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V.

Konrad wollte den Zeitungsbrief erst später der Mutter und den Geschwistern zeigen. Er suchte nach einem Versteck, dabei fiel ihm der Geigenkasten seines Vaters in die Augen. Er öffnete ihn und legte die Zeitung ausgebreitet und mit den beschriebenen Seiten nach unten zwischen das Instrument und eine verschossene grüne Samtdecke, die über den erschlafften Saiten und dem schiefen, ausgerutschten Steg ausgebreitet lag. In einer Ecke des Kastens befand sich ein kleines Schächtelchen, aus dem ein angebrochenes Stück stark duftenden, honiggelben Kolophoniums hervorragte. Er schloß den Geigenkasten wieder zu und stellte ihn auf den Schrank, von wo ihn sein Vater ab und zu, meist an Sonntagabenden, in den letzten Jahren aber immer seltener, herabgeholt hatte. Minna, das alte Dienstmädchen, kam mit dem Tee. Sie hatte sich etwas verspätet, hatte sich für Hilda Wasser »ausleihen« müssen, da durch Rudolfs Schuld kein Vorrat mehr in der Badewanne gewesen war. Aber es hieß, daß noch im Laufe des Vormittags der Verkehrs- und Wasserstreik abgebrochen werden würde. Um welche Streikpunkte es den Arbeitern gegangen war, wurde keinem klar, da auch die Zeitungssetzer in Sympathiestreik getreten waren und keine Zeitungen hatten erscheinen können. Nachts sollten im Arbeiterviertel Kämpfe zwischen einer nur aus Offizieren bestehenden Bürgerschutzwehr und den unter dem Kommando der Arbeiter- und Soldatenräte stehenden Truppen stattgefunden haben. Konrad zitterte um die Mutter, die ausgegangen war. Die Magd aber meinte, Frau Lucie sei bei einer stillen Messe in der Ignatiuskirche, die vom Arbeiterviertel weit entfernt lag.

Schon an der Tür wandte sich Minna noch einmal um und fragte mit stockender Stimme, ob der »junge Herr« ihr mit etwas Geld aushelfen könne. Sie hätte geglaubt, noch zwanzig Mark (in einem Schein) vom Haushaltsgeld übrigzuhaben. Es hätte in dieser Woche nur wenig auf Karten zu kaufen gegeben, deshalb sei heute, am Sonnabend, diese Summe zurückgeblieben. Aber sie müsse das Geld verloren oder für eine besondere Sache ausgegeben haben. Sie zählte aus dem Gedächtnis alle größeren Posten ihrer Haushaltsrechnung her und bat zum Schluß den Sohn des Hauses, ihr in ihrer Kammer nachforschen zu helfen, wo sie das Geld von jeher in einer Schublade eines Tischchens, die mit einem einfachen Schlüssel zu versperren war, untergebracht hatte. Vielleicht fand es sich doch noch? Und wenn nicht, so sollte es von ihrem nächsten Lohne abgezogen werden, darauf würde sie selbst bestehen.

Das Geld fand sich nicht, obgleich man alle Winkel der Schublade durchsuchte; Konrad hatte sogar die Schublade umgedreht und ausgeklopft, als ob in den Ritzen etwas versteckt geblieben sein könnte.

Bis jetzt hatten alle Wochenrechnungen Minnas Jahr für Jahr, im Frieden, Krieg und jetzt wieder im »Frieden«, immer auf Heller und Pfennig gestimmt. Die Magd war ein Muster an Ehrlichkeit und Genauigkeit. »Ich komme dafür auf«, sagte sie zum Schluß, »ich komme auf dafür!«

Konrad beruhigte die Alte, die ihm sonderbar verstört schien, mehr, als dem Geldbetrag entsprach. Ihm lag jetzt daran, daß sie auch ihm Wasser zum Waschen verschaffte. Nach zehn Minuten war sie zurück, nur einen Wasserkrug halb gefüllt heimbringend, dessen Inhalt gerade den Boden des großen, alten Waschbeckens bedeckte. Sie hatte bei allen Mietern des Hauses um Wasser gebeten, aber jetzt nicht mehr davon erhalten können. Als sich Konrad über die Waschschüssel beugte, hörte er es durch die offene Tür in der Küche rauschen, Minnas Mühe war umsonst gewesen, das Wasser »ging« wieder, der Wasserstreik war zum Glück schon zu Ende. Er hatte keine 24 Stunden gedauert – aber die bürgerlichen Kreise der Stadt waren dadurch sehr erschreckt. Mehr als durch die Abdankung des Kaisers vor zehn Tagen!

