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IV.

»Wäre es möglich«, fragte Konrad, der sich beim Erzählen beinahe wieder ganz wie in den alten Zeiten gefühlt hatte, »daß wir die Unterredung jetzt unterbrechen und daß Sie mir die Erlaubnis geben, meinen Bruder – nur auf einen Augenblick – aufzusuchen?«

»Über die Besuchserlaubnis müssen wir uns noch schlüssig werden, gewiß, gewiß, ich verstehe, ich verstehe, aber wenn Sie nicht zu abgespannt sind, beantworten Sie mir noch in aller Kürze, also nicht mehr in so, wie soll ich sagen, epischer Form, einige Fragen, bitte, in aller Offenheit! Also, einverstanden? Die Frage, um die es jetzt geht im Zusammenhang mit den früheren, die 6.) lautet kurz: Wie steht es mit Eigentumsdelikten, Diebstahl, Einbruch, Veruntreuung und dergleichen? Wissen Sie etwas darüber?«

Der Arzt sah den Blick des Richters starr auf sich gerichtet, die Füllfeder des Richters hatte eben auf dem Papier die Buchstaben K. D. aufgezeichnet und hatte dann einen von zwei Doppelpunkten minutiös hingezirkelt und exakt über diesem den zweiten. Er, der Bruder, wußte von Eigentumsdelikten. Schon vor Jahren hatte die Familie, Hilda eingeschlossen, von Rudolfs Diebstählen gewußt, die Schwester hatte es ja in Gegenwart von Flossie herausgeschrien: ›Und Rudolf stiehlt!‹ Was jetzt? Schweigen? Schweigen hieß den Bruder belasten, nein sagen hieß bewußt falsches Zeugnis geben. Er war zwar nicht vereidigt worden, stand aber dauernd unter seinem Eid als gerichtlicher Sachverständiger, und wenn auch der Richter es nicht ausdrücklich erwähnt hatte, war es doch so. Jetzt verstand er den Rat seines alten Freundes Ohr, sich der Aussage zu entschlagen, die Wohltat des Gesetzes in Anspruch zu nehmen. Nur seine Liebe zu dem Bruder, den er hatte entlasten wollen, hatte ihn bewogen, sich dem öffentlichen Ankläger zu stellen. Kalter Schweiß sammelte sich ihm, wie in schweren Augenblicken oft, zwischen den Augenbrauen und den Augen, und doch wagte er nicht, die Tropfen aufzufangen, damit der Staatsanwalt nicht glauben solle, er weine und wolle sein Mitleid herausfordern.

Der Richter saß noch immer da, er hatte den Blick nicht von dem Arzt gelassen, aber der Arzt sah, daß die Hand des Richters, eine mit blonden, metallisch glänzenden Haaren besetzte, wohlgepolsterte Hand mit einem Siegelring am Mittelfinger und einem Ehering am vierten Finger langsam in Bewegung geriet und zuerst die zwei Doppelpunkte durchstrich und dann auch das Monogramm des Arztes durch einen kleinen, sehr regelmäßig gezeichneten Kreis einrahmte. Nach einer Weile fragte der Richter, nun auch das Monogramm kreuz und quer durchstreichend, ›da ist mir noch etwas aufgefallen, was ich in dieser Form noch nie bemerkt habe und was auch Sie als forensischen Psychologen interessieren wird. Der Untersuchungsgefangene ist manchmal über die Tempora, über das Vorher und Nachher, im unklaren, oder er tut so. Ob simuliert oder nicht, wird uns der Herr Sachverständige sagen, von Ihnen möchte ich nur wissen, ob auch Sie es schon früher beobachtet haben. Er verkennt nämlich infolgedessen die Situation ganz grotesk. Er kann z. B. aus seinem Revolver einen Haufen Schüsse loslassen und zwei Menschen zu Boden strecken – nicht wahr, so war es doch? –, von denen der eine in Todeskrämpfen sich auf dem Pflaster wälzt, der andere zum Steinerweichen heult mit seinem Knieschuß, und währenddessen kann er zu den andern Polizisten in Gegenwart seiner Spießgesellen und seiner Vera sagen: ›Weg da oder ich schieße!‹ Ähnliche Sprünge hat er heute in der Nacht bei Chiffon gemacht, und bei dem kläglichen Versuch, ihn zu verhören, ist er uns jetzt genauso gekommen. Haben Sie früher etwas Ähnliches bemerkt?«

»Nie«, sagte der Arzt mit Exaktheit. Er erinnerte sich, früher alle seine Aussagen mit dieser ruhigen Gewißheit abgegeben zu haben, und er begriff, wie weit er sich von sich selbst, von seinem eigentlichen Ich entfernt habe.

