an der Grenze, sechs Fuß guter Erde über sich. Dort war alles zu Ende und keine Angst mehr.
Oft hatte sie nachts in ihrem alten Haus die schmerzende Stirn gegen die gute, kühle, dunkle Wand gepreßt. Aber wenn am Morgen ihr Sohn Konrad kam und sie mit seinen scharfen Augen ansah und mit seinen kalten Händen ihren Puls abtastete und daraufhin tiefe Sorgenfalten auf seinem unjungen Gesichte erschienen (warum war gerade er so absichtlich, übertrieben gut zu ihr?), so schämte sie sich vor ihm, und sie hatte immer den etwas dunklen Fleck sorgfältig verdeckt, den die feuchte Stirn auf der feinen Tapete der Wand zurückgelassen hatte. Jetzt auch das noch, daß ihre armen, vermögenslos gewordenen Kinder, denen der Vater entrissen war, unter ihren Leiden mitleiden sollten! Sie wollte und mußte es ihnen allen verbergen. Sie machte ihren Zustand vor dem Hausarzt, den Konrad geholt hatte, viel besser, als er war, und doch hatte sie beide nicht zu täuschen vermocht.
Als einmal ihr Ältester eines Morgens, im Beginne des Frühjahrs, die Fenster aufgerissen und schönes, helles Licht und frische Luft hineingelassen hatte, war sie zusammengezuckt, mit einem leisen, aber durchdringenden Stöhnen sich möglichst tief unter die Decke verkriechend. Sie konnte sich jetzt beim besten Willen nicht mehr beherrschen, das Licht tat weh wie eine scharfe Messerschneide, die starke Luft »wehte« ihr Weh ganz durcheinander. Warum kniete sie auf ihren Knien nicht schon längst am Grunde der Erde, wo sie am finstersten war? Sie sollte ja gar nicht mehr leben, sollte lange schon ihrem armen Ludwig nachgefolgt sein. Was hatten denn die Kinder noch von ihr? Sie gehörte nicht mehr zu ihnen, sie begann sich vor ihnen zu fürchten, zu schämen ... Sie sahen sie immer so durchdringend an, dann senkten sie den Blick und hefteten ihn auf die Gegend ihrer Brust, als wollten sie mitten durch sie hindurchsehen, aber sie hielt die Hände über die Herzgegend, denn sie sollten nicht wissen, daß sie an »Herzverkleinerung« litt, sie stellte sich mit aller Anstrengung aufrecht hin. Sie wollte nicht nachgeben, denn sie durfte es noch nicht. Am liebsten wäre sie immer in ihrer warmen Betthöhle geblieben, wie zu einer Kugel zusammengerollt, Dunkel um sich und vollständige Ruhe, Tod noch im Leben ... Sie raffte sich aber immer wieder auf. Sie hatte ihre christlichen Pflichten, sie wußte es. Mit ihren zwei Söhnen hatte sie Unglück, der eine verschwand ihr zwischen den Händen, der andere war leider nie der Sohn ihres Herzens gewesen – aber da war noch klein' Hilda, und Hilda irrte in der letzten Zeit wie ein gescheuchtes Huhn ratlos umher, oder sie verbarg sich, unruhig mit den Seiten raschelnd, über ihren dicken, schweren Büchern. Sie ging viel zu kurz, zu kümmerlich angezogen, alles, was sie hatte, war schon verschossen, Flossie hatte ihr die Kleidchen immer wieder ändern müssen, nie hatte man etwas Ordentliches für sie kaufen können. Wenn man Hilda ansah, erkannte man sogleich das Waisenkind in ihr – und das hatte sie, diese kaltherzige, böse Mutter ja gewünscht: wenn sie selbst Witwe war, sollten die Kinder Waisen sein! Und wenn der Himmel ein hartes Ohr hatte, sobald sie, die Mutter und Gattin, gute Wünsche in ihrem Gebet ausdrückte, bei den bösen Wünschen hatte der Himmel sofort zugegriffen und die Strafen über die armen Kinder herabgesandt. Jetzt weinte die Mutter über Hilda. Wie hätte denn das Kleinchen in dieser Unglückswohnung glücklich leben können, wie sollte ein Hildachen unter den Augen solch einer Unglücksmutter Mut fassen und Lebensfreude gewinnen, um sich ordentlich auf einen künftigen Beruf vorzubereiten, wie sollte sie später einen guten Mann finden? Sie, die Mutter, brachte allen Unglück, sie konnte niemandem helfen, sie konnte eben im Grunde nicht mehr richtig lieben. Sie konnte ja nicht einmal sich selbst von Herzen gut sein. Denn sie hatte ein Geheimnis für sich, etwas, was sie erst dem Professor in »Waldfrieden« eingestanden hatte nach stundenlangem Bohren und Suchen: den GRUND ihrer Angst, dort, wo es bei ihr eben im Grunde lag. Sie ängstigte sich und wußte nicht recht, wovor, nur das eine wußte sie, wo diese Angst saß. Nicht im Herzen, nicht im Kopf, auch nicht in Händen und Füßen, sondern in den Knien, in dem linken besonders, da war der geheime, sündige Grund für diese Angst ...
