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Aber bevor Manfred von G. noch den Saldo erreicht hatte, den er sich zum Ziel gesetzt, spielte sich etwas Unerwartetes ab. Er hatte eines Abends, Sonntag, Mitte Juni, wie gewohnt seine Klubgäste bei sich gehabt, hatte sie mit den zwar immer noch billigen, aber nicht mehr wohlschmeckenden Mahlzeiten abgefüttert und hatte den Klub um zwei Uhr morgens geschlossen. Nach der Abrechnung mit seinen Angestellten hatte er seine Frau beauftragt, in ihrem Handköfferchen das Geld zu ihrer Kusine zu bringen, einer Vertrauensperson, die es am nächsten Morgen pünktlich wie immer in die Bankfiliale einzahlen sollte. Einer der Angestellten, der älteste, sollte, mit einem Revolver versehen, Vera bis zu der Verwandten begleiten; zurück, ohne das Geld, wollte sie dann allein kommen. Heute tat sie so, als kenne sie keine Angst, als hätte es ihr noch nie »gegruselt«.
Manfred hatte zwar einen eisernen Kassenschrank, er hielt es aber für praktischer, niemals mehr als ein paar hundert Mark für die laufenden Rechnungen im Hause zu behalten. Er hatte während der letzten Zeit wiederholt mit Maschinenschrift verfaßte Erpresser- und Drohbriefe erhalten, die er der Polizei auslieferte, ohne daß diese sie tragisch nahm. Es hieß, daß Manfred einige seiner Angestellten stark in ihren ohnedies sehr schwankenden Bezügen gekürzt, andere rücksichtslos vor die Tür gesetzt und gegen noch anspruchslosere ausgetauscht hätte, und darauf wollte die Polizei diese Briefe zurückführen. Auch Vera zuckte über die Ängste Manfreds die Achseln, aber sie machte sich, seit dem Verschwinden Rudolfs und nach der Schießerei beim Kiosk nicht mehr zur Ruhe kommend, mehr Sorgen, als sie es Manfred zeigte. War vielleicht ihr Rudolf in Not? Und sie lebte in eitel Freuden mit dem »gruseligen« Manfred zusammen und verschwendete das Geld auf die neuesten Toiletten und Hüte, Schmuck und Parfüms? Sie hatte, was in dieser Zeit gar nicht mehr Mode war, die teuersten Brüsseler handgeklöppelten »Motive« an ihrer Wäsche, und Rudolf irrte vielleicht krank umher und schlief im Obdachlosenasyl.
Und doch glaubte sie im Herzen nicht mehr an eine Wiederkehr ihres Rudolfs, oft weinte sie so über ihn, wie sie am Grabe ihrer Großmutter weinte, des einzigen Menschen, dem sie ein reines Andenken bewahrte. An ihrer Familie fand sie keine Stütze. Ja, sie, das ewige Kind, sollte ihrer Mutter eine Stütze sein! Der Vater, im letzten Kriegsjahr in Flandern vergast und verschüttet, hatte sich ganz von ihrer Mutter getrennt und wohnte mit einer älteren, sehr reichen Dame »wie ihr eigener Sohn« zusammen. Die Mutter lebte von dem, was ihr diese Dame aus reiner Freundschaft und Güte abgab. Von der Tochter nahm sie nichts an. Sie wollte nur Rat haben. Ein ziemlich junger Mann machte der Mutter den Hof. Sollte sie noch einmal heiraten? Vera wich diesen quälenden Gesprächen aus. Sie hatte ihre eigenen Sorgen.
