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XV.

Rudolf mußte ins Gefängnis. Man hatte ihn. Man ließ ihn nicht mehr. Sein Fahndungsblatt war »unter heutigem«, 17. VI., endgültig erledigt, kam zu den Akten. Gefesselt mußte er auf die Straße hinaus, wo das Auto des Überfallkommandos bei laufendem Motor wartete. Die Scheinwerfer des Wagens brannten treu in der stillen Gartenstraße.

Wenn auch nachts die Gegend wenig belebt war, es hatte sich doch eine ganze schöne Menge – (das höhnische Lächeln verschwand nicht von Manfreds Zügen, und doch war auch etwas Verzweiflung darin) von neugierigen Menschen angesammelt.

Vera hatte alles Mögliche versucht, um das Los ihres Jugendfreundes zu mildern. Schließlich fiel ihr ein, daß man es ihm ersparen könne, mit seinen gefesselten Händen durch die Reihen der Neugierigen hindurch Spießruten zu laufen. Sie sah Schweiß von seinem blassen Gesicht fließen. Draußen war es frisch. Auch vor Erkältung hätte sie ihn gern geschützt. Sie holte daher den Paletot ihres Mannes, einen schönen, langen, bequemen, aus leichtem, fest gewebtem Stoff verfertigten Mantel, den der auf elegante Kleidung bedachte Manfred vor einem Jahr aus London sich hatte zusenden lassen, nachdem er schriftlich seine Maße angegeben hatte. Diesen Mantel holte sie aus dem Kleiderschrank und legte ihn, ohne ein Wort zu sagen, dem stummen, stumpfen, leichenblassen, mit den Händen zuckenden Rudolf um die breiten Schultern.

Es war kein Wunder, daß er sich jetzt in diesem geistig gelähmten Zustand befand. Er hatte, seinem Rauschgift mehr hörig denn je, in den letzten Wochen so gut wie gar nicht geschlafen. Nur in den Minuten vorhin in der Telephonzelle hatte ihn, als er gerade im Begriff gewesen war, seinen Bruder anzurufen, im Stehen ein kurzer, viel zu kurzer Schlummer überfallen, aus dem ihn Manfred geweckt hatte, als er mit der Hand in die dunkle Zelle hineingriff.

Manfred, eben noch seines Sieges triumphierend froh, erblaßte: daß seine Frau sich unterstand, ein ihm gehörendes Kleidungsstück seinem Todfeinde umzuhängen! Dem Menschen, der ihm eben noch nach dem Leben getrachtet hatte! Aber so sehr es ihn wurmte, so groß war auch seine Angst vor seinem Feind, er wagte nicht, sich ihm zu nähern.

Um so größer war sein Entzücken, als Rudolf, der jetzt erst bemerkte, was vorging, von einem Augenblick auf den anderen, eben wie ein unberechenbar dummes, unerziehbares Tier, in hemmungslose Wut geriet, sich aufbäumte und den eleganten mausgrauen Paletot, der ihn doch vor der Schande decken sollte, abzuschütteln versuchte, als sei er nur durch diesen, nicht aber durch die Handfesseln seiner Freiheit beraubt. Natürlich gelang ihm dies nicht. »Wie kommt dieses stupide Subjekt zu solch einem Bruder!« dachte Manfred. Rudolf schüttelte sich, und als dies vergeblich blieb, drehte er seine Ellbogen nach außen, und mit seiner trotz aller Verwüstung nicht zu brechenden Ochsenkraft brachte er es zustande, zwar nicht vorne an der Brust die vielen geschlossenen Knöpfe aufzureißen, wohl aber den Kleiderstoff im Rücken auseinanderzusprengen. Der Mantel blieb vorne über den aneinandergeketteten, leise klirrenden Händen noch geschlossen, klaffte aber rückwärts in einem Riß von oben bis unten. Es sah aus, als habe man hinterrücks mit einem Schwert nach Rudolf geschlagen und seinen Mantel von oben bis unten mit einem Schnitt aufgeschlitzt.

Vera, die nichts ahnend neben dem Geliebten stand, war bei dem krachenden Geräusch der platzenden Rückennaht zusammengeschreckt. Rudolf nickte aber jetzt mit befriedigter Miene, als sei er stolz auf diese Wirkung seiner Kraft, dem Polizisten zu. Die Leute warteten nur darauf, ihn abzuführen. Durch den engen Korridor, an der Küchentür vorbei, kam er zu der Telephonzelle.

Hier machte er halt: »Darf ich meinen Bruder anrufen?« fragte er. »Im Leben nicht!« zischelte Manfred. Auch der Kommissar schüttelte den Kopf. »Ihr Bruder wird rechtzeitig verständigt. Sie können das auch vom Gefängnis durch Ihren Verteidiger besorgen lassen«, sagte er.

