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Der Polizeispitzel Manfred von G., genannt Chiffon, hatte sein Unternehmen in einem anständigen Wohn- und Geschäftsviertel, das man die »Schwedengänge« nannte. Der Klub, der in den Parterreräumen eines kleinen villenartigen zweistöckigen Hauses, mitten in einem Block größerer Mietshäuser, eingerichtet war, hieß »Hera«.
Der Spielbankbesitzer war ein verhältnismäßig junger Mensch, 1923 kaum dreißig Jahre alt, aber schon etwas verbraucht. Von Natur aschenartige, trockene, nur durch viel Pomade fest anliegende Haare über einer runzligen, aber nicht ganz niedrigen Stirn, tiefe Falten um den verkniffenen Mund, trippelnder Gang, schüchterne, anmutige Gebärden, sehr sichere, aufrechte Haltung und gute Muskeln trotz seiner Magerkeit, tiefliegende, kluge Augen von undefinierbarer Farbe, eine leise, gewählte, ab und zu etwas stotternde Sprache. Er hatte immer zu tun, und doch schien er immer in Schwierigkeiten zu sein, zu deren Behebung er aber niemanden aufforderte. Es blieb immer bei den Worten, bei denen er lächelte, bestrebt, seinen Mund mit den langen, häßlichen Zähnen nicht zu öffnen, zwischen seinen dünnen Lippen hing fast stets eine Zigarette, er stöhnte immer über »Druck«, kam aus den Verpflichtungen angeblich nie heraus. Wenn man seinen Lamentationen glaubte, lebte er darbend und mutterseelenallein im Hinterzimmer und in der Küche der zu einem Spielklub hergerichteten Privatwohnung und verließ sie kaum. Es war nicht an dem, daß er immer höchstpersönlich Nacht für Nacht bei Trente-Quarante, Ecarté und Roulette die Bank hielt – dazu gab er sich nicht her, dazu hatte er seine Leute. Aber wie sollte er sich eine Erholung gönnen und sein Unternehmen verlassen, wenn es immer Differenzen zwischen den »Kindern«, damit meinte er die Spieler, den »Zockern« zu schlichten gab? – Erst seit einem »Unfall«, über den er viele, aber sich stets widersprechende Angaben machte, hatte er zu stottern begonnen.
Mit Unrecht, ganz mit U-U-Unrecht, so jammerte er nun in abgehackten Ausbrüchen, beklagten sich seine Kinder über unfaire Methoden in den Schwedengängen – er zeigte mit seinem tabakgebräunten knochigen Zeigefinger auf die Gäste hin, jung und alt, ärmlich gekleidete Burschen neben sehr gepflegten Erscheinungen, wie sie sich alle im Lichte der strahlenden Lampen um die grünen Spieltische Kopf an Kopf drängten –, denn (jetzt lachte er, und seine Falten im Gesicht vermehrten sich) kamen nicht alle seine guten Kinder mit tausend Freuden wieder? Das war doch der klarste Beweis für seine Reellität. Und nie hätte die Polizei etwas zu beanstanden gefunden.
