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Im Falle des jungen Rudolf D. gelang dies aber alles nicht. Rudolf D. war kurz vor oder nach dem Tod seines alten Freundes spurlos verschwunden. Der Bruder versuchte alles, um ihn zu finden, vergeblich. Aber plötzlich war er eines Nachts im Frühjahr 1925 sehr spät noch im Klub erschienen. Manfred, etwas blasser als sonst, verstand es nicht, und er verstand doch so vieles, fast alles?! War Rudolf Veras wegen gekommen?
Manfred telephonierte. Seine kleinen Augen glänzten. Er und Rudolf, diese zwei alten Bekannten, schienen einander nicht mehr zu kennen. Die Hand hatten sie einander nicht gegeben, sie sahen beide aneinander vorbei. Plötzlich aber gab Rudolf seinem alten Feind einen Wink. Sie tuschelten in der Ecke zwischen der Telephonzelle und dem Ausgang in den Korridor. Manfred ging und kam wieder. Und plötzlich war der große, eben noch so fahle und schlaffe Rudolf wie verwandelt. Er trat von Chiffon weg und unterhielt sich mit seinen Kameraden, aber nur ein paar Worte fielen. Vielleicht bat er sie um Geduld. Still vor sich hinlächelnd begab sich Chiffon wieder in die Telephonzelle. Seine Zigarette füllte die kleine Zelle mit Rauch. Er hustete, er lachte. Er hielt die filzgepolsterte Tür von innen zu. Er sah durch das Fensterchen hinaus, den Hörer beim Sprechen und Lachen und Stottern fest ans Ohr haltend. Vera war noch immer nicht zurück. Rudolf kam an ihm vorbei, unruhig, aber bemüht, sich zu beherrschen. Auch er stieg, nachdem Chiffon sein Gespräch beendet hatte, in die Telephonzelle, er hob den Hörer ab, aber Chiffon sah schärfer, er sah, daß Rudolf mit der einen Hand die Gabel wieder niedergedrückt hatte, so daß keine Verbindung entstehen konnte und daß er aus der anderen Hand die bewußte »leckere Sache« aufschnupfte. Die Nacht verging.
Chiffon ging mit freundlichem Lächeln zwischen seinen Kindern und seiner Küche umher, er rechnete darauf, daß die Polizei seine gute Botschaft richtig verstanden hatte. Und doch war er, Rudolf, auf dem seit Jahr und Tag der Verdacht in der Mordsache Zollikofer lastete, keineswegs nüchtern, keineswegs eine »Wasserratte«, wie es der Angeber, Chiffon, seiner Behörde gemeldet hatte, er war auch keineswegs allein gekommen, nichts weniger als »Hagestolz«, und er würde auch nicht allein fortgehen, sondern er war von zwei baumstarken Enakssöhnen begleitet, die er sich hierher mitgebracht hatte und die bis jetzt bloß dumm herumgeglotzt, viel gegessen und noch mehr angesichts der billigen »Propagandapreise« getrunken hatten. Da sie nicht spielten und sich manierlich aufführten, so konnte ihnen Chiffon nicht den Aufenthalt verbieten, obwohl er seinen alten Rudolf lieber allein gesehen hätte. Endlich hatte sich Rudolf an den Spieltisch gesetzt, aber an jene Seite, die nach dem Ausgang Ausblick hatte, so daß er Vera beim Eintritt sehen mußte. Sie kam aber nicht. Sie verlebte, wie immer von Zeit zu Zeit, einen ganzen ursoliden Abend bei einer verheirateten älteren Kusine.
Inzwischen hatte Rudolf eine Kleinigkeit im Ecarté gewonnen und war dann aufgestanden und hatte noch einmal die Telephonzelle aufgesucht, dann noch einmal an den Tisch zurück, aber schon ohne das Spiel richtig zu verstehen, so daß er jetzt seinen Nachbarn auffiel. Aber Manfred begütigte alle. »Vertragt euch doch, Kinder!« Auch hatte Rudolf sich jetzt mit dem Rücken zur Tür gesetzt. Er schwitzte stark, sein Auge blitzte, er streichelte sich selbst seine Hände, rieb die goldenen Manschettenknöpfe an dem dicken Armbändchen, erhob sich unvermittelt, ging mit seinen langen, sonderbar schnellenden Schritten auf die Toilette und kam nach einer Weile scheinbar ganz ruhig zurück. Das Gesicht war etwas gerötet, nur die Nase schneeweiß, er zog die Luft tief ein, hielt sich an die Wand gelehnt, starrte vor sich hin. Manfred beobachtete ihn scharf, aber mit der größten Seelenruhe. Auch die zwei Kameraden sahen ihn von der Seite an, wagten ihm aber nichts zu sagen. Sie hielten sich beieinander, sahen jetzt den letzten, aber eifrigsten Spielern über die Schultern in die Karten, flüsterten sich ihre Ansichten über den Verlauf des Spieles zu, was die Spieler mit wütendem Zischen aufnahmen. Beschämt zogen sie sich dann zurück, verlangten noch eine Lage Bier mit altem Korn.
