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IV

Rudolf schlief in der Krankenabteilung des Gefängnisses vier Tage und vier Nächte, von seinem Bruder fast ununterbrochen mit größter Sorgfalt gepflegt. Am dritten Tage wurde er noch während des Schlafes von den beiden Ärzten, Fabrizius und Konrad, unter den Arm genommen und zum Aufstehen gebracht. Leichenfahl, mit kleinen, trippelnden Schritten, zähneklappernd vor Frost mitten in der Junisonne, eine Wärmflasche mit Tüchern um den Leib gebunden, mit leeren, seelenlosen Augen vor sich hinstarrend, ließ er sich den Lazarettkorridor entlangführen, dann mußte er über zwei Stufen hinabsteigen, große, schwer zu besiegende Hindernisse, bis er zu dem kreisförmigen, kurz gehaltenen Rasenplatz des Hofes VII kam, der mitten in der Mittagssonne lag. Hier stand er still und sah vor sich hin.

Die wenigen Schritte hatten den großen Menschen so erschöpft, daß er bald nachher mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung in das inzwischen frisch gemachte Bett zurückkehrte.

Konrad versuchte, sich mit Flossie telephonisch in Verbindung zu setzen. Aber es gelang nicht. Entweder war die Nummer besetzt, oder es meldete sich niemand. Bei seinem Schwiegervater anzurufen, hatte Konrad eine unüberwindbare Scheu. Seine Frau beunruhigte ihn. War es zum erstenmal in ihrer Ehe? Jetzt entsann er sich seiner Brautzeit mitten in der Inflation, wie er sie unlängst dem Untersuchungsrichter geschildert hatte. Damals hatte er seinen armen Rudolf um Flossies willen vernachlässigt. Jetzt wollte er ihn nicht eher verlassen, als bis er wieder der alte war. Noch am fünften Tag war der Bruder halb im Dämmerschlaf, wenn er auch ab und zu erstaunt die Augen öffnete. Erst zu Mittag des sechsten Tages konnte er zum erstenmal wieder allein trinken und Gabel und Löffel zum Munde führen. Von Flossie war keine Nachricht gekommen. Am siebenten Tage antwortete Rudolf mit klarem Bewußtsein auf die Fragen des Bruders. Es war die alte Stimme, aber – die Antworten kamen zögernd, die Silben abgehackt heraus, der Blick war voller Mißtrauen.

»Weißt du, wo du bist, Rudolf?«

»Im Krankenhaus.«

»Und wer bin ich?« fragte Konrad lächelnd. »Mein Bruder, der Arzt –«, nach einer kleinen Pause, »im Gefängnis.«

»Und weißt du auch, warum du hier bist?« fragte Konrad, ernst geworden.

»Was wollt ihr noch von mir? Ihr wißt doch schon alles.«

»Wie fühlst du dich?«

Rudolf nickte und schwieg.

»Hast du jetzt irgendeinen erfüllbaren Wunsch?«

Keine Antwort.

»Du kannst mir ruhig alles sagen. Vor allem: willst du jetzt einen Verteidiger?«

Der Bruder schwieg. Er hatte wieder die Augen geschlossen. Jetzt sah er viel elender aus, vielleicht noch greisenhafter als vor seiner Entziehung, er zitterte in seinem Bett plötzlich am ganzen Körper, als habe er Schüttelfrost, seine Hand ließ er zwar dem Bruder, aber er drückte sie nicht. Aber war das alles echt? Der Puls ging ruhig, er war sogar auffallend gut und stark.

Als ihn Konrad freiließ, holte sich Rudolf mit seiner großen blassen Hand, an der noch das Goldkettchen klirrte, sein Kopfkissen hervor, so daß er jetzt ganz flach dalag, und breitete sich das Kissen über das Gesicht.

Nur ein paar graublonde Haarsträhnen sahen noch hervor. Er seufzte auf, erschöpft, wie nach dem ersten Spaziergang, und schien einzuschlafen.

Konrad machte sich im Zimmer zu schaffen, dann entschloß er sich zu gehen. Leise, auf den Zehenspitzen, verließ er das Zimmer. Als er aber durch das Beobachtungsfenster noch einen letzten Blick auf den Bruder warf, sah er, wie dieser das Kissen wieder von seinem Gesicht fortgenommen hatte und ganz wach, mit einem sonderbaren, überlegenen Lächeln vor sich hinstarrte. War er glücklich, endlich allein zu sein und den Bruder fortgebracht zu haben? Der Arzt kehrte voller Gedanken jetzt, nach sieben Tagen, in seine Wohnung zurück. Zum erstenmal hatte er an diesem Abend eine Spur Fremdheit bei seinem Bruder empfunden.