Wie oft hatte sie, als ihr dies nach dem Tode ihres Mannes in den ersten schlaflosen Nächten bewußt geworden war, in den verschiedenen Kirchen Hilfe gesucht, die Kirchen standen bereit, kalt zwar, eisiger noch als die Häuser in der Stadt, aber sie waren den ganzen Tag offen, der Eintritt kostete nichts, und sie mußte ihren armen Kindern nichts vom Munde abstehlen. Und wäre nur die Angst geschwunden, hätte sie sich vom GRUNDE ihres Lebens einmal wieder ein Herz fassen können, hätte sie wirklich ein einziges Mal noch hoffen können – voller Trost wäre sie zu ihren Kindern zurückgekommen und hätte versucht, in ihnen aufzugehen und ihre Pflichten als christliche Gattin und Mutter zu erfüllen. Aber je länger sie wartete, je krampfhafter sie betete, je öfter sie die schönen Litaneien abhaspelte und den alten Rosenkranz drehte zwischen den von Frost erstarrten Fingern, desto mehr hatte sie neue Angst wachsen gefühlt.
Sie schonte das böse Knie nicht, sie strafte es mit Strenge, sie rutschte, zum Staunen der anderen, ruhig an ihrem Platze verharrenden, stillen Beter in der Kirche, am Rande der Mauern unermüdlich auf den durch die Jahre rauh gewordenen Fliesen von einer Seitenkapelle zur anderen, am hl. Hauptaltare und unter dem ewigen Licht vorbei und dann wieder an den anderen Seitenkapellen vorbei, bis sie am Ausgang angelangt war – oft war sie mittags eingetreten, und als sie wieder das Gotteshaus verließ, war es Nacht geworden, und das Weihwasserkesselchen aus glattem, abgenütztem Metall leuchtete in mattem, dunklem, schattigem Gold am Ausgangsportal der fast ganz verlassenen Kirche.
Sie hatte das dünne Trauerkleid aus dem ehemals braunen, jetzt aber schwarz gefärbten Sommerstoff sorgfältig geschont, sie hatte sich nur die Haut über dem Knie blutig geschrunden und war dann im Dämmern nach Hause gehinkt, bei jedem Schritte an der wunden Stelle zerrend und immer noch nicht von ihrer Angst befreit. Am furchtbarsten war es, als ihr, während sie diese Strümpfe abends in ein wenig lauem Seifenwasser auswusch, ungerufen und ungewünscht die gräßliche Flossie in die Küche nachgekommen war und ihr hatte »helfen« wollen. Plötzlich war eine schreckliche, ihr selbst unbegreifliche Wut gegen die ahnungslos schwätzende, in ihrem dummen Eifer unter den giftblonden Haaren immer stärker errötende Flossie in ihr aufgekocht, und sie hatte Flossie, sich mit dem Rücken gegen sie stemmend, um sie nicht sehen zu müssen, fast mit Gewalt zur Tür hinausgedrängt und war dann über ihrem Becken mit den schmutzigen Strümpfen in ein langes, immer noch tränenloses Weinen ausgebrochen.
An diesem Abend bestand sie darauf, daß der Hausarzt wieder komme, denn sie wollte wissen, was mit ihr war. Aber zu seinen neugierigen, quälenden Fragen schüttelte sie immer nur ihren dummen, schweren, toten Kopf.