Die Mutter kehrte heim. Konrad wollte sie mit besonderer Herzlichkeit begrüßen. Aber sie wich mit den Blicken aus, nestelte mit den Händen wie geistesabwesend herum und schloß sich nach einem kurzen Zusammensein mit der Tochter allein in ihrem Zimmer ein. Konrad hörte sie leise, wie auf Moos, hin- und herwandern. Ohne Schuhe in ihrer ungeheizten Stube.

Hilda rief ihn zu sich. Er nahm das Halmaspiel von dem Stuhl – (der gestrige Tag schien ihm lange vergangen) – und setzte sich an ihr Bett in dem kalten Zimmer. Er breitete den Schlafrock des Vaters über ihre Steppdecke aus und erzählte ihr, sich gewaltsam zum Lügen zwingend, der Vater hätte aus dem Feld einen langen Brief geschrieben, er sei – gesund und wohlauf, wollte er sagen, verschluckte es aber und sagte nur mit trockener, unnatürlicher Stimme, der Vater sei auf dem Weg. Kaum hatte Konrad diese Notlüge ausgesprochen, als er sie bereute. Er log nicht gern und log schlecht. Das Schwesterchen mußte früher oder später die Wahrheit erfahren – wie er glaubte, am besten heute. Denn wenn die Mutter plötzlich in Trauerkleidern erschien oder wenn Bekannte, Freunde der Familie zu Beileidsbesuchen kamen, dann würde die Schwester in ihrem labilen Zustand mehr erschrecken, als wenn er ihr jetzt alles schonend mitteilte. Aber er fügte sich. Die Mutter wollte es so. Und auch er hätte nur zu gern die Schwester, das zarte, durchsichtige, trotz ihrer Krankheit immer reizender werdende Mädchen, die einzige Freundin seiner Flossie, geschont. Was sollte man tun? Hilda fühlte sich heute elender als gestern. Die Schmerzen in der Hüftgegend und in dem Kreuz hatten zugenommen, aber sie wehrte sich heftig dagegen, den Hausarzt kommen zu lassen.

Die Mitteilung vom Tode des Vaters war notwendig. Die Mutter war dagegen. Der Besuch des Arztes war notwendig, die Mutter ließ dem verwöhnten Kinde den Willen, ganz wie ihrem Rudolf. Was aber sollte er tun? War er verantwortlich und sollte er seine Willenskraft einsetzen, oder sollte er abwarten? Diese zwei Fragen waren verhältnismäßig unwichtig, aber es würden nicht die letzten sein, und einmal mußte er entweder seine Ansicht durchsetzen oder jede Verantwortung ablehnen.

Aber konnte er das? Er schwankte. Er schwankte nicht aus Mangel an Energie, sondern weil er beide Seiten eines Problems ergriff. Er schwankte zwischen Jus und Medizin, zwischen Abwarten und Handeln, zwischen Sohn seiner Mutter sein und Stellvertreter des Vaters. Der Krieg war beendet, der Krieg ging weiter. Die Schwester gefährdet, der Bruder gefährdet, die Mutter, der stärkste Halt der Familie, gefährdet.

Und dagegen er? Seitdem der Vater tot war, ohne Freund. Nur auf sich gestellt. Ein junger Mensch, 23 Jahre alt, durch die Entbehrungen des Krieges geschwächt, aber nicht gebrochen, mit einer ganz wenig schiefen Schulter, klug, ohne viel Erfahrung. Kein großer Redner, keine große Leidenschaft. Kein Revolutionär. Aber ein Charakter, der sich selbst mehr erzogen hatte, als daß ihn andere geführt hätten.


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