»Aber dann – kann ich vielleicht Vera anrufen?« murmelte Rudolf und blickte sich mit hilflosem Lächeln um. Hatte er denn vergessen, daß seine Vera, vergebens von Manfred in heftigem Streit zurückgehalten, wobei sogar die Federn der weißschwarzen Boa flogen, daß seine geliebte, kleine, rothaarige Vera sich keine zehn Schritte hinter ihm befand, daß sie ihm eben, vor kaum zehn Minuten, von dem »bitteren« Wein zu trinken gegeben, ihm zugetrunken, ihm den schönen Mantel ihres Mannes umgehängt hatte? Daß sie ihm sogar, von ihrem Manne ungesehen, eines von seinen spitzenbesetzten Luxustaschentüchern, und zwar das kostbarste, das ihr Mann fast nie trug, in die Tasche des Paletots gesteckt hatte als Ersatz für das von Manfred beschmutzte, das zusammengeknäult in einer Ecke lag?

Die Beamten hatten die Frage, wie es schien, überhört. Nur Manfred hatte sie wohl verstanden, ironisch machte er die Tür der Telephonzelle weit auf und schaukelte dann hohnlächelnd mit der Tür hin und her, wie es vor kurzer Zeit Rudolf mit der Kassentür gemacht hatte, aber Rudolf sah mit einem sonderbar leeren Blicke durch ihn und Vera und den alten engen Korridor hindurch.

Draußen war es noch nicht Tag. Die Turmuhr in der Nähe des Platzes mit dem Zeitungskiosk begann zu schlagen, drei Uhr. Um halb drei war Vera mit dem Sonntagabenderlös fortgegangen, und Manfred hatte um sie – und um sich gezittert ...

Der Kommissar hatte im Vorübergehen den Hut Rudolfs an sich genommen und ihn dem hochgewachsenen Gefangenen, sich auf die Zehenspitzen reckend – (was nicht nötig gewesen wäre, aber es zeigte Rudolfs körperliche Überlegenheit und verstärkte das Hochgefühl seines eigenen Erfolges) –, aufgesetzt, aber in der Halbdunkelheit verkehrt herum. Bloß Manfred sah es mit seinen Luchsaugen.

Er konnte es sich nicht versagen, dem gefangenen Feind mit seinen zierlichen Schrittchen nachzutrippeln und ihm den Hut zurechtzusetzen: »Das Köpfchen nicht, das besorgen andere, aber das Hütchen wohl, ja Kindlein, nicht wahr, Bübchen?« Rudolf wandte sich um und versuchte einen Stoß mit dem Ellbogen gegen die Herzgegend Manfreds, aber Manfred wich blitzschnell aus und hatte schon den Hut von Rudolfs Kopfe mit einer flinken Bewegung fortgerissen, ihn auf den Boden geworfen und war mit beiden Füßen darauf gesprungen. »Mein Paletot, dein Hütchen, Bübchen, Auge um Auge, Liebe um Liebe!« Er hüpfte empor und ließ sich noch einmal auf den Hut niederfallen.

Der Kommissar wandte sich um, beleuchtete den arg mitgenommenen Hut mit einer elektrischen Laterne und warnte: »Heben Sie sofort den Hut vom Boden auf. Ich ersuche Sie dringend, lassen Sie den Mann in Ruhe! Sie haben absolut kein Recht, sich an seinem Eigentum zu vergreifen! Die alten Zeiten sind vorbei, das werden Sie bald merken. Jetzt weht eine andere Luft bei uns, jawohl. Und was uns zwei anlangt, so sprechen wir uns morgen mit dem frühesten wegen der Rauschgiftsache. Wir haben im Präsidium jetzt mächtig ausgekehrt. Wir werden Ihnen Ihr »Aspirin« unverzüglich austreiben. Ich habe ein paar Gebrauchsproben bei mir, wir werden schon darauf kommen, was es ist.« »Ja, natürlich, wenden Sie sich nur an meinen Freund, den Doktor Konrad D., den Gerichtschemiker und Arzt.«

»Der Teufel ist Ihr Freund, Mensch!« sagte der Kommissar voll Zorn. »Machen Sie, daß Sie schleunigst verduften. Und das sage ich Ihnen, einer von uns beiden wird schwitzen, merken Sie sich das!« – Manfred lächelte frech zurück, und machte vor dem Zuge weit die Korridortüre auf, ein stotterndes »I-i-immernurzu! Brüderleinfein! Au-au-aufwiedersehn!« hervorstoßend.

So ließ er alle an sich vorbei, nachdem er durch eine halb drohende, halb komische Grimasse Vera gehindert hatte, nachzukommen.

