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XII.

Manfred wandte sein Gesicht mit dem Aufgebot seines ganzen Mutes um. Rudolf stand, ohne ein Wort, ein verzerrtes, sinnloses Lächeln auf den zitternden blassen Lippen, hinter ihm. Auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißperlen. Wie um sich abzukühlen, lehnte er sich mit seinem breiten Rücken gegen die Eisentür des Kassenschrankes. Er hatte das gleiche kindische, süffisante Lächeln, das sein Gesicht kurz vor jener Schießerei am Kiosk gezeigt hatte. Er war inzwischen etwas gealtert, das schöne, in breiten Wellen fließende Haar, wie immer nach rückwärts geworfen, leuchtete zwar noch in alter Fülle, aber es war schon von dünnen grauen Strähnen, gerade in der Mitte, durchzogen. Chiffon erwartete irgendeine Gewalttätigkeit, er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sein Feind den Revolver gezogen hätte. Und doch! Zum erstenmal in seinem Leben entsann er sich mit Schaudern der Todesszene des alten Rosenfinger. Er hatte nicht geschossen, aber er war dabei gewesen – als Vertrauensperson beider. Aber jetzt kam er nicht zur Überlegung.

Wortlos drückte ihn sein Feind auf die Erde nieder, wobei der Inhalt der unteren Laden des Kassenschrankes, die vielfarbenen Briefchen, die vielen hübsch verschnürten Schächtelchen und zum Schluß auch einige Spielkartenpakete in ihren Glanzpapierpackungen ihm in den Schoß fielen. Und jetzt ließen ihn zwar Rudolfs Hände los, aber der Druck wurde nur stärker, denn Rudolf hatte seinen Feind zwischen seine Knie genommen, und auf diese Weise hielt er die schmächtigen Schultern Manfreds, der in seinem dünnen Lüstersakko zu zittern nicht aufgehört hatte, wie in einem eisernen Schraubstock fest. Jetzt warf er dem aufschauernden und nur mit Mühe einen Schrei unterdrückenden Manfred den Stummel einer Zigarette zwischen den Hemdkragen und die Haut. Wußte er, daß die Zigarette schon erloschen war? Wollte er den wie gelähmt dahockenden, fahlen, grauhaarigen Menschen nur erschrecken? – Nun zündete sich Rudolf mit lässigen Bewegungen eine neue Zigarette an, und, wie ohne es zu beabsichtigen, preßte er die Schultern des mit aller Kraft widerstrebenden Manfred näher an die Kasse heran, so daß dieser mit dem Kopf nicht anders ausweichen konnte als dadurch, daß er ihn nach oben drehte und mit vor Angst aufgerissenen Augen dem sinnlos schweigenden, riesigen Menschen in sein nur zu regelmäßiges, ausdrucksloses, aber von einem dumpfen Willen beseeltes Gesicht blicken mußte. Wäre es nur das gewesen! Aber der magere Hals des Spielbankbesitzers wurde mit jeder Sekunde stärker gegen die scharfe Zwischenleiste gedrückt. Er kannte den Trick aus Steffies alten Jiu-Jitsu-Lektionen – dort war es das »koreanische Krafthalsband« genannt worden –, und er wußte, was dieser Trick an sich hatte. Er drehte und wendete sein dünnes Hälschen, ohne entrinnen zu können, sein Atem ging schnell, noch ging er leicht, aber ein schneidender Schmerz durchfuhr den Gepeinigten plötzlich so gewaltig, daß er das Schweigen und die Reserve brach und mit zusammengepreßten Zähnen ein wütendes und zugleich schauerlich hilfeflehendes Krächzen von sich gab, entgegen der Jiu-Jitsu-Vorschrift, niemals dem Schmerz hörbaren oder sichtbaren Ausdruck zu geben. Mit halb verrenktem Kopf, die Augen nach der Seite verdreht, wo Rudolf D. stand, begann er seinen Bedränger um Mitleid anzuflehen. Er stotterte zuerst, aber plötzlich kam ihm die Sprache in einem langen, die Worte nicht mehr voneinander trennenden Fluß, und bei alledem verließ ihn nicht das Gefühl, er spräche vor einem seiner Sinne nicht Mächtigen, er vergieße seine Tränen oder seinen Angstschweiß vor einem Wesen, das von einem normal fühlenden und denkenden Menschen nur die äußere Gestalt hatte. Der Bedränger machte sich den Spaß, sich mit seinem gewaltigen Rücken an die eiserne Kassenwand anzulehnen und in demselben Maße, als die Kassentüre sich leise schnurrend in ihren wohlgeölten Angeln drehte, sich mit ihr vor- und rückwärts zu schaukeln. Ging es rückwärts, bekam sein Opfer Luft, ging es vorwärts, dann ging es Manfred in dem wahrsten Sinn des Wortes an den Kragen. Die Hände hatte er zwar frei, aber was nützte es, sie zwischen den gefährdeten Hals und das dünne Trennungsbrett zu legen? Er kam nur in die Gefahr, daß das unbarmherzige Spiel des irrsinnigen Rudolf sie ihm zerquetschte. Irrsinnig? Es fiel ihm ein, er könne seinen Feind durch ein paar Kokain- oder Heroinbriefchen ablenken, besänftigen. Er versuchte, mit seinen beiden zitternden Händen soviel wie möglich von ihnen einzusammeln. In der Eile, in seiner Todesangst war er ungeschickt. »Aber gute Ware, reine Ware«, sagte er, so laut er konnte. Es war wirklich das Beste, das es auf Erden gab. Hatte denn Rudolf auf einmal keinen Appetit mehr auf die leckeren Sachen? Je mehr er häufte, je armseliger er bettelte, desto schauerlicher wurde ihm zumute, denn nichts hatte eine Wirkung. Rudolf fuhr fort, im Einklang mit der zentnerschweren Kassentür immer schneller zu schaukeln. Er versetzte das gewaltige massige Stück Eisen in immer wuchtigere Schwingungen, jetzt sprang er mitten im Schwung von der Tür fort, die sich mit sausender Gewalt auf den halb ohnmächtigen, wie im Alptraum sich an die Kehle greifenden Chiffon hinbewegte, um dann einen Bruchteil einer Sekunde vor dem Ziel durch einen klatschenden Schlag von der großen Hand Rudolfs angehalten zu werden.

