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XI.

Die Universität war infolge der herrschenden Unsicherheit auf den Straßen am Montag geschlossen. Die Kämpfe zwischen der Bürgerwehr und der sogenannten Sicherheitstruppe, die den Arbeiter- und Soldatenräten unterstand, waren immer noch nicht abgeschlossen. Es fanden noch vereinzelte, aber deshalb für Unbeteiligte besonders gefährliche Scharmützel an Straßenecken und in den Anlagen statt.

In einer großen Schule war die Aula in ein Massenquartier für durchreisende Soldaten umgewandelt, im Schulhofe war eine Feldküche, eine sogenannte Gulaschkanone, in Betrieb, für welche das Ernährungskommissariat vorläufig nichts außer etwas Pferdefleisch, frostbeschädigten Kartoffeln und Dörrgemüse, genannt Drahtverhau, bereitstellen konnte. Im Turnsaal war die Entlausung und Desinfektion. Das Rote Kreuz und ein Lokalkomitee waren an der Arbeit.

Als Konrad gegen Einbruch der Dämmerung heimkehrte und im Flur der Wohnung einen Stahlhelm auf dem Tischchen liegen sah und an dem Garderobenhaken neben einem Mannschaftsmantel ein Koppel mit einem Offizierssäbel und einer Revolvertasche, die er gut kannte, blieb ihm das Herz stehen.

Der Atem stockte ihm in der Brust. Endlich trat er heran, er sah sich die Revolvertasche ganz aus der Nähe an, er erkannte sie wieder. Um ganz sicher zu gehen, öffnete er sie und sah in der Innenseite die Anfangsbuchstaben des Namens seines Vaters und die Bezeichnung des Regimentes. Er faßte das durch langen Gebrauch weich und mürbe gewordene Leder an, das er selbst schon zweimal in Händen gehabt hatte. Es standen neben dem Namen des Vaters das eine Mal: Leutnant, undeutlich, verwischt; das andere Mal: Oberleutnant, klar und deutlich. Die erste Bezeichnung und die Bezeichnung des ersten Regimentes hatte Konrad dem Vater mit eigener Hand zu Beginn des Krieges hineingezeichnet mit unverwischbarer Tusche, und als bei einem Urlaub die Nachricht von der Beförderung und Versetzung zu einem anderen Truppenteil gekommen war, hatte Konrad die ersten Aufschriften mit dem Messer, einem alten, schartigen Messer, demselben, das unlängst die alte Minna zum Abschaben des Kotes von Rudolfs Schuhen verwandt hatte, ausradiert oder ausradieren wollen. Denn die alten Schriftzüge waren nicht mehr ganz gewichen.

Es war still in der kalten Wohnung, bloß Minna rumorte in der Küche umher. Im Wohnzimmer gingen Schritte. Aber jetzt begann sich Konrad zu ängstigen und sich zugleich seiner Angst zu schämen. Er zögerte. Er konnte sich nicht entschließen einzutreten. Schwer atmend stand er da, die rauhe Innenseite der Revolvertasche streichelnd. Plötzlich konnte er, klar, nüchtern, ohne Illusion, es nicht glauben, daß ein Totgesagter auferstanden sei. Ein Schritt über die Schwelle, aus dem dämmerigen Vorzimmer in das erleuchtete Wohnzimmer – und alles war deutlich, klar, und er wußte alles. Und doch wagte er nicht, der Wahrheit zu begegnen.

Ja, einmal mußte er ihr begegnen. Aber jetzt noch nicht! Er nahm den Stahlhelm in seine Hand, faßte mit den Fingern in die kleinen Luftöffnungen rechts und links, er hob den Helm zu seinem Gesicht, er hielt den Helm vor seine geschlossenen Augen, aber es war nicht der Geruch, den er kannte, es war ein fremder, feindlicher Geruch nach Eisenbahnrauch und feuchtem Filz, der in dem schon zerfallenden, verbrauchten, dunklen, modernden, schweißbedeckten Leinenfutter des Stahlhelms steckte. Während Konrad noch mit der rechten Hand liebkosend und erschauernd über die wie Seide auf Rockaufschlägen glatte, kühle Außenseite des Helms fuhr, trafen seine Blicke, einem unüberwindbaren Zwange folgend, einen viereckigen, kleinen weißen Streifen innen im Stahlhelm. Es war fast dunkel geworden im Vorzimmer, er wußte, daß er hier den Namen nicht entziffern konnte, deshalb öffnete er die Korridortür und trat in das Treppenhaus.