Manfred von G. war immer freundlich, immer süß, bescheiden und höflich, immer Gentleman. Er ließ den Kindern für wenige Pfennige ausgezeichnete Mahlzeiten zukommen. Man bekam warme »Gedecke« bei Tag und bei Nacht, ohne Spielverpflichtung, wie er grinsend und seine häßlichen, überlangen gelben Zähne zeigend meinte, bei ihm würde immer Feuer für die Kleinen im Ofenherd gemacht, auch spät nachts, wenn die Restaurants in der Stadt schon lange geschlossen waren. Auf Spieler, die mit großen Einsätzen operieren wollten, legte er keinen Wert. Die Umsätze hielten sich in gewissen, nicht übertriebenen Grenzen. An fetten Fischen verdirbt man sich den Ma-a-gen, pflegte er zu sagen. Oft kam ein Familienvater vorbei, vielleicht bei Gelegenheit eines harmlosen Bummels, einer Bierreise oder von dem Bahnhof her, wo er mit dem Nachtzug angelangt war, und las die hinter Glas und Rahmen am Hauseingang des vornehmen stillen Grundstücks befestigte, gut beleuchtete, saubere Speisekarte mit den nur zu preiswerten Abendgedecken. Trat ein Gast ein und hatte er in einem gemütlichen kleinen Vorraum, dem »Speisezimmer«, in welches der diskrete Trubel des gutgehenden Spielklubs nur undeutlich hineindrang, seine Mahlzeit, z.B. einen delikaten Gänsebraten mit Rotkohl für 5 Mark bis, im Herbst 1923, 500 Milliarden Papiermark und dann wieder für eine schlichte RM genossen, so blieb er, sich eine Zigarre anzündend, noch einen Augenblick hier, schon aus Höflichkeit, oder sei es nur, um dem auf jeden Fall aufregenden Spiel zuzusehen. Fast jedes Kind, das etwas Geld bei sich hatte, begann dann »spaßeshalber« einen kleinen Betrag von einigen Mark bis zu ein paar Milliarden zu setzen, nachdem es »der Form wegen« irgendeinen Namen in das aufliegende Gästebuch eingetragen hatte. In der Inflationszeit waren die Männer oft froh, wenn sie die an Masse immer riesiger werdenden Geldbeträge noch am gleichen Tage umsetzen und womöglich in wertbeständiger Form fest anlegen konnten, da am nächsten Morgen der Kaufwert mit steigendem Dollar bereits halbiert sein konnte. Man hatte die Rocktaschen gebauscht voll von »Zeugs, das dem alten Geld ähnlich sah«, und spielte eben guten Gewissens »spaßeshalber«, »machte den Quatsch mal mit«.
Und Devisen »schwarz« zu handeln war zwar verboten, aber es hieß, daß Manfred von G. auch solchen Geschäften mit Edelgeld, bar auf die Hand, nicht immer abgeneigt sei und daß er immer könne und stark sei, wenn er wolle, und daß er sich, wenigstens zeitweise, im Besitz von vielen Dollars, Schweizerfranken und Tschechenkronen befände. Man fragte nicht lange, woher sie kamen. Sollte doch auch nicht alle Welt wissen, wohin sie gingen. Die Zeit war aufregend, man berauschte sich an allem, auch an astronomischen Zahlen.
Der grauhaarige, leicht parfümierte Spielbankbesitzer drängte seine »Kinder« nie zum Spielen, er forderte nie zum Bleiben auf. Mit einer blütenweißen Schürze angetan, die schwelende Zigarette im Mundwinkel, kümmerte er sich oft den ganzen Abend nur um die Küche. Weibliche Gäste, und waren sie noch so schön und liebenswürdig, sah er abends und nachts an seinen Spieltischen nicht sehr gern. Wenn man ihm glaubte, schien er außerhalb seines blühenden Unternehmens wenig persönlichen Verkehr zu haben, weder Freundschaft, noch Feindschaft, noch Liebe.
Aber dies alles traf nicht zu; es war ebensowenig echt wie sein ewiges Stottern und seine erholungsbedürftigen Finanzen, seine drängenden Schulden. (Von seinen echten Leiden, seinem alten Magenleiden, seinem Feinde Rudolf, seiner Freundin Vera sprach er fast nie.) Wenn er aber einen zweifelnden Blick bemerkte, verstärkte er nur die Höflichkeit und das Stottern. Oft wurde dieses dann so stark, daß es eine Verständigung zwischen ihm und den anderen unmöglich machte und daß er sich auf das, wie sehr kluge! Schweigen beschränken konnte.
Wie wehe tat es ihm, daß das bittere Leben ihm nicht erlaubte, daß er mit allen guten Kindern in Frieden leben konnte! Weil er so zart und gebrechlich aussah, glaubte man ihm seine Friedensliebe, seine Aufrichtigkeit, sein neutrales Wesen, und so glaubte auch die Polizei ihm und seinem »Kameraden« Steffie ohne den geringsten Zweifel und deckte ihn seit Jahren stillschweigend, wo es not tat. Natürlich hatte er Feinde, aber doch nur wegen seiner Korrektheit? Er zahlte Steuern und ließ wohltätige Kollekten nie ohne milde Gaben vorbeigehen.
Wie hätte er sich an fremdem Eigentum, an fremdem Schmuck bereichern sollen? Er hatte ja genug. Wie hätte er, der Zartbesaitete, sich an einem fremden Menschenleben vergreifen sollen? Oder gar »Kamerad« Steffie, der immer seinen Dienst und mehr als das geleistet hatte? Es waren Männer von Ehre, und sie hatten es der Behörde oft und oft bewiesen.