Sie betäubte sich, so gut sie konnte. Oft hatte sie sich mit einer besonderen Bitte, »ein bißchen Rouge, ja?« an Manfred gewandt, aber er sagte nein und behauptete dann, daß er aus Liebe nein sage. Er gab ihr kein Kokain. Und dabei wußte er doch, daß sie nicht süchtig wurde, jedenfalls nicht rauschgiftsüchtig. Sie und Manfred hatten soviel ergebnislos darüber gesprochen, daß er ihr den letzten Vorschlag machte, einen Arzt, vielleicht Konrad, den großen Sachverständigen, um Rat zu fragen. Aber vor Konrad hatte Vera Angst, ohne ihn näher zu kennen. Sie schmollte, daß ihr Manfred ihren Willen nicht tat, sie verweigerte sich ihm, fiel aus unbefriedigter Leidenschaft ab, dann warf sie sich ihm in Verzweiflung an den Hals, schluchzte, wollte ganz sein sein, spielte das »Baby«, kicherte und schwatzte in ihrem »Lyzeumspanisch«, saugte sich an ihm fest, ganz klein, ganz süß, ganz bebend, stöhnte tief, nannte ihn aber nicht beim Namen, starrte ihn nachher entgeistert an.
Manfred zitterte um sie, und je mehr er sie liebte, desto weniger vertraute er ihr.
Nachdem er ihr jetzt noch in den leichten Seidenmantel geholfen und ihr die neueste Errungenschaft, eine schwarzweiße Federboa, wie sie damals noch keine deutsche Modedame trug, um den schönen, zarten, rosagelben, unter einer hauchdünnen Schicht von Puder matt schimmernden Hals gewunden hatte, ließ er sie hinaus. Dann ging er in den Empfangsraum und in die Spielsäle I und II, knipste überall die elektrischen Birnen aus, ließ sie nur über dem Ecktisch in Saal II brennen. Hoffentlich verspätete sich Vera nicht bei dem Besuche bei der Kusine. So nützlich diese, ein älteres Fräulein, war, Manfred haßte sie und fürchtete, sie könnte gegen ihn hetzen. Wem durfte er trauen? Er ging hin und her. Als er sich endlich in den langen Korridor begeben wollte, der zur Küche und dem Hinterzimmer führte, und gerade an der Telephonzelle vorbeiging, die sich zwischen Saal II und dem Korridor befand, sah er mit furchtbarem Schrecken in der halboffenen finsteren Zelle, nur vom Kopf bis zur Brusthöhe sichtbar durch die Glasscheibe, eine stille, große, dunkle Gestalt und hörte sie schwer, wie im Schlaf, atmen.
Es mußte ein ungewöhnlich hochgewachsener Mensch sein, der mit dem Gesicht abgewendet dastand und dessen auffallend kleiner, blonder Kopf, mit einem eleganten, weichen, hellen Filzhut bedeckt, von dem grünlichen Licht, das von der Spielsaallampe kam, fahl beleuchtet war. Manfred wollte sich einreden, es sei ein verspäteter Gast oder es sei der unbekannte Verfasser der nie beantworteten Erpresser- und Drohbriefe. Aber im Grunde wußte er besser, wer es sein mußte. Er dachte einen Augenblick daran, den unliebsamen Gast in der Zelle einzuschließen, aber der Schlüssel steckte innen, und als sich Manfred auf den Fußspitzen trippelnd heranwagte und vorsichtig in die Zelle hineingriff, schien der Mann zu erwachen. Denn im gleichen Augenblick wurde Manfreds Hand von einer anderen Hand mit brutalem Griff umklammert, blitzschnell nach Jiu-Jitsu-Art nach innen gedreht, und es ertönte ein leises metallisches Klirren dabei. Als Chiffon vor Schmerz aufstöhnte, ließ die andere Hand die seine augenblicklich wieder los.
Es war totenstill. Er war wie gelähmt. Endlich kam aus Manfreds Brust ein tiefer Seufzer. Aus dem Inneren der halboffenen Zelle erscholl ein Echo, ein ähnlicher, nur etwas hellerer Laut; fast klang es wie das Gähnen eines halbwüchsigen Knaben. Manfred kannte die Stimme, das Organ, es war der junge, des Raubmordes an dem Makler verdächtigte Rudolf D. Oder täuschte er sich in seiner Angst vor Rudolf, die während der ganzen letzten Jahre ebensowenig erloschen war wie sein Haß gegen ihn?