Kalte Luft – Grabesluft kam ihm entgegen. Drinnen im Wohnzimmer regten sich schwere, dröhnende Schritte, wie sie der Vater nie gehabt hatte – und an der Innenseite des Helms sah Konrad im Lichte der Treppenbeleuchtung in fremder, eckiger Handschrift mit roter Tinte, nicht in schwarzer, den Namen: von Ohr, Hptm. d. R.

Er hatte alles gewußt, und doch! Eine furchtbare Bitterkeit stieg in ihm auf. Aber er dachte jetzt zuerst an seinen Bruder: seinem Bruder mußte er die Enttäuschung, die furchtbare Bitterkeit ersparen, das war seine erste Aufgabe. Er ging zurück in das Vorzimmer, nahm das Koppel und den Mantel und übergab alles Minna. Das alte Mädchen nahm die Dinge entgegen, sie fragte nicht.

Die Küche war ungeheizt und kalt, die sauber geputzte Herdplatte mit Zeitungspapier ausgelegt. Minna rieb die gebrauchten Kochtöpfe mit Asche aus und sammelte diese in einen Steinguttopf. Nach einem Rezepte Flossies sollte man aus dieser Masse feine Fettseife kochen können.

Die Mutter war wieder in der Kirche, sie hatte schon wunde Stellen an den Knien, hieß es, an den Strümpfen hatte Minna Blut gesehen. Sie war trotz der Kälte und Nässe ohne Mantel ausgegangen. Jedesmal betete sie in einer anderen Kirche, wie Minna flüsternd erzählte. Sie schonte sich nicht. Sie war verstört, verbarg sich, sie wollte nicht erreichbar sein, auch für ihre Kinder nicht.

Rudolf war eben noch dagewesen, hatte sich Turnschuhe geholt, offenbar wurde bei dem Hypothekenmakler irgendein Sport getrieben. Hilda war bei Flossie.

Von Ohr hatte die ganze Zeit ungeduldig auf Konrad gewartet. Er umarmte ihn stumm und sehr fest. Er schlug ihm auf die weiche, wattierte linke Schulter, ohne den düsteren, aber männlichen, ungebrochenen Blick seiner dunkelgrauen, kleinen Augen von ihm zu lösen. Zuerst förmlich: »Mein Sohn, ich habe Ihnen im Auftrage des Regimentskommandos ein paar Sachen von unserem armen Kameraden zu überbringen. Ich bin froh, daß wir unter uns sind, denn ich möchte Ihnen die Sachen vorerst allein geben und Ihnen das Nötigste mitteilen. Ihre Mutter schonen Sie am besten, wenigstens in den ersten Tagen. Recht so? Ich habe Eile, meine Frau wartet auf mich, ich habe meinen Burschen vorausgeschickt.«

Er öffnete seinen feldgrauen Mantel (also einen zweiten), den er im kalten Zimmer anbehalten hatte und der noch die silbernen Achselstücke trug.

»Seinen Revolver und sein Offiziersportepee haben Sie draußen im Flur wohl schon gesehen. Und hier ist seine Brieftasche mit den Papieren, seine Uhr, sein Bleistift, sein Ehering, ein Amulett, das er um den Hals getragen hat. Seine Ehrenzeichen. Sein Prismentrieder. Seine letzten Handschuhe. Nach einiger Zeit übergeben Sie das alles Ihrer armen Mutter. Und jetzt wohl adieu! Ich muß gehen!«

Konrad brachte alles in einer verstaubten Hutschachtel unter, die neben dem Violinkasten auf dem Schrank stand und den alten Zylinderhut seines Vaters enthielt. Es war, wie der Vater oft erzählt hatte, sein erster und einziger gewesen, er hatte ihn bei Prüfungen, bei seiner Hochzeit, bei den Taufen und Firmungen seiner Kinder getragen. In die Höhlung des Hutes, die mit weißer Seide ausgeschlagen war, fielen mit dumpfem Klang die Andenken. Es dämmerte stark. Der Hauptmann zögerte. Der Parkettfußboden knackte. Weder Konrad noch der Hauptmann sprachen. Im Vorraum half Konrad dem Hauptmann in den Mannschaftsmantel, den dieser noch über den Offiziersmantel anzog. Die Sachen waren, von Minna zurückgebracht, wieder an der alten Stelle im Vorraum gehangen.

