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VII.

Der Arzt ließ auf sich warten. Es war ein Uhr Nachmittag, unter den Fenstern sah man einige Tische besetzt, und das Klirren der Eßbestecke auf den Tellern drang empor mit dem Geruch der Speisen, die unten serviert wurden.

Und sie lag immer noch da, die kleine Langschläferin, das süße böse Faulpelzchen. Zu gern hätte er sie wach gemacht. Aber wie? Plötzlich fiel ihm ein, daß sie ihn bei der Reise, kurz vor der Ankunft in Prag gebeten hatte, sie zu schlagen. Mit den Handschuhen, den langen, den weichen, aber nicht mit den Knöpfchen, sondern mit den Fingerspitzen. Er hatte die Handschuhe eben erst in die Lade eingeräumt, sie vorsichtig glättend und die wie aufgeblasenen Fingerchen wieder zusammendrückend. Jetzt holte er sie hervor, sie waren aber so weich wie Blumenblätter, und wenn er sich selbst zur Probe ganz fest damit zu schlagen versuchte, empfand er es nur als Liebkosung, nicht anders. Aber es sollte ja jetzt nicht mehr liebkosen, nur wecken. Sollte er Vera schlagen? Konnte er sie damit erwecken? War sie wirklich tief betäubt, so merkte sie nichts davon. War es aber nur ein zu schwerer Schlaf, dann war der Schlag wie Medizin, und sie konnte noch jetzt, vor dem Mittagessen, aufstehen und essen, endlich sich gut nähren und wieder zu Kräften kommen. Von unten stieg verführerisch der Duft der Speisen empor.

Zuerst schlug er zwei-, dreimal auf die Kissen, ohne daß sich etwas in Veras leichenblassem Gesichtchen, von dem die Schweißtropfen wieder verschwunden waren, rührte.

Dann faßte er sich ein Herz und hob die Hand, um ihr auf die Wangen zu schlagen.

Dann sah er, noch einmal zögernd, seine Hände an. Ein Fingernagel stand ziemlich weit vor, der des kleinen Fingers, den er immer sehr geschont hatte. Aber jetzt mußte er ihn opfern und schnitt ihn und die anderen kurz ab. Aber selbst jetzt graute ihm davor, sie hart anzufassen. Er hatte es nie getan, von ihrer ersten Liebesnacht angefangen bis zur letzten (nein, nicht »letzten«, das durfte und konnte ja gar nicht sein) hatte er sie immer mit aller Schonung, immer und überall ganz zart berührt, und jetzt sollte er ihr einen Schlag versetzen?

Er versuchte noch ein anderes Mittel. Er zog die abgelaufene silberne Weckeruhr auf, stellte den Wecker auf halb zwei Uhr und ließ sie vor ihren kleinen Öhrchen losklingeln. Es klang grell, es dauerte lange. Endlich verstummte der Wecker. Geschlossene Lider. Sie rührte sich nicht.

Es mußte also sein? Nun hob er die Hand und schlug seiner Frau, sie dabei mit den zärtlichsten Koseworten anstammelnd, ins Gesicht. Es schauderte ihn, als mit einem häßlichen Klatschen seine dürre, ausgebreitete Hand ihre weichen, kühlen Wangen berührte. Aber es schien ihm, als sei sie doch, unmerklich fast, zusammengezuckt, und die Wangen röteten sich lebhaft, und so atmete er tief auf und schlug zu. »Verachen, süßes, holdes, geliebtes Kind, Öseicht, Bösewicht, ach och auf! Wach doch auf, Verachen! Püppele, Üppele!«

Schon schien sie ein elektrischer Strom, von den Schultern beginnend und die schlanken Arme hinablaufend, zu durchzittern, und er holte aus, um ihr noch einen Schlag, »den letzten, den aller-, allerletzten«, zu versetzen, als sich Schritte der Tür näherten und zugleich mit dem klatschenden Niederprallen seiner Hand, die er in ihrem Schwung nicht mehr hatte aufhalten können, sich die Tür auftat und der Portier mit dem Hoteldirektor und einem Serviermädchen auf der Schwelle erschienen. Das Serviermädchen hatte ein ganzes Gedeck auf dem Arm gebracht. Jetzt stand sie mit den Terrinen und Tellern da, genauso, wie er sie in der »Hera« seinen armen ausgebeutelten Gästen oft zu etwas ungelegener Zeit aufgetischt hatte.