Nicht einmal dem Kaplan Jarausky, ihrem alten geistlichen Berater, konnte sie sich ganz anvertrauen. Und dann saß sie lange, wortlos, schnell atmend in ihrer Angst, bei ihrer guten Freundin, der immer noch schönen, aber auch schon weißhaarigen Frau von Ohr, die an jenem Abschiedsabend ein kirschrotes Samtband um den glatten Hals gehabt hatte und die, wie immer, einen feinen Duft nach Iris um sich verbreitete. – Keine Runzel war in dem milchweißen, zart gepuderten Gesicht – aber sie selbst, eine arme, böse, von Gott und den Menschen verlassene, von ihren Sünden fast erdrückte – häßliche, alte Frau, hatte jetzt, ihre Hände über die Knie gespannt, auf fast alle Fragen geschwiegen, denn sie hatte ihre furchtbare Last auch ihrer besten Freundin nicht mehr anvertrauen können – und jedes Wort, das sie nicht herauszubringen vermochte, drückte noch stärker auf ihr zu klein gewordenes Herz.
Wenige Tage später war die Zusage aus »Waldfrieden« gekommen.
Jetzt, viel zu spät, kam ihr die Reue. Welche Schande für sie, als alte, irrsinnige Frau das eigene, schöne Haus verlassen zu müssen, wo sie ihre armen Kinder alle geboren und großgezogen und wo sie mit: ihrem guten Ludwig so friedlich gelebt und wo sie ihn so schrecklich verloren hatte, und nun fortgehen, unter Bewachung, den Arzt und das alte Mädchen an ihrer Seite, von allen den falschen Herzen bemitleidet.
Und, das Furchtbarste, ohne Abschied von ihrem Rudolf, den man nicht hatte erreichen können. Die anderen Kinder, Hilda und Konrad und die gesunde, junge, blühende Flossie, konnten ihr nicht sagen, wo er war. Wollte er nicht kommen, um sie noch einmal zu sehen? Vielleicht kam sie nie wieder zurück! Sie strich mit ihren Händen, während die Kinder und der Arzt schon zum Aufbruch drängten, über seine Bettstelle, wo seine alten Kissen, mit den weichsten, leichtesten Daunen, frisch überzogen, immer für ihn bereit sein sollten, auch wenn sie selbst auf immer fortblieb, und ebenso sein Nachtkästchen, auf dessen Holzplatte sie noch die Brandspuren der Zigaretten sah, die ihr armer lieber Junge früher in vergangenen Zeiten nachts geraucht hatte, weil er den Schlaf so schwer fand wie sie jetzt.
Sie ließ sich nicht von hier fortdrängen, sie zog langsam die Lade heraus und schob sie sanft wieder hinein – sie wußte, er sehne sich im Herzensgrunde nach seiner Mutter und er könne es ihr nur nicht zeigen, genau wie sie es ihm nie hatte genug zeigen können. Aber er zweifelte doch nicht an ihr? An ihm zweifelte sie nie! Und doch war sie eine böse Mutter. Im »Grunde« sehnte sie sich nur nach dem Alleinsein, und es tat ihr wohl, daß auf dem Bahnhofe ihre Kinder und ihre Schwiegertochter und Frau von Ohr endlich zurückgeblieben waren und daß sie sie nie mehr »tröstlich« ansprechen konnten. Aber die Strafe folgte sofort. Auf der Bahnfahrt war die Versuchung mit ebenso großer Gewalt über sie gekommen wie damals in der Küche bei Flossie, sie hatte die Magd bitten müssen, ihr die Hände zu halten, denn sie durfte doch nicht dort zerfleischt ankommen. Aber die alte Magd tat ihr diesen Dienst mit großer Ruhe.
Wie glücklich war die alte treue Seele! Sie konnte richtig weinen, richtig lachen, richtig atmen, richtig essen, richtig schlafen, richtig schaffen bis zum frommen gottergebenen Tode, um dann vom Heiland mit offenen Armen empfangen zu werden. Minnas Haare waren noch immer nicht ganz gebleicht, aber ihr brachen ihre Haare an der Wurzel ab, man mußte sie ihr kurz schneiden, wie bei den Modedämchen und Shimmytänzerinnen, wie der rothaarigen Vera, die »Pagenkopf« trugen. Ihre Fingernägel waren hart wie Pergament, ihre Zunge wie ausgedörrt, das Herz zu klein, schwer wie Blei und erst ihre Knie!