Es hatten sich noch ein paar Menschen mehr vor der Haustüre angesammelt. Meist waren es Leute, die im Hause oder in der Nachbarschaft wohnten und die das Überfallkommando hatten anfahren sehen. Eine solche Begebenheit war ihnen Gratiskino. Nur ungern wichen sie zurück, als der Zug der Kriminalbeamten mit dem hochgewachsenen Rudolf in der Mitte vorbeikam.

Manfred sah mit nicht zu unterdrückendem Entzücken, wie sich die Schultern seines Feindes unter dem zerrissenen Paletot hoben und wie seine Ellenbogen so heftig zu zucken begannen, daß die leerhängenden Ärmel wie bei einer Vogelscheuche im Sturm in wilde Schwingungen gerieten, ja, es konnte nichts anderes sein, als daß Rudolf, das liebe, arme Kind, der schöne Mann, Veras Herzbube in Person, des großen Gefängnisdirektors von Ohr ehemaliges Mündel, des überweisen Konrads Bruder, jetzt ein wenig Schmerzen hatte, da ihm die scharfrandigen Handfesseln bei seinen unbeherrschten Zuckungen ins Fleisch schnitten. Immerzu! Immerzu! Vor der Tür des großen, schwarzglitzernden Autos, halb Personen-, halb Lieferauto, blieb der Zug stehen, Rudolf verhandelte mit den Polizisten, hoffentlich vergeblich. Worüber, konnte sich Manfred nicht klarwerden. War denn nicht schon alles sonnenklar? Er konnte die Worte auch mit seinen feinen Ohren nicht hören, konnte die Verzögerung nicht verstehen. Worauf wartete man noch?

Vielleicht sollte jetzt der »große« Bruder, vielleicht gar der noch einflußreichere Herr von Ohr, Major der Reserve und Chef des größten Provinzialgefangenenhauses in Ostdeutschland, zu Hilfe kommen und zugunsten dieses vielgeliebten Rudolf etwas aufklären, wo es nichts mehr aufzuklären gab? Oder – alles? Mag sein, auch das. Waren die anderen alle Kinder, er, Manfred, wollte es nicht sein.

Vielleicht war eben mit diesem Stundenschlag der Uhr auch seine, Chiffons, Zeit gekommen, es war vielleicht der glücklichste Moment, abzutreten von dieser traurigen Stätte und seinen lieben Kinderlein hier allen die Abschiedshand zu reichen? Auch in des Teufels Küche mußte man den Kopf oben behalten, Schadenfreude durfte kalt, aber nie im Übermaß genossen werden, und der berühmte Fisch, um den es sich ihm seit Jahr und Tag handelte, war vielleicht gerade jetzt im Begriff, zu fett zu werden?

Zum Glück schien der liebe Fisch, Herr Rudolf D., nicht zu erreichen, was er, jetzt mit seinen großen, aneinandergefesselten Händen umherfuchtelnd, von seinen Wächtern verlangte. Der Anführer der Streife schüttelte den Kopf. Er zuckte die Achseln. Rudolf wandte sich um, er sah im Kreise umher, ruckartig seinen Kopf nach rechts und nach links wendend, zuckend wie ein armer Fisch auf dem Küchenbrett. Plötzlich duckte er den Kopf zwischen den Schultern. Wollte er nochmals angreifen, dachte er an eine Flucht, wollte er alles auf seine letzte Karte und sein liebes Leben aufs Spiel setzen? Oft genug hatte er es aufs Spiel gesetzt, zum Beispiel bei seinen patriotischen Kämpfen gegen die Kommunisten in der Eislebener Gegend, warum sollte er es nicht auch jetzt tun, wo es sich um etwas noch Wichtigeres für ihn, seine Freiheit handelte. Immerzu! Aber bald schien er sich doch zu besinnen, sein Kopf tauchte zwischen den Schultern wieder auf. Strack und steif blieb er stehen, rührte sich nicht, hielt mit seinen Ellbogen die Polizisten von sich ab, die fast wie Ameisen um einen Hirschkäfer um ihn herumwimmelten, sechs gegen einen.

Manfred hatte an diesem Schauspiel genug. Er wollte kein Gratiskino. Die Nacht war aufregend genug für ihn gewesen, sein Magen brannte, sein wunder Hals brannte, vielleicht brannte ihm auch der Boden unter den Füßen. Er zog sich zurück. Strategischer Rückzug, oft der schönste Sieg und der sicherste.

Aber mit einem letzten Blick, den er sich doch nicht versagen konnte, sah er, wie sein Rudolf, ganz wie ein widerspenstiges, aber im Grunde so recht ungefährliches Tier von drei Polizisten von rückwärts auf die Arme genommen und trotz allen Strampelns und Sträubens hochgehoben und über das Trittbrett des Autos hinweg in den Fond des Wagens abgesetzt wurde. Die Polizisten wollten ihn niederhalten, aber er wurde aller Herr, er stand aufrecht da, leicht schwankend, als das Auto sich endlich in Bewegung setzte. Ein Polizist postierte sich an seine linke, ein zweiter an seine rechte Seite, zwei hielten sich ihm gegenüber.