Der Direktor, ein würdiger älterer Herr, wandte entrüstet seine Augen fort, das Serviermädchen, bis an die Brust errötend, stellte das Tablett auf den Tisch, und der Portier allein behielt kaltes Blut. Er hatte Nachricht vom Arzt.

Chiffon hätte vor Scham und Wut in die Erde versinken mögen. Plötzlich entsann er sich, wie sehr ihm Vera das feine zarte Wesen Rudolfs gerühmt hatte! Rudolf hätte nie geschlagen, auch aus Liebe nicht! Er faßte sich schnell, aber er hatte sich nicht mehr so in der Gewalt wie in früheren Zeiten, denn die Sorge um Vera machte ihn fast wahnsinnig, und so ließ er es dem alten Hoteldirektor gegenüber an Geduld fehlen und warf ihm und seinen Begleitern mit keifender, hoher Stimme vor, sie hätten sich, ohne anzupochen, wie es in einem anständigen Hotel Sitte sei, in das Zimmer hineingedrängt. Gerade im Punkt der Anständigkeit des Hotels war aber der Direktor empfindlich. Sich zu straffer Haltung aufrichtend, erwiderte er, in diesem Punkte brauche er keine Lektionen anzunehmen.

»Ja, sehen Sie denn nicht meine Frau hier schwerkrank liegen?« rief Chiffon mit noch stärkerem Keifen aus.

»Was können wir mehr tun? Mein Herr! Mein Herr, wir haben sogar das Mittagsmenu aufs Zimmer bringen lassen – ohne Extrazuschlag...«

Chiffon, sich endlich zu einem Lächeln zwingend, das sich aber zu einer scheußlichen Grimasse verzerrte, schüttelte nur den Kopf, mit seinem langen, häßlichen Finger ohne ordentlichen Nagel immer noch auf die schlafende Vera zeigend. Mitten in dem leichenblassen Gesicht fielen die von den Schlägen geröteten Stellen besonders kraß auf. Der Direktor verbeugte sich, sagte nichts und verließ das Zimmer. Das Serviermädchen war schon früher gegangen.

Chiffon wandte sich zum Portier. »Und wo bleibt denn der Arzt?«

»Bei einer Geburt!« flüsterte der Portier mit wichtigtuerischer Miene. »Ein neuer Erdenbürger – großer Kopf, zarte Frau, schwere Arbeit!« Und er schmunzelte, als habe er einen guten Witz vom Stapel gelassen, dann aber, mit einem scheuen Blick auf Vera: »Geht es denn dem gnädigen Fräulein immer noch nicht besser? Was ist denn passiert?«

»Ach, nichts. Sie sehen doch«, zischte Chiffon, der seine ganze Wut jetzt an dem Portier losließ, »meine Frau kann nachts in dem Lärm schlecht schlafen, da hat sie ein Schlafmittel zuviel genommen. Was ist da viel zu verstehen?«

»Hier schlecht schlafen? In unserem Hotel? Ruhiger kann sie es nirgends finden – die gnädige Frau. Sie haben doch auch das Nebenzimmer zur Verfügung – und nicht ruhig? Nicht schlafen?«

»Schon recht, schon recht«, sagte Chiffon, den Portier sanft aus dem Zimmer herausdrängend, »rufen Sie doch noch einmal bei dem Arzt an. Oder nein, bei einem anderen. Es wird doch noch ein anderer in erreichbarer Nähe sein?«

»Wo? In der Nähe? Ein anderer?« fragte der Portier, schon an der Schwelle, in seiner dümmlichen Art.

»Ach was! Bitte, rufen Sie jedenfalls noch einmal an, und zwar dringend!«

»Kostet aber! Dringend? Kostet dreifachen Tarif, wenn dringend«, antwortete der Portier, der sehr gut bemerkt hatte, daß Chiffon mit seinem Geld haushalten mußte.

»Wie meinen?« fragte Chiffon wütend.