Sie sah es ja, wie gut die Mitreisenden es mit ihr meinten, wie freundlich sie ihr Erfrischungen anboten, Obst, Kuchen, Milch und Limonade.
Viel zu gut meinte man es mit ihr, weil man sie nicht näher kannte, und doch brachte sie kein Wort des Dankes heraus, und während der langen Fahrt hinderte sie ihre alte Minna, sich in ihrer Angst an sie klammernd und ihre alte, abgearbeitete Hand sich aufs Knie legend, die schöne Reise zu genießen. Wozu noch leben? Teures Brot essen?
Gute Menschen, Frau von Ohr und andere, hatten ihr beim Abschied versprochen, sich um die Kinder zu kümmern. Konrad hatte seine Flossie. Hilda sollte in eine Lehrerinnenanstalt mit anschließendem Internat kommen. Man wollte einer so bösen, kalten, undankbaren Mutter alles abnehmen. Aber sicher war nichts. Seit jenem November 1918 wankte alles unter ihren Füßen. Sie traute ihnen gar nicht. Die Angst stieg, das Knie war wie Blei. Was wurde aus ihr?
Man hatte ihr gesagt, sie solle sich nur erholen und wieder ganz ruhig werden, des Lebens froh. Um die Kosten sollte sie sich nicht grämen! Was aber tun, wenn nicht sich grämen? Sie sah die Mitreisenden forschend an, einen nach dem anderen. Keiner hielt den Blick aus. Nur die alte Magd, mit ihren schwarzen Augen unter dem rotbraunen Kopftuch, das sie schon vor Jahren gehabt hatte, blickte ihr fest in die Augen – und so starr, daß sie selbst den Blick senken mußte. Dann begann die Alte ihr laut und sehr gut zuzureden, nicht wie eine Dienerin der Herrin, sondern voll guten Willens, wie eine richtige Mutter ihrem Kind. Minna wußte , daß alles gut enden würde, und versprach ihr wunderbare Tage und die besondere Gnade der schmerzhaften Mutter Gottes von Czenstochau.
Aber die Angst verließ sie auch in dem schönen stillen »Waldfrieden« nicht, und das ging schon Jahr um Jahr, die lange teure Zeit. Vielleicht war es in der letzten Zeit gegen Abend schon eine Spur leichter geworden, besonders, wenn der Professor bei ihr blieb, aber auch er hatte die Angst noch nicht wegbannen können, selbst mit den bitteren braunen Opiumtropfen nicht, die sonst Zauber wirken sollten. Bei allen – nur bei ihr nicht.
Im linken Knie saß sie, die Angst, zwischen der Kniescheibe und dem Gelenk, denn von hier kam sie heraus. Sie wärmte das knochige Knie oft in ihrer hohlen Hand, aber es half nicht. Denn der »Grund« wollte es nicht, und in dem Grund lag eben alles.
Jetzt setzte sie sich auf und sah, mitten in der schlaflosen Nacht, das Kreuz vor sich – und auf diesem Kreuz, die beiden Arme ausgereckt, den graumelierten Kopf mit den geschlossenen Augen auf die linke Schulter hinabgesunken, die mageren Knie scharf übereinander gekreuzt, beide blutigen Füße mit einem einzigen vierkantigen Eisennagel durchbohrt – wen? Nicht unseren Erlöser, nicht unseren lieben Herrn Jesum Christum, sondern ihren nach dem Kriege gefallenen Mann. Das war der Grund.
Niemand außer dem alten Professor hier wußte von dieser gotteslästerlichen Sünde, von der Sünde gegen den heiligen Geist, nicht einmal dem guten alten Kaplan Jarausky hatte sie sich vor Jahr und Tag anvertraut – und mit dem hatte sie sich doch in ihrer Muttersprache aussprechen können, die ihr sonst immer die von jeher etwas trockene Zunge gelöst hatte. Und da sie von dieser Sünde geschwiegen hatte, hätte er ihr damals die Absolution eigentlich nicht erteilen, das Gnadengeschenk der Kommunion nicht schenken dürfen. Sie hatte also die hl. Sakramente gestohlen, ebenso wie die Luft zum Atmen und alles andere hier oben, das Gute und Liebe, womit man sie belastete.