Er, Manfred, arbeitete. Rudolf ging müßig. Er, Manfred, zog sich schüchtern im Handgemenge zurück und wagte nicht einmal alle die erlaubten Griffe im Jiu-Jitsu, das er angeblich noch besser beherrschte als der zügellose Rudolf, der auch vor den unerlaubten Griffen nicht zurückschreckte.
Aus welchen Gründen hätte der feine Chiffon einen Mann wie Rudolf verleumden sollen? Ihm böse sein? Nein. Ihm die melkende Kuh, Rosenfinger, nicht gönnen, von der der große, gesunde, baumstarke Kerl Rudolf gutes Gold melkte, nein! Rudolf sollte nur ruhig mit seinem alten, schwachsinnigen, von Todesangst besessenen Rosenfinger glücklich sein und den alten Narren vor eingebildeten Feinden mit den 606 Griffen des Jiu-Jitsu und mit seinem kleinen schwarzen Revolverchen schützen!
Es hieß, daß irgendein unbekanntes Wesen den »ahnungslosen« Rudolf auf die Idee des Kokaingenusses gebracht hätte. Aber niemals hatte Rudolf selbst diesen Verdacht gegen Manfred ausgesprochen. Und Vera konnte soviel betteln, wie sie wollte, viel echtes Kokain bekam sie nicht mehr. Gewiß, er, Manfred, kannte gute Quellen, und zwar besonders preiswerte, für diese leckeren Sachen wie Heroin, Morphium, Kokain. Aber die armen Narren, die Giftnarren, diese Unterkinder, die nicht rechts von links unterscheiden konnten, warum sollten sie anderswo die Sachen dreimal so teuer bezahlen, als er sie ihnen an Hand geben konnte? Hätte nicht er »geliefert«, andere hätten es getan. Brot gab es in den Nachkriegsjahren nicht immer und Butter ebensowenig und Arbeit wurde knapp, aber Kokain gab es immer. Bekam er, Manfred, ordentliches Geld, gab er anständiges Kokain. Er war reell. Klagen kamen nicht. »Kinder brauchen eben Rausch, Zucker ist Zucker!«
Wertbeständiges Geld, Edelvaluta, wurde im Herbst 1923 nach dem Erscheinen der sagenhaften Rentenmark nicht mehr in allen Cafés, Herrenklubs und Sportvereinen, an allen Straßenecken schwarz gehandelt. Man schwamm nicht mehr in den Milliarden, Pfunde und Tschechenkronen gab es nur in den Banken, niemand wollte sie mehr. Und die Rentenmark mit den winzigen Ziffern war leider spärlich. Nicht alle Spieler hatten genug von den graublauen, komisch gezeichneten Scheinen. Wohl aber hatten sie aus den Inflationsjahren gehamsterte oder durch alle diese Jammerjahre hindurch sorgfältig aufbewahrte Sachwerte, Uhren, auch Glashütter noch mit den niedrigen Fabrikationszahlen, Ketten, alte schwere 20-Mark-Stücke, Schlipsnadeln mit schönen Steinen oder großen Perlen, auch lose Steine und Perlen, ungemünztes Edelmetall, Goldgebisse, Klumpen Silber, Stänglein Platin, dann auch Silberkästen mit vollständigem Inhalt. Dann aber auch weniger wertvolle Dinge, die bloß den »Kindern« so wertvoll und unersetzlich erschienen, Tortenheber aus Silber, vergoldet, aber keineswegs massiv, wie man immer angenommen hatte, Kaviarbestecke aus Perlmutt, Kinderohrringe und Patengeschenke.
Solche Gegenstände wurden ihm, da man ihn als reell, human und kapitalkräftig kannte, angeboten, damit er sie gegen Spielchips eintausche. Aber was sollte er mit dem Zeug? Er hatte kein Kind und wollte auch keines, wozu dann Kinderohrringe und Patengeschenke? Er hatte an seinen großen Kindern genug.