»Oh, bitte, nichts gesagt zu haben. Werde sofort anrufen. Aber bis drei Uhr ist das Amt geschlossen.«

»Was, euer Dreckamt ist geschlossen?«

»Nicht immer«, sagte der Portier eingeschüchtert, »ich werde dafür sorgen, ich schicke unseren Boy zur Postagentur. Verlassen Sie sich auf mich, ich selbst werde dafür sorgen, daß die arme Dame – in gute Hände kommt.«

In fürchterlicher Unruhe verbrachte Chiffon die Zeit bis fünf Uhr nachmittags. Draußen hatte sich ein starker Wind erhoben, auf dem glanzlosen Wasser zeigten sich steingraue hohe Wellen mit weißen Schaumkränzen, in den Tannen heulte der Sturm, aber noch war kein Tropfen vom düster umhangenen Himmel gefallen.

Um fünf Uhr begann der Lautsprecher, der auf der Balkonestrade angebracht war, zu dröhnen, und eine Tanzplatte nach der andern, fast nur alte abgetane Schlager, wurden aufgelegt, und die wenigen Paare, meist ganz junge, reizende Mädchen in lichten Kleidchen und junge hübsche schlanke Männer in Sportkleidung, begannen sich auf der kleinen Tanzplatte im Tanz zu drehen. Kaum war die eine Platte abgelaufen, als fast ohne Pause eine neue aufgelegt wurde, und so ging es stundenlang.

Um sechs Uhr war das Serviermädchen erschienen und hatte, während sie das unberührte Essen wieder abräumte, zu Chiffon gesagt: »Der Doktor wird sich gleich kommen.« Angesichts der totenstillen, mit jeder Minute mehr verfallenden, schwer und röchelnd atmenden Vera war Chiffon ganz zu Boden geschmettert. Er lauschte auf jeden Schritt auf der Treppe, aber es waren nur die Wochenendpaare, die lustig plaudernd, singend, zwitschernd, lachend, eben wie himmlisch vergnügte, gesunde, blühende Kinder, die Treppen hinauf- und hinabschlüpften.

Endlich, während ein gewaltiger Gewitterregen über dem See und der Tanzplatte niederprasselte, erschien der junge Arzt in einer kurzen Lederjoppe, regentriefend von oben bis unten, die nassen, schweren, kastanienfarbenen Fahrhandschuhe über der seidenen Daunendecke der schlafenden Vera ausschüttelnd. Er ließ sich von dem Gatten berichten, prüfte das Veronalröhrchen, ließ sich alles dreimal und viermal wiederholen, immer durch die draußen unbekümmert weiterdröhnende Tanzmusik am richtigen Zuhören gehindert. Endlich begriff er, was vorgegangen war, beugte sich über Vera, untersuchte sie, etwas ungeschickt zwar, aber gründlich und zart. Dann machte er ein ernstes Gesicht und knipste, da es durch das Gewitter im Zimmer etwas dunkel geworden war, die Nachttischlampe an – legte die Daunendecke vorsichtig zurück und entdeckte auf den reizenden Knien der jungen Frau die zwei Gesichter, die sie gestern nacht dort aufgemalt hatte, eines karminrot mit dem Lippenstift, das andere schokoladenbraun mit der Tafel Schokolade.

Zuerst staunte er, dann brach er in ein prustendes gesundes Lachen aus.

Als Chiffon herbeieilte, um mit einem nassen Schwamm die kindische Zeichnung zu entfernen, sagte er in unbeholfenem Deutsch, immer wieder von Lachstürmen unterbrochen: »Das ist bald zu Ende. Lassen der Herr nur!«

Chiffon starrte ihn entsetzt an. Hatte der Arzt gemeint, daß Vera verloren sei? Der Landarzt verstand endlich, daß Chiffon ihn mißverstanden hatte. »O nein, Gegenteil, das ist nix.«

»Keine Gefahr?«

»Keine Gefahr! Sofort nach Prag!« sagte der Landarzt, sich seine Sachen, die Lederhandschuhe und die Lederkappe zusammensuchend. An der Schwelle blieb er stehen. Chiffon suchte Geld in seiner Börse zusammen. Dankbar nahm der Arzt das Honorar entgegen und wiederholte zusammenfassend alles in drei Sätzen: »Keine Gefahr. Sofort nach Prag! Und bitte nicht mehr schlagen?!«

Entgeistert blieb Manfred zurück. Zu seinem andern Jammer quälte ihn jetzt der Gedanke, man habe geglaubt, er habe seine Frau in Wut, mit böser Absicht geschlagen, er, der seine Vera nie anders als mit der zärtlichsten Schonung berührt hatte. Aber er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Der Direktor erschien, noch förmlicher als vorhin, und sagte: »Ich habe gehört, daß Sie unser Haus heute noch verlassen wollen.«