»Nun, Gott mit Ihnen«, sagte von Ohr an der Entreetür. Aber er wußte ebenso wie der Sohn seines gefallenen Kameraden, daß sie an diesem Abend nicht so auseinandergehen konnten. Konrad nahm seinen Mantel und Hut, und auf der Straße gingen sie im gleichen Takt nebeneinander. Jetzt, im Marschieren, das an die vergangene Zeit erinnerte, taute der Hauptmann endlich auf, er blieb stehen, faßte Konrads Hand, fixierte sein Gesicht, dann sagte er: »Ich überlege mir die ganze Zeit, soll ich Ihnen die Wahrheit sagen oder nicht. Soldat waren Sie nicht. Aber ich hoffe doch, Sie sind ein Mann. Was da in der Zeitung steht, in eurer Traueranzeige im Stadtblatt, das stimmt leider nicht. Nein, nicht so, wie Sie meinen! Tot ist er, aber nicht auf dem Felde der Ehre gefallen, sondern einfach ermordet. Ich habe ja telegraphiert: Unglücksfall. Am 17. November 9 Uhr morgens. Auf dem Durchmarsch durch ein belgisches Dorf kam aus einem Haus ein Schuß, traf ihn von rückwärts, links über dem Wirbel durch den Uniformkragen in den Hals, herunter vom Pferd, kein Ton mehr, nichts, und zehn Minuten später war er tot. Der Bataillonsarzt war sofort da. Kein Arzt konnte helfen. Meine Kolonne stand. Die Leute drangen in das Haus ein und holten die Kanaille heraus. Und wer war es? Ein neunjähriges Mädchen stießen unsere Jungens mit dem Gewehrkolben aus der Tür, in beiden Händen schleppte es eine alte dreckbeschmierte Flinte, die sicher die ganzen vier Jahre metertief unter dem großen Misthaufen eingegraben gewesen ist. Und das Stück Unglück lachte, stupid oder frech. Wir standen da. Kein Mucks. Wir konnten es nicht glauben. Aber im ganzen Hause war kein Mann. Überhaupt waren im ganzen Ort nur junge Burschen, eben Kinder, dann die Mädels und die alten Leute, arbeitsunfähige Krüppel, alles andere war zur Schanzarbeit hinter unseren Linien verschoben. Der Vater von unserer Denise auch. War der Balg von Sinnen? Sie soll einmal was abbekommen haben. Was, wußten wir nicht. Ein paar alte Hexen waren im Erdgeschoß gewesen, aber in den Räumen, die nach hinten hinaus gingen. Eine solche alte Vettel war sofort nach dem Schuß herausgekommen, ›o mon Dieu, mon Dieu!‹ – sie wollte mit einem schmierigen Lappen unseren lieben Kameraden verbinden. Wir ließen sie nicht heran. Er ist in Frieden gestorben, hat kaum ein wenig geröchelt. War sofort hinüber. In die Luftröhre verblutet. Oder Rückenmarkschuß. Schließlich egal. Das alte Weib hat sich und ihn und ihn und sich bekreuzigt von oben bis unten, und in ihrem Kauderwelsch, da ging es wie in einer Mühle, hat sie dem Kinde auf die dreckigen Finger geschlagen: ›Wie oft hab' ich dir gesagt, du sollst nicht, du sollst nicht! Was wird dein Vater sagen! Oh du lieber Gott!‹ das waren exakt ihre Worte. Freilich, Gott allein weiß, was das Kind schon vorher alles angestellt hat! Vier Tage marschierten unsere Jungens auf dieser Landstraße, Kolonne auf Kolonne. Vielleicht war Ihr Vater nicht der erste. Was sollten wir tun? Trost ist ja Quatsch. Wir werden nicht flennen. Wir sind Männer und bleiben es auch jetzt!

Ihr Vater kam auf ein Sanitätsauto, am Abend war der Wagen lange vor uns an der deutschen Grenze in dem Dorf Kr. Sie haben uns dort noch spät in der Nacht empfangen, in Ehren und von Herzen, mit Fahnen und heißen Würstchen. Und dort war er aufgebahrt, mein lieber, alter, treuer Freund, und einen Tag später haben sie ihn da begraben. Ich zeige Ihnen den Ort auf der Karte.

Das Kind hatten die Soldaten mitgenommen. Es hat sich zuerst gefürchtet, blaß wie ein Mehlwurm und dünn wie ein Schatten im Mond, dann hat es sich beruhigt und ist zwischen den vielen Muschkos hin- und hergeflitzt, hat unverschämt gelacht und die spitzen Zähnchen gezeigt und französisch geschwätzt und eine Menge deutscher Brocken dazwischen. Neun Jahre alt, mit einem schwarzen Frühstückstäschchen an einem Riemen, zartes, kleines, abgemagertes Ding, nur in den Augen lag etwas, aber wer sieht hinein? Sie war nicht größer als eure Hilda, als ich sie 1915 sah. Ich erinnere mich noch genau. Bei Gott, es sind entmenschte Zeiten! Wie sind wir ausgezogen! Wie kommen wir zurück! O patria, o mores!