Auf den Zehenspitzen entfernte sich Manfred, sein Handgelenk verstohlen reibend, bis der Schmerz nachließ. Er verwünschte sein Schicksal, als er merkte, daß der Schlüssel zur Korridortür fehlte. Er war ohne Waffen, seinen alten braven Revolver noch aus den guten Zeiten mit dem Waffenschein mit Steffies Unterschrift hatte er seinem Angestellten geliehen, damit er seine Vera und sein Geld beschütze. Wußte Vera von Rudolfs Besuch? War sie vielleicht mit ihm im Bunde? Und alles, was er in den letzten Jahren versucht hatte, um seine Vera von ihrem Rudolf zu trennen, war vergebens gewesen? Waren die »Kinder« stärker als er? Aber Manfred war gewohnt, sich in jede Situation hineinzufinden. Stand denn alles so verzweifelt? Rudolf hatte ihn ja eben erst entkommen lassen, nachdem er ihn im wahrsten Sinn des Wortes mit seinem Griff »an der Hand« gehabt hatte. Was konnte er also wollen? Vera? Wenn er sie bis jetzt nie hatte erlangen können, war jetzt auch keine Gefahr mehr. Und Geld? Geldeswert? In der Eisenkasse waren nur wenige besonders wertvolle Gegenstände. Die Kostbarkeiten aus gutem Bürgerbesitz, die er in früheren Jahren zusammenbekommen hatte, hatte er immer sofort nach dem Verfallstag durch Vermittlung eines »schwarzen« Juweliers gegen Bargeld, am liebsten gegen Goldmünzen oder ungemünztes Edelmetall, für das er eine Schwäche hatte, abgestoßen. Diese Dinge aber hob er in Veras Safe in der Bank auf, anders als ein anderer reicher Mann, der aus Angst vor den Eingriffen der »unverschämten« Steuerbehörde nichts der Bank hatte anvertrauen wollen und alles in seinem trauten Heim aufbewahrt hatte. Er lauschte, spitzte die Ohren. Nichts rührte sich.
Jetzt atmete Manfred auf. Er fühlte sich sicher. Das Glück war doch für ihn. War er bis jetzt »durchgekommen«, würde er auch weiter durchkommen. Er sah sich um. Hier war sein Geschäftsraum, seine Burg, sein Hafen im Sturm. Aber schon war es mit der Galgenlaune zu Ende, denn er hörte, wie jemand draußen an der Haustür manipulierte. Aber vielleicht nur, um das Haus zu verlassen?
Rudolf war doch nie gegen ihn, Chiffon, aufgekommen, nicht einmal beim Jiu-Jitsu, auch da hatte Chiffons List immer gegen Rudolfs Stärke gesiegt, ein einziges Mal, einen Kehlkopftreffer ausgenommen, und auch dieser Treffer stand nicht einwandfrei fest.
Jetzt aber waren die Schritte aus größerer Nähe zu hören, in der Entreetür drehte sich ein Schlüssel. Oder nicht? War das Glück doch nicht immer für die Schlauen? Warum ließ ihn Vera warten? Totenstille. Das Wasser tropfte aus dem nicht fest schließenden Hahn in der Küche metallisch klingend in das Ausgußbecken. Dann Schritte über den teppichlosen Speisesaal in den mit Linoleum bedeckten Spielsaal I, wo sie ein feines quietschendes Geräusch verursachten. Die Angst, die Manfred immer höher an die Kehle schlug und ihm jetzt schon fast den Atem benahm, hatte sein Gehör geschärft. Jetzt trat der Gast in den mit Velourteppichen ausgelegten zweiten Spielsaal, die Schritte tupften leise hin wie auf dickem Moos. Rächten sich die »Kinder«? Meinten sie es auf einmal schlecht mit ihm? Hatten sie es auf seine »leckeren Sachen« abgesehen? Er verstand es nur zu gut. Manfred hörte, wie die fremde Person sich eine Zigarette oder Zigarre anzündete und wie sie versuchte, die einzige, jetzt noch brennende Birne auszulöschen. Die Drehung an dem Schalter neben der Tür machte aber zuerst den ganzen Raum strahlend hell, erst bei einer weiteren Drehung wurde es ganz finster.