»Ja, meine Frau soll nach Prag ins Sanatorium.«

»Ja, gewiß, am besten zu Dr. A., ins Sanatorium«, sagte der Direktor. »Unser Personal wird Ihnen beim Einpacken behilflich sein.«

Chiffon nickte, dankbar gegen den alten Herrn mit weißem Kaiserbart gesinnt. Plötzlich fiel es ihm schwer aufs Herz. »Aber wie-wie-wie...? Wie bringen wir sie aber fort?«

»Zu Fuß kann sie nicht bis zum Postauto gehen. Auch ist es meist zum Platzen voll, es ist fürchterlich selbst für eine gesunde Person«, überlegte der Direktor. »Wir würden sie ja gar zu gern dabehalten, aber...«

»Nein, nein, es ist schon das beste, sie kommt sofort in bessere Pflege.«

»Natürlich, freilich, ganz gewiß, das mit dem Schlagen hilft eben nicht immer. Ich hatte mit meiner Frau auch mal Differenzen... Hat aber nie genützt. Jetzt ist sie lange schon glücklich hinüber.« Er lächelte.

»Haben Sie denn kein Hotelauto für den Transport?« fragte Chiffon.

»Hotelauto? Nein! Eigentlich nein. Das rentiert sich beim schwachen Besuch nicht. Die meisten kommen mit dem Autobus her, oder sie haben Motorräder...«

»Ich habe aber einen kleinen Wagen in der Hotelgarage gesehen.«

»So? Das ist mein Privatauto.«

»Können Sie es mir nicht zur Verfügung stellen? Sie müssen doch Rücksicht auf meine arme Frau nehmen.«

»Oh, ich bitte Sie! Halten Sie mich für einen Unmenschen?«

»Also!«

»Leider ist es kaputt. Der Ventilatorriemen ist gerissen.«

»Das ist eine Kleinigkeit.«

»Glauben Sie?!«

»Lassen Sie ihn auf meine Kosten reparieren.«

»Oh, das dürfen Sie mir nicht anbieten.«

»Ja, was soll ich um Himmels willen denn noch tun?« schrie Chiffon ganz verzweifelt und faßte nach den Händen des Hoteldirektors. »O bitte, nicht so temperamentvoll im Krankenzimmer! Nicht so laut sprechen«, sagte der Direktor gemessen. »Wir haben doch noch andere Gäste.« Tatsächlich waren im Nebenzimmer Stimmen laut geworden, Lachen und zärtliche Ausrufe...

Chiffon wußte nicht mehr, was tun. Die Daunendecke war wieder über die schlafende Vera gebreitet worden, bloß ihr winziges weißes Füßchen sah hervor. Er deckte es zu.

In so tiefer, alles zerreißender Verzweiflung war er nie gewesen, selbst in seiner düsteren Jugend im »schwarzen Elsaß« nicht, in den seligen Rosenfingerzeiten nicht, nicht an der Eisenkasse, eingeklemmt von Rudolfs festen Knien und Rudolfs Zigarette zwischen Halskragen und Haut – jetzt hatte sich das Schicksal vielleicht doch an ihm gerächt, das, was die »Kinder« in ihrer glücklichen Einfalt den lieben Gott nannten? Sollte er ihm noch einmal ein Gelübde tun, ihm noch einmal etwas von seinem Geld anbieten? Würde ihm der Himmel trauen? Was sollte nur werden? Vera konnte doch nicht hier zugrunde gehen. »Keine Gefahr?« Was wußte der dumme Landarzt? »Sofort nach Prag!« das war die Hauptsache... Wenn doch nur der Himmel Einsicht hätte, ein letztes Mal noch! »Lieber Gott, ich schlage dir nichts mehr vor, du machst das Geschäft ja doch nicht. Aber wenn du dich schon meiner nicht erbarmst, erbarme dich meiner armen, unschuldigen, geliebten Frau!« (Jetzt erschollen die Zärtlichkeitsbeweise noch deutlicher vom Nebenzimmer her.) »Laß sie nicht hier zugrunde gehen!« Der Direktor war eben ganz nahe an ihn herangetreten und hatte, die Worte in seinen dicken Bart hineinmurmelnd, gesagt: »Wenn Sie es riskieren wollen, nehmen Sie in Gottes Namen den Wagen!«

»Ach tausend Dank! Wirklich? Tausend Dank!«

Draußen war es noch dämmerig, aber riesige Regenmassen strömten herab, auf dem glatten Tanzparkett aufplatzend.