Was sollten nun unsere Leute mit einem solchen Unglückswurm anfangen? Hat es gewußt, was es angestellt hat? Spiel oder Ernst? Gesund? – Krank? – Ein Kind! Rein aus der Welt. Man faßt es nicht! Die Soldaten hätten es, Gott weiß, vielleicht bis nach Deutschland mitgeschleppt. Kinder! Kinder! Alles Kinder! Als Waffenstillstand war, hatten die Amerikaner mit einzelnen von unseren Leuten zwischen den Drahthindernissen Tauschgeschäfte gemacht. Deutsche Stahlhelme und Uniformknöpfe und, im Vertrauen gesagt, auch unsere deutschen Verwundetenabzeichen und unsere eisernen Kreuze feste verschachert gegen amerikanische Wurst- und Obstkonserven, Schokolade, Kaugummi und Zigaretten. Friede auf Erden? Ja! Nie! Dreckzeug und Scheibenhonig! Ihr Vater hat das nicht mitgemacht. Er nicht. Aber unsere Soldaten hatten die Taschen voll damit – für Zuhause – und fütterten jetzt das belgische Balg! Der Herrgott mag wissen, ich hätte es erwürgen können, und doch, was konnte solch ein Viertel Menschlein dafür? Möglicherweise war es das beste, daß man es so verwöhnte. Denn, Kamerad, was glauben Sie, was tut das Unglückswurm? Zieht aus dem Frühstückstäschchen noch sone paar Magazine scharfer Patronen heraus und gibt sie den Soldaten, unter Lachen! Auf der offenen Hand! Also war die amerikanische Schokolade doch zu etwas gut! Das irre Teufelsbalg würde jetzt nicht mehr ›so dummes Zeug machen‹ –. Sind denn alles Irre oder Verbrecher, alt und jung? Gibt es keine Gerechtigkeit mehr unter den Menschen?« (hier fühlte Konrad aus ganzer Seele mit ihm – und zum erstenmal seit dem Tode seines Vaters kamen ihm echte Tränen) »– und keinen Herrgott oben, der deutsch versteht? Wie konnte es so gerade über uns kommen? Es sind doch so viel famose Menschen gewesen. Ist denn alles Mist und ... von oben bis unten? Das frage ich mich, nachdem ich den Rummel vier Jahre lang mitgemacht habe. Woran liegt es denn? Wo haben wir gesündigt? Ich kann ja gar nicht mehr ...

Eine halbe Stunde von dem Ort kamen uns die Heimkehrer, die Deportierten, mit unserem Schanzzeug entgegen. Sie sangen die Brabançonne, die Unseren sangen ihre Lieder, wacker, unverzagt, das schwör' ich Ihnen, unverzagt! Die alten, die sie tausendmal gesungen hatten im schwersten Schlamassel, im ärgsten Dreck. Das Kind lief kreischend und lachend zu ihnen, den Belgiern. Vielleicht war sein Vater darunter. Wir ließen es fort. Barbaren sind wir nicht. Besiegt sind wir nicht. Nur erdrückt, nur vernichtet. Das war kein Zweikampf. Nur eine Katastrophe. Entschuldige ich mich jetzt vor euch, die ihr daheim geblieben seid? Alles ... Aber sie sangen, und wir sangen auch. Bald hörten wir sie nicht mehr und sie uns auch nie wieder. Aus war's. So war's. Und jetzt Gott befohlen. Ich bin zurück. Behalten Sie alles für sich. Wir sehen uns wieder. Ich will jetzt den Offiziersmantel mit den ehrlichen guten Silberstrippen nach außen tragen, so sollen mich meine Leute sehen. Kommen Sie bald zu uns. Kommen Sie zu mir! Kommt nur alle oft!! Ihrer armen Mutter erzähle ich eine Heldengeschichte und lasse auch die Tröstungen der Religion nicht aus, das sagt ihr ja soviel. Und Sie, schweigen Sie! Wir verstehen uns.

Sollten Ihre Mutter und Sie mich als Vormund für den Schlingel Rudolf und das Mäuschen Hilda vorschlagen, euch werde ich nie NEIN sagen.« Konrad nickte. »Obgleich ein Berg Arbeit in dem Misthaufen hier auf mich wartet. Ihr sollt mich immer haben, wann und wo ihr mich braucht.

O Gott, daß es so kommen konnte!«


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