»So, nie?« fragte der Richter nachdenklich. »Dann mag es entweder auf Simulation beruhen oder auf der Wirkung des Kokains, das ja ein solcher Mensch nicht ungestraft jahrelang seinem bemitleidenswerten Körper zuführt.«

Mit diesen Worten schien der Untersuchungsrichter die Unterredung für abgeschlossen zu halten. Der Arzt rührte sich nicht von seinem Platz.

»Ja, bitte?«

»Ich bitte jetzt um die Besuchserlaubnis bei meinem Bruder.«

»Ach jaa! Die Besuchserlaubnis?« sagte der Richter, als hätte er nie eine ähnliche Bitte gehört. »Ich glaube aber nicht, daß ich sie Ihnen erteilen kann.«

»Wie ist das möglich? Sie haben sie mir doch eben zugesagt!«

»Aber nicht doch! Nicht, daß ich wüßte. Ich muß sogar leider nein sagen. Ersteht, so nehmen wir an, und so sagten Sie es vorhin auch selbst, stark unter Kokain. Das Gift muß ihm entzogen werden. Das geht allem anderen weit voran. Sehen Sie das ein?«

»Das sehe ich ein.«

»Wie wir wissen, ist das keine so einfache Prozedur, besonders hier in der Zelle, selbst im Gefängnislazarett nicht. Auch das wissen Sie?«

»Das weiß ich. Aber gerade in einem solchen Zustand bedarf er meiner am meisten, ich kann ihm sowohl als Bruder wie als Arzt zur Seite stehen.«

»Gerade das bezweifelt man. Sie sind nicht der Mann, bei allen Ihren sonstigen Qualitäten, ihn vielleicht mächtig angeben zu hören oder gar ihn etwas leiden zu sehen, denn ein reines Honigschlecken soll eine solche Roßkur von drei Tagen nie sein, und es könnte sich ja dann zufällig ergeben, daß sich in Ihrem Medikamentenschrank jetzt ein gewisses weißes Pulver findet und daß heute, Mitte Juni, Schnee fällt.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

»Mein lieber Herrgott von Mönchengladbach! Ihr Wort in allen Ehren! Ich habe Ihre Qualität als Ehrenmann nie bestritten, mein Verhör hier ohne Zeugen und ohne formales Protokoll beweist es, Doktor, aber Sie haben einen schwachen Punkt. Keine Diskussion! Hier sehen Sie rot. Die Entziehung wird Ihr Nachfolger oder, besser gesagt, Ihr Stellvertreter hier, Dr. Fabrizius, leiten, das wird er. Zwei können nicht kommandieren. Begreifen Sie das? Würden Sie es nicht ebenso machen, wenn Sie hier säßen und ich dort, wo Sie?«

»Ich soll nicht dabei sein? Er wird leiden, das Kind wird fürchterlich leiden. Er wird nicht verstehen, daß ich nicht bei ihm bin. Es sind höllische Qualen, die ein Mensch bei einer solchen Kur auszuhalten hat.«

»Mag sein, ich gebe es zu. Aber mit dem Kokain und Heroin und den anderen Zaubertränkchen, mit denen er sich bis jetzt über Wasser gehalten hat, muß es zu Ende sein. Da gibt's kein Deuteln. Noch steht die Sache nicht eindeutig schlecht für ihn, Beweise gibt es nur für die Schüsse am Kiosk, und die werden ganz anders gewogen, wenn es sich um die Schüsse eines von der Polizei verfolgten, gemeinen Raubmörders handelt oder um die Exzesse eines offenbar erblich belasteten, willenlosen und, wie Sie sagen, vielleicht stark berauschten Menschen. Alles andere sind nur unsere Arbeitshypothesen. Wie immer es sei, so kann er nicht weiterleben. Das ist nämlich nicht nur eine Hölle für ihn, obgleich Sie es paradiesisch schildern, sondern auch eine dauernde Gefahr für seine Mitmenschen. Am humansten ist, ihn mit Gewalt gesund zu machen. Er muß es tragen, er muß sich dann verantworten, und er wird es tragen, und er wird es verantworten. Verstehen Sie mich? Was sonst? Soll ich ihn auf Widerruf entlassen gegen Kaution? Könnten Sie das verantworten? Soll ich ihn einem Luxus-Sanatorium übergeben, aus dem er nie mehr zu uns zurückkommt? Niemals, nie!«