Daheim fand er die Räume verdunkelt, auf den Möbeln die Staubüberzüge. Die alte Minna besorgte ihm etwas mürrisch das Abendbrot, trocken gewordenen Schinken und ein wenig scharf riechende Butter zum Brot, offenbar hatte sie schon gestern oder vorgestern diese Dinge vorbereitet. Der Arzt wollte fragen. Aber er beherrschte sich und ließ die Magd wieder aus dem Zimmer gehen. Vielleicht war seine Frau hier, war immer hier geblieben, war mit Otto ausgegangen und kam doch noch heute am späten Abend heim?

Es hatte ihn beim Heimkommen mit Hoffnung erfüllt, daß nirgends ein Brief von ihr zu finden gewesen war. Daß sie aber ohne ein Wort, ohne eine neue, ernste Auseinandersetzung das Haus verlassen könnte – ohne einen Abschiedsbrief, den selbst ungetreue Frauen immer ihren verlassenen Gatten hinterließen, traute er ihr nicht zu.

Er setzte sich an den Schreibtisch, auf dem die Zeitungen der letzten Woche aufgeschichtet lagen. Er las sie nicht.

Minna kam in das Speisezimmer und räumte das Geschirr ab. Sie fragte, ob der »junge Herr« (für sie war und blieb er der junge Herr) keine Wünsche habe. Dann wartete sie noch eine Weile, langsam die Teller aufeinanderschichtend. Offenbar wollte sie ganz gerne reden. Konrad aber wollte von ihr nichts hören.

Plötzlich ging das Telephon. Einmal, vor einem oder zwei Monaten, hatte ihn Flossie von einer Gesellschaft beim Apotheker, bei der es ungewöhnlich spät geworden war, um diese Zeit angerufen. Er war damals im hellen Straßenanzug hingekommen, und man hatte unter anspruchslosen Menschen wieder einmal einen netten Abend verlebt. Sie konnte also nicht einmal eine Stunde ohne ihn, ohne ihre »Imme«, ihren »Liebesten« sein. War denn wenigstens das noch echt? Doch! Es konnte nicht mit einem Schlag alles zu Ende sein!

Das Gespräch war eine falsche Verbindung, man verlangte nicht nach ihm.

Draußen hatte sich ein schwüler Wind erhoben. Es sauste in den herabgelassenen Jalousien. Konrad ging in das Badezimmer. Aus der Kammer der Magd, die sich nebenan befand, drang bereits ein tiefes, dröhnendes Schnarchen heraus. Er weckte Minna nicht. Sollte er wirklich von jetzt mit ihr allein leben müssen? Aber wie? Kehrte seine Frau nicht zurück mit dem Kind, wie sollte er dann sein Leben noch weiterführen? Konnte er das Alleinsein ertragen? Konnte er ohne Liebe, ohne gute Ehe, ohne Familie leben, ohne Pflege, Ordnung und Regelmäßigkeit? Konnte er die für ihn allein viel zu große, viel zu teure Wohnung behalten? Die Frau fort mit dem Kind, die Mutter fort, die Schwester Hilda fort, vielleicht auch der Bruder fort? Und er allein? Und wie für alle und alles sorgen? Und wovon leben? Am Gefängnis konnte er nicht im Amt bleiben. Der Direktor hatte recht, er sah es ein. Und hier alles verlassen, an einem anderen Ort eine neue Existenz aufbauen? Und das alles ohne die Frau, ohne sein Kind? Aber er mußte sie ernähren, auch für die Mutter mußte gesorgt werden, für den Bruder am allermeisten. Jetzt konnte er sich plötzlich nicht mehr vorstellen, daß sein Bruder das Gefängnis ohne Strafe verlassen könnte. Er begann, seinen Bruder mit Flossies Augen zu sehen. Er wollte nicht. Aber an Rudolfs Hand, die er vor ein paar Stunden in der seinen gehalten hatte, klebte Blut. Mit einemmal begriff Konrad, daß sich sein ganzes Leben seit dem Telephonanruf unlängst um sieben Uhr morgens von Grund auf geändert hatte.

An seiner Kleidung, an seinem Haar haftete noch der dumpf-säuerliche Gefängnisgeruch. Er begriff, wie sehr sich Flossie vor diesem Geruch ekelte.

Er hatte Wasser in die Wanne eingelassen, jetzt war es schon bis an den Rand gestiegen, mit grellem Glanz die Deckenbeleuchtung widerspiegelnd. Früher hatte er in einer sonderbaren Scheu vor sich selbst am liebsten im Dunkeln gebadet, heute wollte er das Licht ertragen.