Die Leute aus dem Hause sahen Manfred, und sie, die ihm sonst gern aus dem Wege gegangen waren, überschütteten ihn jetzt mit Fragen. Ersah sie alle verständnisvoll an und sagte stotternd: »Schaschaschade um ihn! Jejejetztgehtsumdiewurst. Gugutenacht, liebekinderchenallerseits!« Er sah Rudolfs bloßen Kopf mit den immer noch schönen blonden Locken, von dem zarten Licht der Straßenlaternen golden überglänzt, fortwehen noch über den schwarzglänzenden Landwehrlackhelmen der Polizei und verschwinden im Dämmerlicht des allmählich anbrechenden Morgens ...

Rudolfs zertrampelter Filzhut war in der Wohnung zurückgeblieben. Vera verbarg sich jetzt hinter Manfreds Rücken, sie putzte den Hut mit sinnlosen, fieberhaft eifrigen Strichen ihrer silbergefaßten Bürste, bei jedem Strich nickte sie mit ihrem bleichen Köpfchen, und ihre Tränen hinterließen dunkle Flecken auf dem Haarfilz, die niemals herausgehen würden, wie Manfred in seiner Güte und Anteilnahme sie belehrte. Ihre Lippen, brennend rot in dem kreidigen, verzerrten Gesicht, öffneten sich nicht, sie antwortete nicht, sie sah nicht einmal auf. Manfred besann sich, er bezwang sich, ließ sie bei dieser Arbeit und hielt sich am Fenster des Spielsaales I, obwohl schon lange nichts mehr auf der Straße zu sehen war. Denn der Wagen war schon seit einer Ewigkeit über den Kioskplatz hinweg verschwunden, und die Leute hatten sich alle verlaufen.

Aber Manfred konnte sich immer noch nicht von dieser Straße, in der er die wichtigste Zeit seines Lebens bisher verbracht hatte, trennen. Vorsichtig äugte er mit seinen farblosen, scharfen Äuglein auf die leeren, im Morgengrauen sich immer mehr erhellenden Häuserreihen hinaus, dann verließ er noch einmal schnell die Wohnung und holte vom steinernen Pfeiler des Vorgartenportals die, heute wie in jeder Nacht, hell beleuchtete Speisekarte, die noch mit dem Datum des vorigen Tages versehen war. »So erlebst du Glückspilz den 17. doch noch!« dachte er triumphierend. Dann ging er zu seiner Frau zurück, die, immer noch die elegante Federboa um den reizenden Hals, von neuen Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Sie hatte sich in die Ecke auf dem zerknäulten Teppich hingehockt. »Ist doch alles nur Komödie, ist alles nur Traum«, zitierte er einen Tangoschlager jener Zeit. »Was will es denn, das Verakind? Es kann dem Rudolfkind nicht helfen. Jetzt müßt ihr eben beide Vernunft annehmen, ihr Spatzenköpfchen, nicht?!« Halb ironisch, halb zärtlich raunte er ihr dies ins süße, perlmuttfarbene, an den Rändern rosenblattrot schimmernde Öhrchen. Sie schüttelte den Kopf, aber so, daß ihr Ohr ihn nicht mehr streifte. Sie drückte das Gesicht fort von ihm, in die Falten des staubigen Teppichs, zum Boden, der deutlich Kratzspuren auf dem Parkett trug. Was wollte sie noch? Warum hatte sie sich so? War sie nicht seine, Manfreds ehelich angetraute, geliebte, mit allen erdenklichen Dingen verwöhnte Frau? Hatte sie sich ihn, Manfred, nicht selbst gewählt, hatte sie sich ihm nicht immer mit der größten Leidenschaft hingegeben? Und jetzt tat sie so, als ob in den Falten des abgenützten Teppichs, in dem befleckten Filz des alten Hutes noch etwas vom Wesen ihres »Herzensjungen« zurückgeblieben sein könne. War denn das Liebe? Was sollte sie ihr? Jetzt?

Sie konnte weinen, soviel sie wollte, sie konnte ihren Mann nie mehr verlassen. Jetzt erst würde ihre Ehe zu einer wahren Seelenehe werden, dachte Manfred. In diesem Augenblicke hielt er alles für möglich. Er war sehr ruhig. Er wurde sanft.

Er fühlte sich wohl. Seine Magenschmerzen waren verschwunden. Sie hatten sogar einem behaglichen Gefühl von Wärme Platz gemacht.


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