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II.

Konrad hatte geglaubt, daß ihn der Untersuchungsrichter sofort vorlassen werde, und war atemlos vor der mit grünem Leder gepolsterten Tür, die in den Vernehmungsraum führte, angekommen. Aber der Bürobeamte im Vorraum bat ihn, sich einen Augenblick zu gedulden. Dieser Augenblick dauerte fast eine Dreiviertelstunde. Konrad wußte nicht, ob inzwischen das Verhör mit seinem Bruder weiterging. Er schrak auf, als er Schritte hinter der Tür hörte, die sich dem Ausgang zu nähern schienen, es waren auch Stimmen zu vernehmen, oder eine Stimme, ganz gedämpft, aber bald wurde es wieder still, die Schreibmaschine des Bürobeamten klapperte und klingelte, und aus den geöffneten Fenstern klang das Schilpen von Spatzen und das Schrillen zweier niedrig fliegenden Schwalben herein.

Konrad kannte den Untersuchungsrichter, einen Staatsanwaltssubstituten in mittleren Jahren, er kannte ihn nicht erst aus dem Dienst, sondern bereits von einer kurzen, von beiden nie wieder erwähnten Begegnung im Spätherbst 1918, bei der dieser Mann, damals Leutnant d. R., in Begleitung seines älteren Kameraden bei Konrad und Rudolf erschienen war und Rudolf vergebens zum Eintritt in die Bürgerwehr aufgefordert hatte.

Noch besser hatte ihn der Arzt aus einem eigentümlichen Gerichtsverfahren kennengelernt, welches vor ein und einem halben Jahr gegen einen Minister a. D. durchgeführt worden war, der unter Anklage der passiven Bestechung stand. Man war sich im Gefängnis nicht ganz klar über den hohen Beamten, er zeigte Symptome einer ungewöhnlich schweren Depression, er aß nicht, schlief nicht – klagte aber auch nicht. Der Staatsanwalt hielt alles für Simulation, der Arzt fand es angesichts der besonderen Umstände – gestern noch einer der geachtetsten Männer der Republik, heute von allen, auch von den Parteigenossen, gemieden und verachtet, der schwersten Einsamkeit, den Gewissensbissen ausgeliefert –, nur normal. Eines Nachts aber hatte man den jungen Arzt telephonisch verständigt, der Angeklagte habe einen Selbstmordversuch gemacht. Er war hingeeilt, hatte den Mann fast ausgeblutet, beinahe sterbend gefunden. Also war die Depression nicht Simulation gewesen, nicht »Tombak«, wie man sie im Gefängnisjargon nannte, sondern nur zu echt. Auch der Substitut war da, ging unruhig in dem kleinen Krankenraum, der dem Arzt in dem neu eingerichteten, mustergültigen Gefängnislazarett zur Verfügung stand, hin und her, fröstelnd sich die Hände, schöne, besonders wohlgepflegte Hände, reibend. Die Zentralheizung funktionierte zu so früher Stunde noch nicht, es war Winter, und draußen heulte der Sturm. Es war gegen Morgen, vielleicht ein halb sechs Uhr.

»Hübsches Theater, was? Aber doch nicht etwa ernst?« hatte der Richter nach der Untersuchung und dem ersten Verband leise gefragt, während er mit seinen Fingern spielte. Der Arzt hatte nur durch einen Blick geantwortet, denn eben begann sich das Bewußtsein bei dem altern Mann, dessen graumelierter Bart stark gegen die wachsartige, todesverkündende Blässe abstach, wieder einzufinden. Rettung war nicht möglich. Der Puls wurde bald nicht mehr fühlbar. Die Hälfte des Blutes war verloren, man konnte und mußte ihn ruhig sterben lassen.

»Ach so?! Das wäre doch bitter!« sagte der Substitut. »Sind wir unserer Sache ganz sicher? Geben Sie ihm doch etwas noch zu! Eine Woche, das genügt. Nein? Aber doch noch einen Tag? Nicht? Dann also wenigstens ein paar Stunden!« Der Arzt zuckte die Achseln. »Achselzucken, guter Doktor, hilft uns nicht«, hatte der Richter gesagt, »setzen Sie Dampf dahinter, pulvern Sie in den Mann hinein, was menschenmöglich ist, wir brauchen noch ein kleines, ganz kurzes Verhör –«, und er setzte, vor Frost die Hände reibend, ein etwas menschlicheres Lächeln auf, das angesichts seiner bekannten Geringschätzung alles Menschlichen auf jeden andern abschreckend gewirkt hätte, nur auf den Gerichtsarzt nicht, der durch seinen Beruf mit allen Schrecklichkeiten des Menschenherzens, der Justiz und der Medizin vertraut war.