Jetzt war alles, bis auf das Tropfen der Wasserleitung, ohne Laut. Aus einer der Wohnungen, deren Fenster auf den Hof gingen, kam ein unterdrückter leiser Schrei, dem ein Stöhnen und ein Hin- und Herwerfen folgte. Es war wohl eines der schreckhaften Flüchtlingskinder, das aus dem Schlaf aufgewacht war. Aber dann trat wieder Stille ein. Weshalb hatte das Kind nicht, wie sonst oft genug, seinen regulären Schrei- und Weinkrampf bekommen und dadurch das ganze Haus aufgeweckt? Dann wäre Hilfe für ihn, den Spielbankbesitzer, vielleicht etwas leichter zu erhalten gewesen. Jetzt war es sein einziger Wunsch, seine Frau möge bald kommen. Er fragte sich, während er mit der Hand an seine Brust faßte und durch einen Schlitz des von Furchtschweiß feuchten Hemdes die kalte, glatte Gegend über dem stoßenden Herzen fest preßte, um sich zu beruhigen, er fragte sich mit dem letzten Rest klarer Überlegung, den er noch hatte, ob dem »Drehkopf« Rudolf D. ein Mord, ein Raubmord zuzutrauen war? Er, der vor Jahr und Tag vor der Kriminalpolizei mit Bestimmtheit ausgesagt hatte, daß einem Rudolf D. unter allen Freunden des alten Maklers eine solche Tat am ehesten zuzutrauen sei, wollte sich jetzt einreden, Rudolf sei unter dem Einfluß von Rauschgift wohl einer impulsiven Zornestat, wie jener unsinnigen Schüsse gegen die Polizeistreife, fähig, nicht aber eines überlegten Mordes an ihm!
Er empfand Mitleid mit sich selbst, mit dem armen, heimatlosen, zu wenig geliebten, früh ergrauten, magenkranken Manfred, der kein Kind war und den nur ein ganz entmenschter Verbrecher so unbarmherzig auf die Folter des Wartens spannen konnte – oder ein Wahnsinniger. Wie sehr klopfte ihm das Herz! Aber war es echtes Herzklopfen oder künstliches? Und wen wollte er betrügen? Er war allein. Jetzt schwor sich Manfred bei allem, woran er glaubte, und bei allem, woran er nicht glaubte, woran er aber jetzt in seiner Todesangst glauben wollte, daß er im Falle seiner Rettung aus der Not ein neuer Mensch, ein anständiger Kerl und Menschenfreund, koste es, was es wolle, werden müsse, ja ein Verschwender seines mit so großer Mühe zusammengehaltenen Geldes zugunsten der Armen, ein noch liebevollerer und zuvorkommenderer Gatte für seine Vera, ja, er wollte auf einen Teil seiner Reichtümer ganz verzichten zugunsten der vertriebenen Flüchtlinge, von denen manche in großem Elend lebten. Hatte er nicht schon einmal seinen guten Willen bewiesen? Weshalb kam niemand und nahm ihn gleich beim Wort? Er bildete sich im Ernst ein, jetzt, da er seine guten, kostspieligen Gelübde abgelegt habe, sei er endlich auch zum Kinde geworden wie die andern, die er bis jetzt verachtet hatte, und dem reuevollen Sünder sei verziehen. Etwas Nasses kam aus seinen Augen. War es Schweiß, waren es vielleicht gar Tränen? Seit Kindertagen hatte er nicht mehr geweint und auch als Kind nur aus Wut. Zuletzt, weil ihn seine Mutter wegen einer zu witzig ausgedachten, kleinen Niedertracht ganz nahe an sich herangezogen und ihn mit dem ganz humorlosen Worte »Schufterle« angeblasen hatte. Er hörte jetzt den Mann im Spielsaal schwer atmen. Vielleicht war es, »durch Gottes Hilfe«, gar nicht Rudolf, sondern nur ein armseliges Menschenkind, ein Gast, der sein ganzes Geld bei der unbarmherzigen Konkurrenz verspielt hatte, hier bei ihm im Hause nicht, das wußte er! und der sich in der Zelle versteckt hielt, weil er sich nicht nach Hause traute. Aber woher kannte dann dieses »armselige Menschenkind« den Jiu-Jitsu-Griff so gut, mit dem ihm eben seine Hand nach innen und oben gedreht worden war?