Chiffon hatte, so beschäftigt er schien, die Augen nicht von Rudolf gelassen. Er achtete auch sehr darauf, daß keiner der Spieler, die an dem großen, aufgeregt atmenden Menschen vorbeikamen, ihn aus Versehen anstieß. Denn in seinem Rauschzustand war Rudolf, der immer ein guter Schütze war, der aber in nüchternem Zustande lieber sich mit seinen alten guten Jiu-Jitsu-Griffen aus einer Verlegenheit half, nicht schwer zu reizen. Er »kollerte« dann beim ersten Anlaß, das wußte sein alter Bekannter Manfred, aber er hatte vergessen, es bei seinen verschiedenen Unterhaltungen am Telephon der Polizei mitzuteilen.
Endlich kam Vera. Aber Rudolf empfing sie nur mit bösen Blicken. Seine Freunde drängten. Das Lokal war schon menschenleer. Er konnte oder wollte nicht bleiben. Es trieb ihn auf einmal fort.
Sie hielt ihn fest, sie wechselten einige Worte, die ihn sehr zu treffen schienen. Offenbar ging aus ihnen hervor, daß sie jetzt mit Manfred in einer Art Ehe lebte. In seinem jetzt von plötzlichen Zuckungen heimgesuchten Gesicht wechselte der Ausdruck jede Sekunde. Er blickte voll Unruhe hinter sich. Er wollte noch einmal in die Zelle, aber Chiffon hatte sie schon abgeschlossen. Was tatsächlich in Rudolf vorging, war nicht zu erraten. Er nickte mit einemmal, man wußte nicht, nickte er Vera zu oder seinen Freunden. Seine Hand zuckte auch jetzt und das Kettchen klirrte. Vergebens wollte ihn Vera, trostlos über ihr Zuspätkommen, halten. – Ein hochgewachsener Mensch, blond, ein schönes, wenn auch etwas stumpf und leer gewordenes Gesicht. Breitschultrig gewachsen, mit prachtvoll gewölbtem Brustkasten, aber mit verhältnismäßig kleinem Kopf, den er wie ein auf der Flucht begriffenes Raubtier ruckartig nach rechts und links drehte, ohne das aus den Augen zu lassen, was vor ihm war. Aber war ihm das klar, was er sah? Verstand er es?
Außerordentlich elegant gekleidet, mit fieberhaft glänzenden Augen, so schoß er unvermittelt jetzt endlich zur Haustür hinaus, mit einemmal begann er wie in höchster Aufregung ebenso leise wie ruhelos zu sprechen und dabei nervös zu gestikulieren. Mit den sich spreizenden und wieder zusammenziehenden Fingern um sich greifend, süffisant lächelnd, ohne Hut und Überrock, die er einem seiner Trabanten zum Tragen gegeben hatte, zog es ihn mit langen, schnellenden Schritten durch die schlecht beleuchtete Straße (die Kommune mußte sparen) dahin, zu einem verlassenen Zeitungskiosk, durch dessen Glasscheiben man die Titelseiten der farbigen Magazine, halbnackte Girls und die politischen, aufregenden Schlagzeilen der Zeitungen vom letzten Abend, im Laternenlicht hindurchschimmern sah.
In seiner Nähe, einmal einen Schritt vor, einmal einen Schritt zurück, zappelte sich Vera ab, die Manfred vergeblich bei sich hatte zurückhalten wollen. Vera und Rudolf sprachen gleichzeitig und fast ununterbrochen miteinander, aber es ist später nie ganz genau bekanntgeworden, was der Inhalt des vielleicht sehr wichtigen, aber hastig geführten Gespräches war. Bloß ein Wort vom »Bruder Doktor« wollte Manfred aufgefangen haben, aber der größte Teil des Gesprächs wurde sehr leise geführt. Rudolf schien aus seinen Gefühlen kein Hehl zu machen. Vorwürfe, Liebesworte und unverständliche Wortwitze lösten einander ab. – An der von Manfred mit der Kriminalpolizei vereinbarten Stelle, zehn Schritte vor dem Kiosk, kamen der Gesellschaft die Polizeibeamten entgegen.