»Nichts zu danken, mein Herr«, sagte der Direktor gerührt, »auch ich bin ein alter Eheveteran, mir haben die Frauen derzeit auch genug Scherereien gemacht! Komisches Volk das, könnten es doch so gut haben! Veronal! Veronal! Wie kommt solches Frauchen zu Veronal? Sie hätten es besser verschließen sollen! Kenne das alles, es ist aber auch Theater dabei, ich war ein Ehekrüppel...«

»Was ist nun jetzt mit dem Wagen?« fragte Chiffon ungeduldig. »Ach so! Den Wagen können der Herr sofort haben. Sobald nämlich der Riemen, auf meine Rechnung hier im Ort, geflickt ist.«

»Und wer fährt?«

»Ja, wer fährt? Ich kann meine Leute jetzt nicht entbehren, wir haben heute Hochsaison. Aber lassen Sie es gut sein, ich verschaffe Ihnen einen Chauffeur, der bringt sie zuverlässig nach Prag. Wenn nur die alte Karre bis dorthin aushält.«

Chiffon drückte dem Direktor dankbar die Hand, dann machte er sich in aller Eile ans Packen, das Stubenmädchen war ihm behilflich, seine Frau warm anzukleiden. Jetzt waren endlich die vielen Koffer gepackt, Vera lag vollständig angekleidet in ihrem weißen Mäntelchen auf dem Bett. Von draußen hörte er starkes Motorengeknatter, aber es waren nur Wochenendgäste, die trotz des schlechten Wetters angekommen waren, denn die Voraussage des Portiers hatte sich erfüllt, noch am späten Nachmittag war in Prag das schönste Wetter gewesen.

Der Wagen kam nicht. Endlich als Chiffon in seiner Verzweiflung die Treppe hinabrannte, sah er den Wagen im Regen stehen, vielleicht schon seit einer Stunde, und niemand hatte es ihm gemeldet! Es war ein kleiner Viersitzer, offen, das Wetterdach war nicht aufgespannt und der Regen klatschte über die abgenutzten Kissen und rann in kleinen Bächen über die blanken Teile des Wagens hinab. Endlich war das Verdeck aufgespannt, das Gepäck rückwärts, so gut es ging, und vorne neben dem Chauffeur verfrachtet. Man trug mit seiner Hilfe Vera in den Wagen (ihre zarten Beine zeichneten sich durch den dünnen Rock ab, und plötzlich entsann sich ihr Mann der Szene am Kiosk, wo sie mit ihrem dünnen Röckchen im Blut des Polizisten gekniet hatte, und es durchfuhr ihn ein Schauder der Furcht, wie er ihn nie gekannt hatte), dann war sie sorgfältig gebettet und mit Decken zugedeckt, er hatte sich neben sie gesetzt, der Motor war angelassen, und alles sollte losgehen, als ihm der Portier, verärgert durch ein viel zu kleines Trinkgeld (Chiffon mußte ja sparen), nachlief und ihn energisch aufforderte – sich in das Gästebuch einzutragen.

»Muß denn das jetzt sein?«

»Ja, natürlich, bitte freundlichst mit leserlicher Schrift, in lateinischen Buchstaben. Wie es so üblich ist. Ja, bitte hier! Bitte gleich! Sofort kommen der Herr an die Reihe, sobald die Herrschaften hier fertig sind.«

Die »Herrschaften« waren ein junges, entzückendes Wochenendpaar. Das Mädchen war blutjung, goldblond. Das kleine Ding war bezaubernd, wenn auch sehr einfach angezogen. Offenbar war sie zum erstenmal auf einer Wochenendtour begriffen, jetzt tuschelte sie tief errötend mit dem jungen, hochgewachsenen Mann. Sie überlegten, welchen Namen sie in das Gästebuch einschreiben sollten. Sie kamen zu keinem Entschluß.