Mit jedem Schwünge aber sauste die Tür näher an den armen Manfred heran, immer geringer wurde der Zwischenraum, und das Fauchen der heranfegenden Eisenplatte erinnerte Manfred, der, auch jetzt noch den letzten Rest seines Verstandes und seiner Erinnerung behielt, an das fauchende »Schufterle! Schufterle!«, das ihm seine Mutter einmal in Gegenwart seiner Geschwister ins Gesicht geblasen hatte. War er denn nur Schufterle? War er denn nicht auch »Kind?« Jetzt waren es echte Tränen, endlich! Jetzt beugte sich Rudolf beim Fortschieben der Platte, die immer sehr langsam bis an den äußersten Angelpunkt gerückt wurde, was seine, Manfreds Qualen, seine beklemmende Ungeduld bis zum fast Unerträglichen steigerte, zu ihm, zu Manfreds Gesicht hinab. Um sich an der Qual zu weiden? Er selbst hatte die Wonne der Schadenfreude unzählige Male empfunden, bei seinen Opfern, bei Rudolf, bei Rosenfinger, auch bei Kamerad Steffie, »Kleckschen« genannt, bei seinen »Kindern« allen. Sollte er jetzt auch das Opfer einer Schadenfreude sein? Oder hatte ihn Rudolf deshalb auf die Folter gespannt? (Wie gern hätte er sich weggerührt, aber er konnte nicht, er war wie gelähmt, wie bezaubert, behext, wie sonst die Kinder alle.) Vielleicht war alles nur eine Methode, mit der falschen Vera im Verein ausgeklügelt, um von ihm das Wichtigste zu erpressen, nicht Kokainbriefchen, nicht Schmuckstücke, sondern das Geständnis, wie es beim Tode des armen Rosenfinger zugegangen war? Dann bekamen aber die anderen Gewalt über ihn, und er hatte alles verloren, bis auf Vera. Aber Vera hatte es ja selbst gewollt. Alles, was er für sie getan und gelitten hatte, war umsonst gewesen? Er wollte sich überlegen, was er alles an guten Werken für sie geübt hatte, aber die Kassentür sauste, eine Welle dumpfer Luft vor sich hertreibend, wieder einmal mit Riesengewalt auf ihn zu. Diesmal gab er nach. Nein, die Sache mit Rosenfinger verriet er nicht. Aber er gab sich hin, er schloß die Augen, empfand plötzlich einen groben Schmerz in seiner Flanke, rollte irgendwohin und wußte von nichts mehr.


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