»Lassen Sie ihn mir! Lassen Sie ihn mir!«

»Aber Doktor, Sie haben ihn doch gehabt! Sie haben doch aus ihm gemacht, was er geworden ist, oder Sie haben es nicht verhindern können. Jetzt muß es anders werden!«

»Lassen Sie ihn mir, lassen Sie ihn mir!« murmelte der Arzt verstört. Der Richter trat zu ihm, überlegen nahm er die Hände des Arztes in seine und redete ihm gut zu. »Gewiß sollen Sie ihn haben, aber nicht jetzt. Sie sollen ihn sehen, heute schon, sogar sofort, ich komme mit Ihnen, aber er soll Sie nicht sehen. Es muß ihm zum Bewußtsein kommen, daß jetzt nur wir die Herren sind und daß wir ihn ein wenig hochkanten wollen. Was wollen Sie mehr? Alle erlaubten Erleichterungen soll er haben, eigene Betten, eigene Kleider, eigene Wäsche, Zigaretten, Obst, Klosettpapier, Zeitungen, Bücher soviel er will, Beköstigung von daheim, wir wollen so human sein, daß es uns vor uns selbst graut. Was hat denn diese moderne Humanitätsduselei schon genützt? Ändert sie die Schuld? Das Wesentliche der Strafe darf sie nicht ändern. Was wollen Sie mehr?«

»Und wenn es gefährlich werden sollte?«

»Wie sollte es das? Es kann nicht noch gefährlicher werden, als es schon ist. Sein Zustand ist scheußlich! Ein Mensch, jung und stark und dauernd im Tran. Grüne Seidensocken, Goldarmband, Wildlederhandschuhe und – Tag und Nacht dun, ist das nicht überkotzig? Und Sie sehen ja auch, daß dieses fressende Gift schon tief genug gegriffen hat, wenn ein gebildeter Mensch heute von morgen nicht mehr unterscheiden kann und es blitzen läßt, nachdem es vor einer langen Weile gedonnert hat. Es ist also höchste Eisenbahn.«

»Und wenn es doch kritisch wird?«

»Ohne die Entziehung geht er sicher ad patres, vielleicht nicht, ohne noch ein paar Heldentaten zum Ruhme seiner Familie verübt zu haben. Wird er kokainfrei gemacht, besteht die Möglichkeit, daß er nach ein paar Jahren Gefängnis und infolge intensiver Erziehungsarbeit durch andere Naturen, als es Vater, Mutter, die diversen Konrads und Veras bis zu Steffies und Chiffons sind, wieder ein ordentlicher Bürger und Deutscher wird. Dann können Sie sich bewähren, ihm etwas Neues aufbauen helfen, dann! Jetzt nicht!«

»Und wenn doch Gefahr eintreten sollte?«

»Doktor, Doktor, Doktor, ich sage es noch einmal, sie wird nicht! Aber um Sie zu beruhigen, will ich noch weiter gehen. Sie versprechen, daß Sie unter keinen Umständen Fragen an ihn stellen und unter keinen Umständen Antworten an ihn erteilen, die mit den Straftaten in Zusammenhang stehen, darauf verpfänden Sie mir Ihr Manneswort. Das ist doch das letzte in diesen Sauzeiten, woran einer noch glauben möchte, nicht? Und dafür verspreche ich Ihnen in der gleichen formellen Weise, daß wir Sie ihm in wirklich kritischen Momenten heranzaubern werden. Das ist die äußerste Grenze des Zulässigen. Sie wissen es! Ich will es gar nicht davon abhängig machen, ob der junge Mensch nach Ihnen verlangt. Denn, das sagen Sie sich doch endlich einmal selbst, Sie bedeuten, wenn ich meinen eigenen Eindrücken folgen darf, ihm weniger als das Rülpsfränzchen seines alten Gönners, ich kann mir nicht zwei Menschen denken, die auf so verschiedenen Planken im Weltmeer segeln, wie Sie und er. Wäre es anders, er wäre nicht da. Aber gut, Sie sind der Bruder, Sie allein fühlen sich verantwortlich für ihn, ob mit oder ohne Grund, weiß ich nicht. Die Mutter ist außer Reichweite, ich sehe es ein, Sie sind die Familie. Und die Familie ist immer noch, gerade jetzt, ein fundamentum regnorum, die Basis der Nation. Gut! Ich will dafür sorgen, daß er unter ständiger ärztlicher Beobachtung bleibt. Man wird ihn also nicht einfach auf drei mal vierundzwanzig Stunden, mit zwei dicken Woilachs als Lager und einem Laib Brot als Futter und so weiter, in eine dunkle Kammer, in eine unbeleuchtete Beruhigungszelle mit gekehlten Ecken und ohne Griffe an den Türen stecken, wie man es in ähnlichen Fällen bei Leuten ohne Bruder etc. etc., Sie wissen es selbst, schon mit ganz gutem Erfolg gemacht hat. Er soll alles haben wie in einem Sanatorium, einen Spezialwärter, unsern alten Medikus B., übrigens auch ein alter Bekannter aus dem Spielklub »Hera«, der wegen seiner geliebten Abtreibung sein Jährchen hier verbringt, sich von Luft nährt und seinen Durst mit Tränen stillt. Hat der verantwortliche Arzt, also Dr. Fabrizius, irgendwelche Bedenken, sieht er, daß es wackelt, sollen Sie sofort kommen dürfen, Sie sollen bleiben dürfen, bis der junge Mensch über den Berg ist.«