Sie wollten den Verdächtigten nicht auf der Straße verhaften, schon deshalb nicht, weil man Manfred, den Angeber, dessen Hilfe man später immer gut brauchen konnte, nicht bloßstellen durfte. Man dachte vielmehr daran, den jungen Riesen anzurempeln, Gewalttätigkeiten zu provozieren und ihn vorerst wegen Widerstandes gegen die Polizei zur Wache zu bringen. Erst dort sollte die Verhaftung wegen Verdacht auf Raubmord an dem Makler erfolgen. Auch der gute Kamerad Steffie war da, hielt sich aber im Hintergrunde. Trotzdem mußte ihn Rudolf erkannt haben, denn er fixierte ihn, zögerte, dann trieb es ihn vorwärts. Aber kaum hatte der Kommissar, ein dicker, fester Mann mit Schmissen auf der linken Backe, ein früherer Student, der in der Not der Inflation sein Studium hatte aufgeben müssen, kaum hatte dieser Mensch unter einer Art von drohendem Lächeln, wie es die Soldaten im Kriege oft beim Stürmen gehabt hatten, versucht, Rudolf D. mit seinem Ellenbogen anzurempeln, als dieser, ohne daß der geringste Wortwechsel vorausgegangen war, seinen bleichen Kopf mit der hellblonden Mähne nach vorne und unten warf, die Schultern hochzog, den Rücken krümmte, geduckt mit der rechten Hand in die linke Brusttasche fuhr (wie um im ersten Schrecken eine Legitimation zu suchen, schien es in diesem Augenblick dem unerfahrenen Kommissar), einen etwas über daumenlangen Revolver herausriß und mit dieser winzigen Waffe, den Arm hebend und die Faust mit dem Revolver in einer werfenden Bewegung niederschmeißend und dann wieder schnell hochhebend, im Verlauf weniger Sekunden eine ganze Reihe von Schüssen abgab, wodurch er einen von den Kripos tödlich, einen anderen lebensgefährlich verwundete.
Der tödlich Getroffene war ein junger, eben zum Probedienst eingestellter Mensch, der sich heute zum erstenmal auf einer Nachtstreife befand. Er schnellte auf und brach dann, sich in einem fürchterlichen Krampf um seine Achse drehend und dann unter Röcheln in einer Lache von Blut niedersinkend, mit dem Gesicht nach unten in dieser Lache zusammen. Seine Kopfbedeckung kollerte weiter und bewegte sich schaukelnd noch einige Sekunden auf dem im Morgendämmern silbern schimmernden Straßenstaub hin und her, während er selbst schon unbeweglich ausgestreckt dalag. Steffie war hinter einem der dicken Bäume verschwunden und rührte sich nicht. In den Zweigen der Bäume, auf dem kleinen kreisrunden Platze beim Kiosk regten sich die Vögel, von den Schüssen in der stillen Straße erwacht, und in ihr schüchternes, zirpendes Rufen mischten sich die schrillen langen Klageschreie des schwer verwundeten Polizisten, der den Schuß etwa eine halbe Handbreit über der rechten Kniescheibe bekommen hatte.
Um Rudolf hatten sich sofort seine Freunde und seine geliebte Vera geschart, sei es, um ihn zu schützen oder um ihn von weiteren Schüssen abzuhalten. Aber er hatte sich jetzt wieder hoch aufgerichtet, den Kopf mit der Mähne wie sinnlos geschüttelt, hatte die Waffe sinken lassen, und jetzt fuhr er sich mit der großen, weißen, mit dem dicken Goldarmband geschmückten Hand, in der sich der winzige schwarzglänzende Revolver noch befand, an den Kopf, als wolle er ihn festhalten. »Weg da, ihr«, murmelte er, »oder ich schieße!« Auf seinen regelmäßigen schönen Zügen zeigte sich ein verlorenes, urblödes, gottverlassenes Lächeln, er blickte sich um, gähnte, wie aus tiefem Schlaf erwacht, schnüffelte, runzelte die Stirn, befeuchtete die Lippen.
Plötzlich kam aus seinem Munde der Name seines Bruders. War er nicht bei klarem Bewußtsein? Wo war jetzt sein Konrad? Wo war er selbst?