War es aber Rudolf, dann war es unheimlich, denn zum Spaß war dieser, sein alter Feind, nicht hierhergekommen. Manfred zwang sich, eine Arbeit vorzunehmen. Sonst hätte er die Spannung nicht ertragen. Aber vielleicht wußte, so dachte er, während er die Buchstaben wählte, M. und V., mit denen er das Schloß des Kassenschrankes drehend aufbekam, vielleicht wußte Rudolf, der Drehkopf, nicht, welche Streiche er, Manfred, ihm seit Jahr und Tag in aller Stille und Heimlichkeit gespielt hatte. Streiche? Er wollte ja gut Kind sein, also bereuen. Er mußte wohl, das sah er ein.
Aber Manfred konnte nichts dafür. Er haßte, weil er mußte, nicht weil er wollte. Der Haß war sehr unpraktisch, das begriff er. Nur die »Kinder« haßten. Seine Streiche gegen Rudolf waren sehr gefährlich, sehr zeitraubend, und man wußte wohl, wie man etwas begann, nicht aber, wie es endete. Wäre nur Vera wieder dagewesen! Der Haß gegen Rudolf war aber zu stark, fast ebenso stark wie seine ganze Liebe zu Vera, mit der dieser Haß, seit der ersten Begegnung, November 1918 in Rosenfingers, des Seligen, Hause, zusammenhing.
Auch das Stottern hing damit zusammen. Rudolf hatte den unerlaubten Treffer an seinem Kehlkopf gelandet, aber diese böse Tat hatte ihm, Manfred, nur genützt, dadurch war er auf die Idee des künstlichen Stotterns geraten, das Riesenbaby, das Elefantenküken Rudolf hatte ihm durch seine zornige Handlung einen Profit verschafft; es war also klüger, nicht zu hassen.
Aber er konnte deshalb doch nicht davon lassen. Es wallte zu ungebärdig in ihm auf. Und so sehr ins Blut war ihm diese Feindschaft übergegangen, daß sie sich immer, wenn er an Rudolf dachte, an Veras Rudolf, dadurch äußerte, daß sein Magen zu brennen begann, daß sein Eingeweide wie in Feuer aufging. Dieses innere Leiden hatte schon im Weltkriege begonnen, auch damals war es durch Aufregung, Angst und Haß hervorgerufen worden, Haß gegen die »Kinder«, die Ahnungslosen im Lande, die Drehköpfe diesseits und jenseits der Grenze, die Millionen froher, frommer Dummer. Aber niemals war es so furchtbar gewesen wie jetzt. Er stöhnte leise in sich hinein, damit es niemand höre. Aber eine scharfe Säure, mit etwas Bitterem stark gemischt, stieg jetzt aus der Tiefe seines Wesens so abscheulich, atemberaubend und würgend bis in seinen Mund empor, daß er sich mit aller Kraft beherrschen mußte, um nicht... ja, was konnte er denn noch tun? Er wollte ja gern das Brennen im Magen, die Bitterkeit auf der Zunge, die Unruhe in den Gliedern, die Eifersucht im Herzen ertragen, das furchtbare Gewicht der Angst auf der mageren armen Brust – nur eines wollte er nicht und konnte er nicht, nämlich sich seinem Feind offen stellen. Er wagte es nicht, heute nacht leider immer noch nicht, so wie er es nie gewagt hatte. Er wollte bleiben, wer er war, wo er war. Sich nicht einen Augenblick lang von seinem schweren, weit offenen Schrank aus Eisen wegrühren, dessen Tür aus handbreitem, feuerfestem, schußsicherem Stahl ihm als Deckung diente.