Er litt am Magen, er aß keinen Kaviar. Er brauchte keine neue Uhr, er trug noch die dicke, silberne, die er von seinem Mütterchen zur Einsegnung erhalten hatte. Aber wenn sich ein Kind es in den Kopf gesetzt hatte zu spielen, warum sollte man ihm nicht behilflich sein? Man konnte die Sachen in aller Form ihm als Pfand geben, schönes Geld in Empfang nehmen und das Bargeld ruhig nach Hause tragen, statt ein Spielchen zu riskieren. Sein Nutzen sei auf jeden Fall nur gering. Nur mit Überwindung, so meinte er mit gezwungenem Lächeln auf den dünnen Lippen, nähme er sich der Sachen an. Er riskiere, flüsterte er neben seiner erloschenen Zigarette hervor, daß er auf den Dingern sitzenbleibe, die vielleicht im Einkauf viel gekostet hätten. Aber beim Verkauf hätte er schon oft mit Verlust abstoßen müssen. Das verstünden die Kinderlein nicht. Oft war es der letzte Wertgegenstand, den der Versorger einer verarmten Familie hier »angebracht« hatte, ihn sorgfältig aus den Seidenpapierhüllen lösend und die Stricke aufwickelnd, mit denen das Paket verschnürt gewesen war. Die Pfandscheine wurden dann in einem der zwei Hinterzimmer angesichts einer großen, von einer verkrachten Inflationsbank gekauften Eisenkasse modernster Art mit Buchstabenschloß ausgestellt, und die Eintragungen in ein großes, mit Messingrücken versehenes Pfandbuch in Folio waren unbedingt korrekt. Wie hätte man denn auch sonst die Sachen nach Jahr und Tag wiederfinden sollen? Auch hier kamen keine Unregelmäßigkeiten vor.
Und doch zweifelte man, ob der Spielbankbesitzer eine gültige Konzession einer Pfandleihe besäße. Die Polizei hatte als Lokalbehörde nicht das Recht, eine solche Erlaubnis zu erteilen. Offiziell war nichts davon bekannt, im Telephonbuche stand nichts davon (ebensowenig von dem Klub »Hera«), und kein Schild an der Tür deutete darauf hin. Niemals wurde eine amtliche Kontrolle oder Bücherrevision vorgenommen.
Hatte der Schuldner die betreffende Summe plus zehn Prozent Zinsen pro Monat, exklusive Spesen und Eintragsgebühr und Stempelsteuer, – (und diese Zinsen, Spesen etc. für mindestens drei Monate wurden stets bei der ersten Zahlung einbehalten, das heißt, von der oft jämmerlich niedrigen Schätzungssumme abgezogen, auch dann, wenn man den Gegenstand noch am gleichen Tage wieder einlösen wollte) – mit aller Mühe aufgebracht, dann war es ein beliebter Trick des Besitzers vom »Hera«, sein Geld vorerst nicht in Empfang zu nehmen. Er entschuldigte sich mit unsauberen Händen, oder er konnte im Augenblick nicht aus seiner Küche fortbleiben, wo er leckere Süßspeisen zubereitete oder seine berühmten Gänsekücken nach Hamburger Art briet. Er bat den Spieler, einen Augenblick zu warten. Welcher Spieler kann aber warten? Der Spielklubbesitzer ersuchte den Mann um ein Sekündchen Geduld und lächelte mit geschlossenen Lippen.
Aber schon sah er, an der Schwelle zur Küche, während seine Blicke nur auf den Herd gerichtet zu sein schienen, wo seine Herrlichkeiten in feuerfesten Schamottetöpfen gemächlich brodelten, wie die Augen des durch allen Schaden noch nicht klug gewordenen Spielers aufleuchteten. Chiffon zündete sich eine neue Zigarette an. Er konnte ihn allein lassen.
Wenn er dann einige Zeit später, auf den Armen eine wunderbar duftende Platte tragend, in die vorderen Räume zurückkam und dem guten Kind diskret auf die Schulter klopfte, hatte der Mann das mitgebrachte Geld entweder schon wieder verloren, oder aber er antwortete einfach nicht, er dachte nicht an das Zurückzahlen seiner Schuld, denn jetzt war er gerade in einer »positiven Strähne« drin, es war ihm, als schließe er ein gutes, für ihn wirklich vorteilhaftes Geschäft ab, und er glaubte den Anfangsgewinn in dem jetzigen, neuen, zwar äußerlich unscheinbaren, aber um so wertvolleren Rentenmarkgeld noch in der gleichen Nacht verzehnfachen zu können.