»Er hat Familie, Frau und vier Kinder, er wird letztwillige Verfügungen zu treffen haben, es ist also auch in seinem Interesse, machen Sie, machen Sie schnell!« Und der Arzt »machte schnell«, sparte nicht mit aufstachelnden Injektionen, Kampfer, Koffein, Digalen, er ließ in die ausgebluteten Gefäße Kochsalzlösung einfließen, er flößte dem Minister a. D. zwischen die dünnen, schon sehr fahlen Lippen, über die jetzt ein unbewußtes, fast pflanzliches Zittern irrte, kaum erkennbar im bleichen Wintermorgen, zwischen die kunstvoll, aber häßlich in Gold gefaßten Zähne heißen Tee, Rotwein, Sekt, Kognak ein, und so gelang es, den Minister a. D. auf fünfunddreißig Minuten zu einem Scheinleben zu erwecken. Aber in diesen Minuten hatte der Richter seine Künste spielen lassen, er hatte dem ganz gebrochenen Würdenträger – der um weniger tausend Mark willen, für ein Wochenendhäuschen für die Familie, alles aufs Spiel gesetzt hatte – Geständnisse entlockt, die einen führenden Abgeordneten der Linken zu belasten schienen. Und während die schnell alarmierten Familienangehörigen an der Tür harrten, um dem Armen ein letztes Lebewohl zu sagen, flog die Feder des Richters über das Papier. Der Richter ließ sich nicht stören, er hatte eine eiserne Geduld, seine Mission im Interesse der Allgemeinheit ging vor. Diese Mission allein hatte ein Recht auf den Mann, und so war er, im Namen des Volkes, wie es jetzt allgemein hieß, nicht von dem Bett gewichen, bevor er nicht alles erfahren hatte, was zur Aufklärung des sehr dunklen Prozeßstoffes durch den Mund des Angeklagten zu erreichen war.

Weder der Richter noch der Arzt hatten nach dieser Amtshandlung bei einem Sterbenden Gewissensbisse. Zynisch in seiner souveränen Menschenverachtung sagte nachher der Richter, den Arzt unter den Arm nehmend und mit der andern Hand das so mühsam gewonnene Protokoll liebkosend, nun hätten doch alle ihren Willen gehabt, der Angeklagte sei auf »honorige Weise« dem schandbaren Prozeß entgangen und hätte ehrlich gesühnt, der Arzt hätte eine Wunderleistung vollbracht, die mehr wert sei, als wenn er... Er hatte sich unterbrochen, vielleicht in dem Bewußtsein, er sei an die äußerste Grenze des Erlaubten gegangen. Er hatte viele Feinde, seine Gesinnung war auch den Konservativsten eine Spur zu scharf, er amtierte zwar fanatisch unbestechlich, aber nicht immer erfolgreich, und so kam es, daß er nach relativ langer, korrektester Dienstzeit, trotz großer und sogar anerkannter Gaben, daheim eine unversorgte Familie, immer noch den relativ untergeordneten Posten eines untersuchungsführenden Staatsanwaltssubstituten einnahm.

Auch in diesem Falle war sein Vorgehen nicht von Erfolg begleitet gewesen. Die Angaben des Ministers a. D. in der Agonie waren zu nebelhaft, es blieb leider keine hieb- und stichfeste Handhabe, gegen die »Großköpfigen«, gegen die »Revolutionsgewinnler«, die »Oberbonzen« vorzugehen.

Auch der Gefängnisarzt stand immer auf Seite des Stärkeren.

Er war Richter und Arzt in einer Person. Der Staat bezahlte ihn hauptsächlich wegen seiner Gutachtertätigkeit, wegen seiner richterlichen Eigenschaft, weniger deswegen, weil er dem einen oder andern langjährigen Zuchthausinsassen, dem die Arbeit an den hochtourigen Marmorschleifmaschinen die Lunge mit scharfem Marmorstaub angefressen hatte, das Leben um ein paar Monate verlängerte oder ihm das Sterben erleichterte. Die Haupttätigkeit des Arztes spielte sich nicht im Gefängnis ab, dessen Hygiene auch ohne ihn geregelt war, sondern an seinem Schreibtisch und in seinem Laboratorium im gerichtsärztlichen Institut, in dem er trotz seiner Jugend eine große Rolle spielte.