Immer wieder kamen die alten Gedanken, mit denen sie sich selbst vorwarf, daß es eine gerechte Strafe gewesen sei, wenn ihr Mann durch die Hand eines irrsinnigen, also unschuldigen Kindes zugrunde gegangen sei, und noch dazu ohne geistlichen Beistand, ohne die letzte Ölung zu empfangen. Zwar hatte v. Ohr das Gegenteil behauptet, aber sie hatte ihm nur in die Augen gesehen, und er war in seiner Ehrlichkeit sofort errötet und hatte geschwiegen, alles ein Zeichen, daß er ihr Vorwürfe machen wollte und es nur aus allzu großer Milde unterließ. Es war eine gerechte Strafe, daß sie nun am längsten von allen Patienten hier oben in »Waldfrieden« (welch ein Hohn schon der Name des Hauses!) leben mußte, fern von ihren Kindern und auf ihre Kosten! Und daß das Himmelslicht der Sonne ihr zur Qual wurde und die tiefe, gute, ruhevolle, trostreiche Nacht ihr ein Schrecknis wurde, und daß die Versuchung nie ein Ende nahm und nie ein gutes Ende nehmen konnte, nämlich die Versuchung, heimlich »an sich zu gehen« und sich selbst zu strafen – und über allem und unter allem war ihre Furcht vor dem Grund – sie fühlte sie immer, wie sie sie, vom linken Knie ausstrahlend, bis in die Fingerspitzen und in die Stirn erfüllte. »Jesus, Maria und Josef! Noch immer kein Tag? Du mußt beten. Hilf, Muttergottes, hilf! Ich will beten. Warum kannst du nicht? Beten mußt du und bei Gott ist immer Tag!« Sie wollte ja gut, fromm, gottergeben sein und sich beherrschen, sie wollte Gottes und des lieben gütigen Heilands himmlische Gnade anflehen, aber im »Grunde« glaubte sie an nichts mehr in ihrer unbeschreiblich immer noch neu wachsenden Angst. Nur ein einziges Mal noch friedlich schlafen! Dann wollte sie sich freuen auf den Tod. Ihre Kinder würden erlöst aufatmen, und Konrad würde keine unnützen Sorgen an sie wenden. Hatte sie denn Sorgen um ihn ? Der alte Arzt würde an ihr Bett kommen und ihre Hand halten, und ihr Puls würde langsamer und langsamer werden auf seiner goldenen schönen Chronometeruhr, und der Puls würde ganz versiegen, und doch würde es noch kein Ende nehmen wollen mit ihr. Sie hatte immer das Kreuz vor Augen, das alle anderen Menschen erlöst hatte von allem Übel, nur sie allein nicht. Nur sie allein war ausgenommen. Sie wich nicht von der Angst, und die Angst wich nicht von ihr. Das war der Grund ihrer Strafe bis in alle Ewigkeit. Bis in alle Ewigkeit? Die Ewigkeit hatte ja bereits zu rinnen begonnen, alles war jetzt so still, so tot, nur in ihr schlug es, ihr allein war es nicht gegeben, wie andere arme Menschenkinder eines ruhigen Todes zu sterben, oder hatte sie der Herrgott auf eine Probe gestellt, sollte sie einmal das andere, den Gegengrund, versuchen? Sie mußte es versuchen! Sie sollte vielleicht nicht anders. Ein Ende mit Schrecken, ein gutes, völliges Ende. Versuchen mußte sie es. Das war ein Trost. Das war das Ende vom Lied. Es war die richtige Stimme, es war der Sinn ihres ihr zugedachten überschweren Lebens und Leidens. Wenn sie ihre Strafe auf sich nahm, wenn sie endlich »an sich ging«, vielleicht erlöste sie ihren armen Mann aus den Qualen des Fegefeuers, vielleicht half sie ihren Kindern damit? Sie wollte noch einen Augenblickwarten, ob sich eine Gegenstimme meldete, die sie davon abhielt – aber alles blieb still. Ihr Wahn hüllte sie jetzt ganz warm und zwingend von den Fußspitzen her