In 7 von 10 Fällen verließ das Kind den Spielsaal nicht eher, als bis es durch die Angestellten des Besitzers, durch diese routinierten, mit allen Finessen des Spiels vertrauten Bankhalter unter der Maske anständiger Angestellter, um seinen letzten Pfennig gebracht worden war. Hatte es aber gewonnen, was sich nicht immer vermeiden ließ und was sogar in einzelnen Fällen beabsichtigt war, dann ließen es die Angestellten, in den guten Zeiten prozentual am Reingewinn beteiligt, nicht daran fehlen, den Spieler wegen seines Blicks, wegen seiner Chance, wegen seiner angeblichen Geschicklichkeit, wegen seines untrüglichen »Systems« zu bewundern und ihm in seiner dummen Eitelkeit (»Mensch, dreihundert Rentenmark in einer halben Stunde verdient! Ungelogen! Morgen mehr!« sagte einmal einer) zu schmeicheln, so daß sie sicher sein konnten, er würde dieses untrügliche System am nächsten oder spätestens am dritten Tage wieder in der »Hera« versuchen und immer wieder auf sein Glück am grünen Tische bauen, bis das Endresultat, so oder so, erreicht war. Wenn die Kinder im Gewinnen waren, wollten sie Bargeld sehen. Ihre Wertsachen interessierten sie dann nicht mehr.
War der Mann aber endgültig »ausgesackelt« oder »abgehäutet« und verlegte er sich aufs Bitten, flehte er um einen neuen Einlösetermin für die Familienwertgegenstände, dann wandte sich ihm der Besitzer mit der freundlichsten Miene zu, er unterhielt sich flüsternd mit dem armen Opfer, hielt dem Kind die Speisekarte vor die Augen, als ob der Unglücksmensch jetzt Appetit auf Hühnchen und Koteletts hätte, er nahm ihn vertraulich beiseite, oft in die leerstehende Telephonzelle. Er schob ihn ab, um die anderen Spieler nicht zu stören und den Essenden im Speisesaal den Appetit nicht zu verderben. Chiffon war reell, war gut. Er hatte Geduld. Er schien dem Bittenden nur allzugern den Wunsch erfüllen zu wollen. Er nickte dem aufgeregten Menschen mit seinem grauen, wohlduftenden Pomadekopf zu – nur die widerspenstige Zunge wollte nicht ja sagen, es war, als müßte sie sich ihm im Munde verwickeln. Die Zigarette zuckte zwischen den Lippen. Tränen stiegen dem nach Chypre duftenden, dürren Teufel in die wässerigen bläulichen Augen, er stotterte an und kam nicht vom Fleck, sein Gesicht wurde weinrot bis in die Winkel der niedrigen Stirn, es schien, als müsse er, am Lachen? am Weinen? ersticken. Stotternd und den silbergrau glänzenden Kopf schüttelnd über dieses Mißgeschick, schob er das große, liebe Kind wieder sachte aus der heißen, dumpfen Zelle heraus, zündete eine frische Zigarette an der alten an und wandte sich von ihm ab. Er trippelte in die Küche und winkte dem armen Teufel mit seiner bräunlichen Hand scheinbar verzweifelt seinen Abschiedsgruß zu, als sei er es, der das Geld und das Pfand verloren hätte. Der Spieler stand dann oft tränenden Auges da, faßte sich aber meist wieder und hielt sich an das letzte billige und doch so teure Abendbrot, das ihm der Spielbankbesitzer Manfred von G. zubereitet hatte, der ihm nun von weitem zulächelte, verständnisinnig – und mit einer gewissen Gier, denn sich selbst gönnte er nichts Gutes zum Essen. Er vertrug es nicht.
Nach dem Verfallstage sah niemals ein Schuldner sein Pfand wieder. War es etwas besonders Hübsches oder Wertvolles, so kam es oft in die Hände einer reizenden rotblonden, jungen Dame (der besten Charlestontänzerin der Stadt) namens Vera, mit der auch Rudolf D. innig befreundet war und an welcher der Spielbankbesitzer mit einer geradezu hündischen Liebe hing, ohne daß ihm diese Liebe, so schien es, ganz zurückgegeben wurde.
Aber vielleicht schien es nur so. Andere wollten wissen, daß dieses junge schlanke Geschöpf keinem Mann außer dem früh gealterten, unschönen, stotternden Chiffon angehört habe. Wie war das zu vereinigen? Er selbst schwieg auf alle unzarten Anspielungen. Diese Frau mit Geld, Kleidern, Pelzen, Seidenwäsche und Schmuck zu überschütten schien das einzige Motiv des Spielbankbesitzers Manfred von G. für seine fast krankhafte Gier nach Geld zu sein.