Er hielt die vor Aufregung an allen Gliedern wie Espenlaub zitternde Vera mit Mühe von sich ab, sie klammerte sich an seinen linken Arm, und, ohne daß er eine sichtbare Bewegung machte, bloß durch eine geheimnisvolle Anspannung seiner eisernen Muskulatur, taumelte sie mit einem Male drei Schritte fort von ihm .. Was ging in den beiden vor? Eben noch hatte er tiefe Liebe und Sehnsucht empfunden, hatte seinen Kopf in ihren Schoß wie in den seiner Mutter betten wollen, er hatte sich nur ihretwegen in die Höhle des Löwen gewagt und hatte lange dort gewartet, von seinen ungeduldigen Kameraden umgeben. Als sie aber gekommen war, war er gegangen. Als sie ihn an der Schwelle noch hatte zurückhalten wollen, war er davongeeilt, aber von seinem Feind hatte er angenommen, was er nie hätte nehmen dürfen, am wenigsten jetzt, in der Gefahr. Vielleicht hätte sie ihn noch deutlicher warnen wollen, sie kannte ja Chiffon besser als er, und sie fürchtete ihren Chiffon oft sehr. Warum hatte er sie nicht angehört, warum hatte es ihn fortgetrieben? Man begriff ihn nicht – und doch handelte er, er stand leibhaftig da mit seiner schönen Gestalt und seinem gelockten Haar und dem Armbändchen, er atmete still und regelmäßig, die Knöpfchen seines weichen weißen Oberhemdes hoben und senkten sich unter seinen Atemzügen, und er tat, als könne er sich hier ausruhen, hier in den kostbar gewordenen Schlaf sogar im Stehen versinken, als sei er hier sicher wie in Abrahams Schoß. Steffie kommandierte: »Hände hoch!« Er, Rudolf, kannte doch diese Kommandostimme seines ehemaligen »Sportlehrers«, er blickte ängstlich hinter sich, während Steffie doch ihm gegenüber auf dem linken Knie, halb durch den Kiosk gedeckt, dahockte – und er wich doch nicht, er hob die Hände nicht.
Bloß sein Gesicht rötete sich langsam. Er zwinkerte angestrengt mit seinen schönen, metallisch glänzenden Augen. Vera wußte nicht, was tun, jetzt warf sie ihm in ihrer Verzweiflung etwas ins Gesicht, ihren Glacéhandschuh, aber sie traf ihn nicht, sondern der Handschuh sank zu seinen Füßen hin, ein kleines, weiches, matt glänzendes, nach Chypre duftendes Gebilde, die Fingerchen ausgestreckt.
Rudolf sah es an, wie es zu seinen Füßen lag, dann wanderte sein Blick zu Vera, dann auf seine Kameraden, die sich im Hintergrunde hielten und, dann über die Leiche hinweg auf Steffie, auf den jammernden Polizisten, den Kiosk, die Straßen, die auf den kleinen Platz einmündeten ...
Mit einem einzigen Blick erfaßte er, wo und wie er am leichtesten flüchten könne. Er sandte nur einen kurzen Blick auf seine Kameraden, »dicke Luft, los, Kinder!« flüsterte er ihnen zu und schon rannte er, in der Mitte seiner Kameraden, instinktiv einen Weg einschlagend, bei dem die arme Vera zwischen dem flüchtenden Rudolf und die Polizisten zu stehen kam, unschlüssig, ob sie dem immer lauter um Hilfe rufenden, schwerverwundeten Polizisten zu Hilfe eilen oder dem flüchtenden Rudolf folgen sollte.
Je lauter Steffie seine wütenden Rufe, »weg von da, alberne Pute!« erschallen ließ, desto ratloser taumelte sie hin und her, und bevor sie endgültig aus dem Schußfeld gewichen war, bestand schon eine große Distanz zwischen den Flüchtenden und der Polizei. Die Polizei hatte die Deckung hinter dem Kiosk nicht gern aufgeben wollen, Steffie wagte sich nur auf Augenblicke vor und knallte den Fliehenden Schuß auf Schuß nach. Aber wie sollten sie in der halben Dämmerung gut zielen? Endlich, als die Schritte der Fliehenden längst verhallt waren, machten die Polizisten sich zu deren Verfolgung bereit, die Obsorge für den schwer Verwundeten überließen sie Vera. »Kümmern Sie sich um ihn, telephonieren Sie der Rettungsstation, wir kommen gleich wieder. – Mensch, gib doch nicht so an! Hab etwas Murr! Ist ja nur eine Schramme am Knie! Den andern hat es erwischt – ja, da ist nichts mehr zu holen«, sagte Steffie in Eile, nach allen Seiten sich umblickend, »ja, nur los! Fräulein, sehen Sie zu, was solls denn auch sein? Fassen Sie an und bleiben Sie da, in zwei Minuten sind wir zurück.«