Chiffon, in seiner verzweifelten Ungeduld, wollte sie von dem Schreibpult fortdrängen, aber der Portier, den Chiffon bis jetzt immer für ein »gutes dickes Kind« gehalten hatte, stellte sich mit seinem breiten Rücken schützend vor die Jugend, und es vergingen viele Minuten (nie hatte Chiffon geahnt, daß fünf Minuten so lange dauern könnten), bis er an die Reihe kam. Nun marterte ihn das »gute dicke Kind« in seinem langen, hechtgrauen, mit goldenen Borten geschmückten Portiersgewand damit, daß er ohne Ausnahme alle Spalten ausfüllen mußte, mit lateinischen Buchstaben, und zwar bis zu den Namen und Geburtsdaten von seinen und Veras Eltern. Endlich hatte er alles angegeben.

Dann kam der Portier noch mit einer Nachtragsrechnung, es waren die vielen, zum Teil mit dreifachem Tarif zu bezahlenden Telephongespräche mit dem Arzt und auch eine »Kommission«, nämlich der Weg, den der Hotelboy für Chiffon zum Postamt gemacht hatte. Zähneknirschend vor Wut und doch sich mit seiner ganzen Charakterstärke bezwingend, griff Chiffon in die Tasche und zahlte jetzt fast sein ganzes Geld aus, während er sich damit zu beruhigen suchte, daß diese Forderungen des Portiers an sich berechtigt waren und auf den Heller stimmten. Und doch war er ganz gebrochen, als er nach einem letzten verachtungsvollen Blick auf den Portier und ohne dessen überdevoten Abschiedsgruß einer Antwort zu würdigen, zu dem Wagen zurückkehrte.

Aber auch jetzt durften sie beide, er und seine unglückliche, kleine Frau, nicht fort. Der Portier kam noch einmal vor das Hotel, welches den Eingang beschützte, und begann, sein großes, Chiffons altem Pfandbuche ähnliches Gästebuch in Händen, um die Wahrheit seiner Beanstandung jedem beweisen zu können, laut von neuem: »Der Herr haben sich geirrt!«

»Ich habe mich geirrt?« fragte Chiffon, an allen Gliedern bebend.

»Ja, der Herr haben sich sehr geirrt!«

»Scheren Sie sich zum Teufel!«

»Wieso ich zum Teufel? Hier in dieses amtliche Buch haben der Herr eingetragen ›Manuel Chiffons‹ und in Wirklichkeit heißen der Herr vielleicht ganz anders.«

»So, anders? Und wie?«

»Wie? Mein Herr? Wie? Manuel v. G. heißen Sie.«

»Ich heiße nicht Manuel!« zischte Chiffon.

»Also dann stimmt auch der Vorname nicht. Sie heißen G., und so müssen sich der Herr hier einschreiben. Adel fällt hier bei uns fort. Sie müssen die erste Eintragung durchstreichen und müssen unter Vorweisung Ihrer Reisedokumente den richtigen Namen G. eintragen. Sonst ...«

»So! Und wegen dieser Bagatelle wagen Sie mich und meine schwerkranke Frau hier aufzuhalten!«

»Jawohl, mein Herr, Ordnung muß sein.«

»Und woher wissen Sie, daß ich von G. heiße?«

»Woher wir das wissen? Wir haben doch Briefe bei Ihnen umherliegen sehen. Bitte machen Sie sich das klar, das kann nicht so weitergehen.«

»Unverschämt! Sie schnüffeln also meine Briefe in meiner Abwesenheit durch. Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.«

»So, nein? Dann müssen sich der Herr nur zum nächsten Gendarmerieposten hinbemühen. Aber wir werden Ihnen diese Scherereien ersparen. Wir werden Rücksicht auf ihr armes Mädelchen nehmen. Wir werden es nicht mit Ohrfeigen und Püffen aufwecken wollen. Wir sind ein erstes Haus!«

»Wissen Sie, was Sie sind?« schrie Chiffon, rot anlaufend unter seinen schweißbedeckten grauen Haaren. »Wissen Sie, was das hier ist? Ein Puff seid ihr! Ein alter Puff! Und jetzt fahren Sie los, Chauffeur!«

»Nein! Halt! Hiergeblieben! Wir sind ein Puff! Alt? 1924 erbaut?! Das werden Sie bereuen, Sie Zornteufel, Sie grauer Zornteufel! Machen Sie, daß Sie fortkommen! Wir aber ... Ich sage Ihnen zum ersten und zum letzten Mal, das werden Sie noch bereuen, Sie alter Manuel, Sie!«