Aber wenn man die beiden im Spielsaal I oder II der »Hera« beieinander sah, was selten der Fall war, schien es gerade umgekehrt: Vera, bleich und aufgelöst, sah Manfred mit ihren grünen Augen groß an und bettelte, dann lachte sie und schlug nach ihm mit ihren Handschuhen, dann besann sie sich wieder und maulte in »Babysprache«, biß sich in die schwellenden Lippen ihres kirschrot geschminkten, herzförmigen Mundes. Zum Schluß verstummte sie plötzlich errötend und zitternd, sie versteckte das Köpfchen in dem hochgestellten Kragen ihres kostbaren Pelzes oder in ihrer schwarzweißen Federboa, besonders dann, wenn Bekannte auftauchten, während der grauhaarige, dürre, hämisch lächelnde Manfred achselzuckend, stotternd und eindringlich flüsternd neben ihr stand, ihre bezaubernd weichen, nackten, kleinen, reich beringten Händchen abwehrend, die aus den weiten, kimonoartig geschnittenen Ärmeln des silbergrauen Pelzes hervorguckten. Bei solchen Gelegenheiten sah der Spielbankbesitzer besonders elend aus, seine Hautfarbe war bräunlich-fahl wie ausgekochtes Rindfleisch. – Vera kam anfangs abends nicht gerne allein in die Spielsäle, oft hatte sie noch eine ebenfalls aufgeregt bettelnde Freundin bei sich. Wie oft hatte man beobachtet, wie diese Frauen ihn flehentlich angingen! Was wollten sie von ihm? Wenn man Manfreds betrübtem Mienenspiel glaubte, war er es, den sie aussaugten.
Ab und zu war in früherer Zeit, um 1919 und 1920 herum, auch der junge Rudolf D. (der des Raubmordes Verdächtigte) mit Vera bei dem Spielbankbesitzer gewesen, bevor er auf lange Monate verschwand, während derer er politische Kämpfe mitgemacht haben sollte. Er hatte damals oft hinter verschlossenen Türen im Hinterzimmer lange mit Manfred verhandelt und war dann mit dem Mädchen entweder heiteren oder finsteren Gesichtes fortgegangen. Hatte er Geld verlangt? Das war nicht wahrscheinlich. Hatte er Wertgegenstände als Pfänder zu dem Spielbankbesitzer gebracht? Er spielte hier fast nie.
Oft sah man damals die beiden, Rudolf und Vera, eng aneinandergepreßt, aber mit voneinander abgewandtem, erloschenem Blick auf der abgeschabten roten Plüschbank an der Wand des ersten Spielsaales sitzen. Rudolf D.s große Hand trug ein Armband, die kleinen Händchen Veras deren eine ganze Menge. Ab und zu klirrte das Metall, während sie stumm und fest einander an der Hand hielten und auf Manfred von G. warteten. Die bläulichen Augenlider schlugen in den schönen, aber etwas leeren Gesichtern müde über den tiefliegenden Augen. Die zwei jungen Menschen sahen gealtert aus. Gelangweilt gähnend und ihre schönen mandelförmigen Zähne entblößend, dann wieder seufzend, von innerer Unruhe getrieben und sich dennoch bezwingend, folgten sie mit den Blicken den Wechselfällen des Spieles, ohne sich daran zu beteiligen.
Sie schmiegte sich an ihn, hüllte seine Hände in das geblümte Seidenfutter ihres Mantels ein. Er schrak bei der Berührung auf, rückte von ihr ab, kam zu ihr zurück, als wollte er ihr dankbar sein. Aber er blickte sie nicht an. Ziellos drehte er seine blaugrauen, blitzenden Augen im Kreise.
Endlich wurden sie von dem Besitzer in das Hinterzimmer gerufen. Freudig sprangen sie auf, völlig verwandelt, hemmungslos. Für Manfred schien es ein teuflisches Vergnügen zu sein, sie jedesmal wieder möglichst lange auf die Folter zu spannen. Womit lockte er sie? Was hatte er ihnen zu bieten? Jungen Menschen, fast noch Kindern, wirklichen Kindern?