»Ich danke Ihnen.«

»Ich danke Ihnen nicht. Wir wollen uns nicht gegenseitig beredensarten.«

»Wollen wir jetzt gehen?«

»Gewiß doch, Doktor, und vergessen Sie Ihren Aktenladen nicht. Ihre Agenden als Gerichtsarzt müssen unter den Ereignissen ja nicht leiden.«

»Ich will zurücktreten.«

»So? Warum denn? Würde ich für übereilt halten. Es muß ja nicht hiergeblieben werden, hier ist wohl der Klamauk zu groß. Bin aber nicht berechtigt, Ihnen in einer so wichtigen Angelegenheit einen Rat ungebeten zu erteilen. So bitte, das wird die Zelle sein, Nr. 47a, Sonnenseite, neben dem Unteroffizier Gruschky aus der Fememördersache, wie das die bösen Zungen nennen. Sehen Sie, bei dem braucht man keine psychiatrischen Sachverständigen und keine Entziehungskuren, im Gegenteil, da sind im Grund noch kerngesunde Wurzeln, die kann man ruhig auch mal mit etwas Alkohol begießen, ist ja schließlich doch 'ne andere Geschichte, da ist die Sache soo einfach. Aber Sie verstehen mich schon. Bitte, treten Sie leise auf, ich möchte nicht, daß der junge Herr merkt, daß Sie gekommen sind. Ja, Sie können sich an die Tür stellen und durch den Judas gucken, nur leise, sehen Sie sich Ihren Coeurbuben in aller Ruhe an!«

»In aller Ruhe« sah Konrad, von dessen stürmischem Herzklopfen das schwere Eichenholz der Zellentür vibrierte, seinen geliebten, schönen Bruder Rudolf, der in diesem Frühling fünfundzwanzig Jahre alt wurde, einen hochgewachsenen, breitschultrigen Menschen. Eine dichte Mähne hellblonden Haares, in das sich einige graue Strähnen mischten, leuchtete in flachen Wellen, links sorgfältig geteilt, auf dem kleinen Kopf, den er jetzt ruckartig von einer Seite zur andern warf, während er mit langen, schnellenden Schritten in der Zelle umherschoß, lautlos auf seinen schlotternden, grünen Seidensocken. Mit einem Seitenblick seiner graublauen, fast metallisch leuchtenden, unruhigen Augen streifte er das Guckfensterchen. Er hatte wohl bemerkt, daß ihn jemand beobachtete – wer wohl? Mit den schönen weißen Zähnen fuhr er sich über die etwas schwammige, volle Unterlippe, dann sprach er vor sich hin, und es zuckte der Kopf wieder fort. Die Blicke hielten nicht still, die Wände hinauf und herab, in die Ecken, im Kreis herum und zurück auf die Tür. Auf dem Wandtischchen standen ein Napf mit Anstaltsessen und ein Krug Wasser, scheinbar unberührt. Den Rock hatte der junge Mensch ausgezogen und ihn auf den einzigen Stuhl gehängt, damit er die Form bewahre. An dieser Kleinigkeit erkannte Konrad den alten Bruder. Wenn aber der Bruder, unverständlich vor sich hermurmelnd, bald mit den Fingerspitzen, bald mit den Nägeln etwas Unsichtbares an der Wand zerdrückte und dabei verstört die Stirn runzelte, die Augen wie in Angst weit aufriß, begriff er ihn nicht mehr, aber er zitterte nur um so mehr um ihn.

Als sich Konrad endlich abwandte, traf er den Richter nicht mehr an. Es war halb zwei, die übliche Zeit für den Staatsanwalt wie für den Arzt und die übrigen, auswärts wohnenden Amtspersonen des großen Gefängnisses zu B., ihre Mittagsmahlzeit einzunehmen.


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