Das Auto zog an. Der Regen hatte sich inzwischen eher verstärkt. Die Wut und Ungeduld erstickten Chiffon beinahe. Nur das eine Gute gab es, daß der Wagen jetzt losfuhr, und zwar schneller, als er gedacht hatte. Der Sturm hatte nachgelassen. In seinem Rücken sah Chiffon durch die von Regen triefenden Zweige der hohen Tannen die lichten Mauern des Hotels, den Balkon, hinter dem sie gewohnt hatten, die in einem Halbkreis stehenden Lichter auf der Terrasse, wie sie sich in dem schwarzen, funkelnden See in goldenem Glänze spiegelten. »Nur endlich fort! Vera, bist du auch gut zugedeckt? Kindelchen! O Gott, was wird denn nur aus uns? Du frierst doch nicht? Ach, Vera, Vera ...« Jetzt kam der Waldweg, den er und seine Frau in den letzten Tagen oft gegangen waren in glühender Mittagssonne, die zwischen den Bäumen hindurchgeflirrt hatte und der jetzt ganz im Schatten und in der Finsternis dalag. Aber der Wagen hatte jetzt ein sehr schnelles, fast beängstigendes Tempo angenommen, und die Gegend wurde bald ganz fremd.

Chiffon hielt Veras Händchen in den seinen, bald streifte er ihnen Handschuhe über, dann zog er sie wieder aus, bettete sie vorsichtig an seiner Brust, wo sie sich kühl und leblos an sein wild stoßendes Herz anlegte, dann wickelte er ihr die Decken noch besser um die feinen Knie, wohin der Regen besonders bei schnell genommenen Kurven hinspritzte. Eine zweite Decke bis an ihren Hals und dazwischen noch die kuschlige, duftende Federboa. Im ganzen war seine Vera gut gegen den Regen und die Kühle der Nacht geschützt. Langsam schien sich der Gewitterregen endlich zu verziehen, in der Ferne zeigte sich bereits ein etwas hellerer, violett getönter Lichtschein, wie er oft nachts über großen Städten zu sehen ist. Er atmete auf, er konnte hoffen, in einer halben Stunde in Prag zu sein. Plötzlich bremste der Chauffeur stark, so daß Veras Köpfchen nach vorne fiel, mit dem kalten, feuchten Munde auf seine Hände – der Wagen hielt.

Fluchend nahm der Chauffeur die Motorhaube ab. Vorn aus dem Wassereinlaß über dem Kühlerschutz dampfte es in kleinen, milchweißen Wölkchen hervor, offenbar kochte das Wasser im Kühler. »Ventilatorriemen – hin«, sagte der Chauffeur lakonisch, den Unglücksriemen, ein nasses, schwärzliches Stück mürben Leders, Chiffon vor die Augen haltend. »Was ist denn nur heute! Heiliger Himmel, ist denn heute alles verflucht?« Der Chauffeur zuckte mit den Achseln. »Können Sie denn nicht einfach so losfahren? Was kann denn passieren?«

»Hat der Chef verboten.«

»Also, was tun?«

»Reparieren!« sagte der Chauffeur und machte sich, unter seinem Sitz einen Kasten mit Werkzeug hervorholend und im Scheinwerferlicht, vom Regen noch leicht umstäubt, an die Arbeit. Der Regen begann schon deutlich nachzulassen. Zwischen den dichten Wolken bahnte sich das bläulichweiße, noch unsichere Licht des Mondes einen Weg. Zu beiden Seiten der Chaussee waren reife Getreidefelder, die Ähren hoben sich langsam, von der Last der Feuchtigkeit noch gehemmt. Sie glänzten honiggelb im Lichte der Scheinwerfer. Ein leichter Wind strich sanft über sie hin. Ein wunderbarer Duft stieg auf von der stillen dunklen Erde, eine Grille begann zu zirpen, und aus Veras Brust kam – zum erstenmal am heutigen Tage – ein tiefer Seufzer, ein gebrochenes, fragendes Stöhnen.

Manfred begann zu weinen, und seine Tränen fielen auf die mit Leder eingefaßte, feuchte, weiche, von Veras Körper noch warme Lederdecke, mit der er seine Frau bis an den Kopf eingewickelt hatte.


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