An einem großen Nagel über dem leicht beschlagenen Badespiegel hing an der hellen Wand das alte, verzinnte Kinderwännchen, zerkratzt und verbeult, das ihm und seinen Geschwistern und zuletzt seinem Töchterchen Otto gedient hatte, darunter schimmerte die mit gebogenem blankem Holzgriff versehene Rückenbürste Flossies, mit den sauberen, schneeweißen, kurzen Borsten, die seine Frau so gerne unter der Brause verwandte, lauter Lieder eigener Erfindung aus voller Kehle singend, so daß das Badezimmer dröhnte, plötzlich auflachend wie gekitzelt, das Gesicht und den Oberkörper rot vor Anstrengung, die Haare nach vorne geworfen, bis über die aprikosenfarbenen, vollen, gesunden Brüste, die sich hoben, wenn sie nachher mit den nassen schönen starken Armen die Haare vor dem Spiegel kämmte. Die hellen, langen Haare warfen, von der Feuchtigkeit des Raumes noch glänzender gemacht, enge Wellen, und immer kleiner und immer glitzernder wurde dann in ihrem immer noch geröteten Nacken der Haarknoten, den sie sich steckte, plötzlich die Augen schließend und verstummend. Wenn er hinzugekommen war, sein Kind (verbotenerweise, als ob er es fallen lassen könnte!) auf dem Arm, da hatte sie nicht einmal nach rückwärts, nach der Tür gesehen, denn er war für sie ein Teil ihrer selbst und sie ein Teil von ihm. Bis vor zehn Tagen – und nie wieder?

Er konnte es nicht glauben. Und doch, die großen Zimmer blieben leer und still, in dem Ehebett wartete niemand auf ihn, wenn er jetzt vor Müdigkeit etwas zitternd und die letzte Feuchtigkeit mit dem großen Badetuch wegfrottierend, ins Schlafzimmer kam. Ihre Seite, die rechte, war leer, auch die schöne gelbe Daunendecke fehlte.

So hatte sie doch etwas von dem gemeinsamen Eigentum, von dem gemeinsamen Besitz, den man in den bösen Inflationsjahren Stück für Stück voller Eifer und im Glück des ersten »eigenen« Besitzes erworben hatte, mit sich genommen, ohne ihn zu fragen?

Warum hatte sie aber dann ihren Pyjama dagelassen? Säuberlich lag er, das Beinkleid unter der Jacke sorgfältig zusammengefaltet, unter ihrem Kopfkissen, ebenso wie der seine unter seinem Kissen. Beide Pyjamas hatten die gleiche Farbe, den gleichen Schnitt, sie hatte sie selbst zugeschnitten nach einer Zeitschrift und sie mit der Hand sorgfältig genäht. Zur Unterscheidung hatte sie ihm links, über dem Herzen, ein rot-grünes Monogramm hineingestickt, ein kleines rotes K, das sich in der großen Höhlung des grünen D ganz verlor.

Plötzlich entsann er sich des Monogrammes, das der Untersuchungsrichter aufgezeichnet und wieder ausgelöscht hatte, und zu gleicher Zeit ging es ihm auf, daß er seiner Flossie »wieder« Unrecht getan hatte. Sie hatte ihre schöne gelbe Daunendecke nicht mitgenommen. Sie hatte sie ja gleich am ersten Abend dem von ihr gehaßten Rudolf in das Lazarett geschickt. Wie konnte er das vergessen? Sie hatte sich überwunden, sie hatte also Frieden und Eintracht gewollt, bis zuletzt, bis zu der Zeit, wo er schon bei seinem Bruder gewesen war. Also war er es, der Frieden und Eintracht nicht wollte? Aber er liebte seine Flossie doch, so innig, wie an dem Novembervormittag 1918, als sie die blonden Haare an seinem Rockknopf festgeknüpft und des Vaters Kolophonium daran ausprobiert hatte. Er hatte sie seither nach seiner Art immer lieber gewonnen und sie ihn auch. Plötzlich hatte er Angst, daß er seinem Bruder seit heute nacht nicht mehr so zugetan sei wie bisher. Hatte er das Recht, enttäuscht zu sein? Er wußte nicht, ob er seinen Rudolf bei aller Liebe auch verstand. Er aber und Flossie, ja, sie verstanden einander. Auch ohne Worte, ja, ohne Worte ganz besonders.

Während seine Gedanken ineinander verschwammen, entsann er sich, daß er hier in diesem Bette einmal Flossies hohen Leib einige Wochen vor ihrer Niederkunft durch die knisternde, weiche, duftende Daunendecke hindurch gestreichelt hatte, er war schweigend mit seiner hohlen Hand sanft über die kleine, knisternde, lauwarme Halbkugel gefahren, auch sie hatte lange nichts gesagt, kaum gelächelt, sondern hatte vielmehr mit geschlossenen Augen, einen strengen, abweisenden Ausdruck in ihrem unregelmäßigen Gesicht, dagelegen – aber das Kind hatte plötzlich geantwortet, er hatte es gefühlt, und auch das Gesicht der Frau hatte sich plötzlich verwandelt, war wachsam, aufgeregt geworden, verklärt, vielleicht auch etwas richtige Angst und Furcht vor der ersten Entbindung lag auf ihm und soviel zarte, stumme Liebe für ihn, Konrad: »Imme, merkst du ihn, den kleinen Schurken, wie er stößt?« Wie sollte er sie zurückrufen? Da schlief er schon.


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