Dort wog er das Für und Wider seiner Akten und seiner persönlichen Beobachtungen »an lebenden und toten Objekten« ab. Er hielt sich still, sein Atem ging zart, als fürchte er, etwas in der Ordnung der Apparate um ihn zu stören. Neben seinem Schreibtisch stand auf einem glasbedeckten Tischchen sein Mikroskop. In einem Glasschrank der Spektralapparat, dann eine auf zehntel Milligramm geeichte Waage, eine Menge anderer empfindlicher Prüfungsvorrichtungen, Chemikalien aller Art, anatomische Bestecke, photographische Apparate, Quarzlampe, Bunsenbrenner etc., chemische Retorten und Destillationsvorrichtungen. In einem kleinen eisernen Kassenschrank hatte er die Akten und die Untersuchungsobjekte verwahrt, in einem Kühlschrank im Keller die zersetzlichen Teile. Oft waren die Untersuchungsobjekte klein oder ganz unscheinbar, fast nicht zu erkennen, abstoßend für jeden andern, verfault, häßlich, aber sie umfaßten in ihrer Gesamtheit alles, was den Menschen und seine bösen Triebe betraf, angefangen beim ungeborenen oder mißgeborenen Menschenkeim bis zu der eckigen Todeswunde im morschen Schädel eines Greises. Alle Fälschungen, alle Gifte, alle Irrtümer und Bestialitäten und ihre Wirkungen auf den armen Menschen, das unschuldige Mädchen, den Selbstmörder, den in einer Katastrophe Untergegangenen, den Geisteskranken, den entmenschten Mörder bis zu dem ahnungslosen Opfer. Der Geist des Verbrechens, wie er sich, meist vergeblich, zu verbergen trachtet, angefangen vom anonymen Briefe auf einem abgerissenen Zeitungsfetzen bis zu dicken Aktenbündeln über Simulationen, über echte Geisteskrankheiten, über die Tatbestände aller Handlungen, die vor das Gericht gekommen waren. Er arbeitete mit einer Leidenschaft, die man ihm daheim nie angemerkt hätte. Gerecht gegen das Volk, so glaubte er, und ebenso gerecht gegen den einzelnen, den irrenden Menschen. Im Interesse der Allgemeinheit und des beleidigten Rechtsgedankens – und voll Verständnis für die oft absurden Gedankengänge der Verbrecher, welche sie vergebens hinter raffinierter Technik zu verbergen suchten. Er war überzeugt, immer objektiv zu sein. In Wahrheit aber konnte er nicht anders, als das Gesunde als das Sittliche, das Normale als das Förderungswerte anzusehen, das Kranke aber als das Vertilgenswerte und das Unsoziale als das Widerliche. So überwand er alle Schwierigkeiten, zeigte große Einsicht, bekam Erfahrung und machte sich seinen Beruf zur Freude, hatte Erfolg und fand täglich eine neue Befriedigung in ihm.

Nur einen Menschen hatte er von jeher aus dieser Betrachtungsweise ausgenommen. Seinen Rudolf, seinen lieben, schönen, hochgewachsenen, blonden Bruder, in dem er niemals etwas Unsoziales, etwas Krankes sehen wollte.

Das war sein Wahn. Hier war er blind. Denn er glaubte. Er liebte. Er nahm alles auf sich. Er hoffte alles, vielleicht auch das, daß sein geliebter Bruder, der nach seinen letzten Taten (beim Zeitungskiosk) verschwunden war, längst die Grenzen des Deutschen Reiches überschritten und in einem anderen Erdteil ein neues, ganz geregeltes, gesundes, zufriedenes Leben begonnen habe.

Und er, der aus der mikroskopischen Struktur eines Haares oder aus dem Spektralbefund einer mit dunkelbraunroter Flüssigkeit getränkten Batistfaser die Grundlage für die schwersten Strafen bis zum (freilich in dieser Zeit selten gewordenen) Todesurteil lieferte, er, der sein Gutachten abgab mit der ruhigen Sicherheit des nur auf seine objektiven Erkenntnisse und auf seine unbeeinflußbare subjektive Erfahrung sich verlassenden, allgemein wissenschaftlich gebildeten, juristisch und forensisch besonders geschulten Arztes – bei seinem Bruder empfand er nur das eine, das ihm auch an der Seite seiner blonden, kerngesunden Flossie und in der Nähe seines niedlichen, nur etwas zu ernsten Kindes immer versagt geblieben war –, daß er ihn »unbedingt ohne Frage« liebe und ihn mit tausend Freuden auch weiterhin lieben werde, mochte kommen, was da wolle. Und das gab ihm die starke Hoffnung, ihn auch jetzt noch, ja gerade jetzt erst recht! zu retten. Denn, was konnten Menschenkraft – und Wille nicht alles?


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