ein, sie fühlte, wie es an ihr emporkam, wie es in die Knie eingriff, wie es ihre Hüften und den unseligen Leib, der die armen Kinder geboren hatte in dieses Tal der Tränen, mit ergriff, wie es an ihr kleines, hartes Herz tupfte, und jetzt kam es von der rechten Achsel hinabgeschossen in ihre rechte Hand – und ihre Fingernägel bohrten sich mit einem unbeschreiblichen Gefühl in ihr eigenes Fleisch. Noch tiefer! Tiefer noch! Sonst würden alle von ihr wegsterben, ja, sie waren eigentlich schon lange vor ihr gestorben und webten an einer ihr ganz unerreichbaren Stätte, die Erde war ausgetrocknet in ihrem Grund wie ihre Augen, auch der liebe kleine Bach am oberen Ende der Waldserpentine über Haus Waldfrieden floß nicht mehr, denn statt des mit seinem Opfertode alles erlösenden Heilands war nur ihr guter, fürsorglicher armer Ludwig gekreuzigt um ihretwillen – sie bohrte die Nägel freudig noch tiefer in ihre Haut, die aber, trocken und hart wie sie war, noch bis zum Letzten zu widerstehen vermochte –, nur sie allein lebte noch weiter, immer das unselige Kreuz vor Augen, nie aber auf ihrer Schulter, denn sie hatte es nie in Demut auf sich nehmen wollen, und sie hatte ihren Sohn Rudolf nicht angehört, wenn er hatte sprechen wollen, so daß er sich bei dem kalten Konrad sein Herz erleichtern mußte im November 1918, im Unglücksjahr, am Unglückstag, sie hatte nur an der Türe gehorcht, aber nicht alles verstanden und lange auf ihn gewartet, ob er von selbst zu ihr käme, wie früher, vielleicht aber kam er doch noch einmal, er mußte doch, er war ja ihr Sohn! Es surrte gerade ein Wagen mit starken Scheinwerfern die Straße hinauf und hielt vor dem Haus Waldfrieden, nein, vor dem eigenen Haus der Stadt, wo sie immer mit ihrem Mann im Frieden gelebt hatte, sie war nur jetzt in ein höheres Stockwerk übergesiedelt, und der arme abgehetzte Junge mußte keuchend die Treppe hinauflaufen, immer vergeblich an den Wohnungstüren der linken Seite schellend, wo ihm fremde Menschen öffneten und ihn höher hinaufwiesen, jetzt war er endlich oben – aber er mußte wohl vor der Türe auf der Matte zusammengebrochen sein, sie hörte ihn ja keuchen und im Dunkeln dreimal leise von unterher an die Türe klopfen, und jetzt öffnete sie ihm schnell mit der rechten Hand die Eingangstür, während sie sich mit der linken abwechselnd durch das verwirrte kurze Haar fuhr und dann wieder das Schlafgewand über der eingesunkenen Brust zusammenzog, da sie sich vor dem großen, schönen Sohn schämte, der sich nun in seiner ganzen Größe von der knirschenden Matte erhob. Wie gern hätte sie ihn endlich ganz deutlich vor sich gesehen! Das wäre ihre erste Freude gewesen nach der schrecklichen Unglücksnacht! Aber als sie nach dem Lichtschalter tastete, hielt er mit seiner rechten, großen, weichen, warmen Hand, an der sein Goldkettchen klirrte, ihre Hand fest. Jetzt zog er sie mit sich fort in die Wohnung hinein und zeigte, lautlos flüsternd, auf einen Lehnstuhl. Dorthin solle sie sich setzen, und schon hockte er wie als Junge oben auf der Lehne und raunte ihr alles ins Ohr, mit seinen langen, weichen, nach frischer Seife duftenden, leise knisternden Haaren ihr Ohr streichelnd, sie solle nur ja kein Licht machen, die Bogenlampen vor den Fenstern leuchteten doch stark genug. Er konnte sie nicht richtig umarmen, in einer Hand, der linken, hielt er irgendeinen kleinen Gegenstand, und er brachte die Hand an ihr Ohr: »Hörst du es? Mutti, hörst du?