Hier fühlte er sich noch am sichersten, sicherer als in den Armen seiner Frau, die ihn trotz aller ihrer Sinnlichkeit nicht genug lieben wollte, ruhiger als draußen in der »Gottesnatur«, wenn er mit seiner Vera Arm in Arm still auf dem Moose der Wälder in der Umgebung der Stadt spazierenging. Hörte er nicht auch jetzt Schritte, leise, getupfte, auf einem dicken Teppich? War es einer, der da ging, waren es zwei? Manfreds Gedanken verwirrten sich, er glaubte der Totenstille nicht, traute dem Frieden nicht, traute niemandem, nicht einmal sich selbst.
Jetzt schichtete er die größeren und kleineren Schachteln, welche die Pfänder enthielten und die alle mit feinen Seidenschnürchen umwickelt und mit rotbraunem Siegellack versiegelt waren, aufeinander, dann legte er die Briefchen von verschiedener Farbe, die die verschiedenen Rauschgifte enthielten, ordentlich zusammen, Morphium blau, Heroin violett, Kokain rot (die Farbe der Liebe) und auch Veronal und die »Ersätze«, wertlose, unschuldige Nachahmungen, »Moc« genannt, in hellgrünem Papier, in der Farbe der Hoffnung. Mit diesen Mocs waren wohl die besten und noch dazu moralische, edelsinnige Geschäfte zu machen. Man mußte säuberlich mit ihnen umgehen, sie nicht zu billig hergeben.
Einen Teil der Sachen schichtete er in das unterste, einen anderen zu den neuen Spielkartenpaketen in das zweitunterste Fach, das von dem untersten durch ein dünnes Brett aus Eichenholz getrennt war. In dem größten, obersten, durch ein eigenes Türchen verschlossenen Teil, dem Tresor, waren das Pfandbuch und das Scheckheft, die Safequittung neben seinen Spezialausweisen, den politischen Notizen und anderen Schriften verwahrt, neben seinen Andenken aus seiner Jugendzeit, den alten Zeichenheften und vergilbten Schulbüchern mit Eselsohren, von denen er sich nie getrennt hatte und in deren Seiten sich seine verschiedenen Pässe, alles liebe Dinge von Steffies Hand, befanden. Nun holte er das Pfandbuch heraus. Er blätterte, auf der Erde hockend und die Kanten des großen, schweren, in Messing gefaßten Buches (es sollte den Kindern immer imponieren) gegen seinen Leib drückend, was seine Magenkrämpfe etwas dämpfte, die Folioblätter eines nach dem anderen um und verglich die Nummern dort mit den auch auf den Schächtelchen notierten Fälligkeitsdaten, als ob es jetzt das wichtigste wäre festzustellen, was morgen oder übermorgen verfallen sei. War nicht er selbst verfallen? Es durchschoß ihn eiskalt, und sein schweres Buch entglitt ihm: »Kind, wirst du den morgigen Tag, den 17., noch erleben?« Nun hatte er sich selbst ein Kind genannt. Er schob das Buch, ohne sich umzuwenden, in die obere Lade. Er blickte, jetzt aufrecht stehend, die Kasse mit ihrem vielfältigen Inhalt an. Er lauschte, hörte aber nichts. Daß der morgige Tag gerade der 17. und ein Montag war, machte ihm unsinnige Angst und ließ ihn zugleich über seine Torheit lächeln. Aber auf einmal merkte er, daß er am ganzen Leibe zitterte.
Es war fast ein Gefühl der Beruhigung, des unerbittlichen, unumstößlich festen Endes (endlich, endlich! als hätte er es immer ersehnt!) und zugleich ein Heranhauchen des furchtbarsten, alles auflösenden Schauders, mit dem er, in den Knien einknickend, eine schwere, kühle, große Hand mit metallisch klirrendem Armband auf seinem Nacken fühlte.