« – »Du Armer, wie dein Herz pocht! Warum bist du so schnell gelaufen? Ich wußte ja, daß du kommst!« – »Ach nicht doch, Mutti, das pocht nicht, das tickt, das ist eine Chronometer-Schweizeruhr!« – »Und warum zeigst du sie mir nicht?« – »Ist das nicht doll? Ich soll sie gemaust haben, sagen sie!« – Sie hörte sich plötzlich lachen, etwas, das sie schon seit Jahren nicht gehört hatte, sie fühlte, wie es in ihrer Kehle gluckste. – »Nicht lachen, Mutti! Wir müssen doch mit der Uhr schnell etwas beginnen! Mutti, Mutti, Mutti! Weißt du keinen Rat?« – »Kannst du sie nicht schnell noch zurückgeben?« – »Ja, wie denn? Sie sind doch schon hinter mir her!« – »Wie konntest du nur das tun? Stehlen! Wenn das Vater wüßte!« – »Vater? Nein, hilf du, Mutti!« – »In der Kirche?« – »Nein, dort ja nicht, Mutti, dort wird nur gefrömmelt.« – »Unter der Erde wäre sie am sichersten!« sagte sie. »Versteck sie nur gut, versteck sie nur gut, Mutti, wo du willst! Hörst du sie kommen? Mir geht schon der Atem aus! Die vielen Treppen hinauf, jetzt hab' ich keine Luft!« – »Aber Rolfchen?! Du auch nicht? Wenn nur ich mehr davon hätte! Aber ich ... Hast du mich sogleich erkannt? Wo warst du so lange? Und warum nie geschrieben? Hast du gleich hergefunden? Willst du nicht etwas essen?« – »Später, ja, sicherlich, aber später! Jetzt nur verstecken!« – »Verstecken? Ja, wo?« – »Ich weiß wo«, flüsterte ihr Sohn, »ich weiß es genau! In deinem Knie! In dem linken! Wo du die alte Angst hast. Ja? Wo du die Angst hast! Links! Nicht? Nicht wahr, Liebes, links? Zwischen der Scheibe und dem Gelenk!« – »Kann man denn das?« – »Du kannst es! Mir zuliebe! Und nur schnell! Schnell Mutti, mach, bevor sie kommen!« – »Grundgütiger Himmel! Ja! Und tust du es dann nie, nie mehr, ja? Und bleibst du dann bei uns?« – »Immer! Mutti, ich lüge nicht! Da hast du die Uhr, Weißgold, talerdick. Guck nur, schön, nicht? Und versteck sie dort! Niemand weiß davon. Schnell! Ja, hier! Jetzt, da in den Spalt hinein, hast du etwas gespürt?« – »Nein, gar nichts, Junge! Wenn es nur nicht Diebsgut wäre!« – »Hörst du, wie sie draußen pochen? Aber jetzt laß sie nur!« – Er umarmte sie mit beiden Armen, Wange an Wange, dann Mund an Mund, die Hände an ihre Kehle kreuzend: »Jetzt können wir aufatmen, alle beide, nicht?« – »Ja, vielleicht doch, Rudolf!« – »Laß sie jetzt ruhig kommen! Tu die Augen auf und rufe ganz laut ›herein‹! – »Aber nie mehr stehlen! Alter Junge, das tust du nie mehr! Und bleibst du nun auch sicher bei mir?« – »Sicher! Mutti, nur ruf schnell!« – Die Mutter tat die Augen auf und rief laut: »Herein!«
Der alte Professor, der Leiter von Waldfrieden, trat ein. »Nun, Frau Lucie? Was haben wir heute? Ich war schon einmal hier. Da haben Sie noch ordentlich geschlafen. Nun? Nun?! Wir sehen ja so aufgeregt aus? Schön geträumt?« – »Ja, Herr Professor. Von meinem Sohn!« – »Von dem Gerichtsarzt?« – »Nein, von dem jüngeren!« – »So, von dem jüngeren! Und war es etwas Gutes?« – »Er hat mir etwas anvertraut! Ich habe ihm geholfen.«
Der Traum konnte nur wenige Augenblicke gedauert haben. Sie zog still die Nägel aus der noch unverwundeten Haut zurück und glättete die Stelle mit allem Bemühen. Sie sprach nichts mehr, sie sah ihn nur an, bittend: nur noch einmal hoffen!