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X.

Als sie gegangen waren, begann Rudolf sofort von dem Gelage bei dem Hypothekenmakler zu erzählen.

»Mensch! Konrad! Was hat es da zu saufen gegeben! Als ich hinkam, waren schon die meisten da, lauter Männer, aber auch zwei Mädels, die hatte der Manfred, der grauhaarige Bock, mitgebracht, er nennt sich auch Chiffon und will aus dem Elsaß sein. Eine Dame für sich, eine für den Hausherrn. Für sich eine zuckrige Puppe, sechzehn Jahre, rote Zöpfe, schlank wie ein Wiesel, hört auf ›Vera‹, geht ins Lyzeum. Eine Klasse unter Flossie, glaube ich. Der Manfred hat ihr gesagt: zieh dir feine Wäsche an! Da trabt das Dingelchen putzig an in den Paradehosen ihrer Mutter, weit über die Knie herab, mit himmelblauen Bändchen durchzogen, das schlottert nur so um unser geliebtes Püppchen herum, und dabei war in der Villa so schlecht geheizt, anständige Kohlen konnte der alte Kunde nicht aufbringen, nur Schnaps hatte er, und zwar alles, was es auf Erden gibt, den ganzen Vorrat wollte er präsentieren, alles, was Namen hat. Und damit die zwei Dinger nicht so frieren, hat er der einen seine Jagdjoppe geliehen, sah ja zu phantastisch aus, oben die grüne Jagdjoppe mit den Hirschhornknöpfen und unten die schneeweißen Zottelhöschen. Die andere wollte nicht sagen, wie sie hieß, die Kollegin der Vera. Orchidee nannte sie sich, hatten ja alle, Herren wie Damen, so ulkige Namen. Die Orchidee hatte ihr Turnhöschen an aus feldgrauem Stoff, sah ja himmlisch, wirklich schnuckig aus, und oben eine stramm gespannte, dünne Matrosenbluse. Den alten Makler, Kriegsgewinnler, glaub' ich – gar so alt ist er aber nicht, fabelhaft herausgemacht, Gold und Edelsteine, den nannten sie einfach Rosenfinger – jüdischer Name, aber von Juden keine Spur – die Pfötchen geleckt, die Hände wie aus Marzipan – – und einen interessanten Sportsmenschen sah ich da, der beim Spionageabwehrkommando Ost gewesen ist, der hieß Steffie, horcht aber auch, wenn man Kleckschen ruft, schwarzer Schnurrbart, scharf nach rechts und links, Damen und Herren, hat wohl so allerhand, aber hohe Klasse, riesig intelligent, in jedem Sport Ia, er weiß, was er ist. Alles sieht er, hört er, stellt die Ohren auf wie ein Hund, der geborene Spion. Als ich kam, waren sie schon alle da. Sie warteten auf mich, und das war eben mein Clou. Empfingen mich mit Hallo! Und Matrosen waren da und Jungs und ein paar fabelhafte Sportskanonen. Es war schon über Mitternacht, aber zuerst saßen sie alle bekümmert und trist herum im Speisesaal um die Teller mit den Schmalzstullen und stopften und stopften. Zu mir war der Rosenfinger eitel Zucker, Rudolf hier und Rudolf dort und meine blonden Siegfriedslocken – aber mir wurde es heiß. Und da fingen wir an, die Schnapsflaschen aufzumachen, die Jungens zogen die Röcke aus, die Mädels kuschelten sich aneinander und machten große Augen, rauchten wie die Schlote, husteten und kicherten, und eine verschluckte sich, und das Wasser kommt ihr aus dem Näschen und der Rauch aus dem Mund, und in der Joppentasche rechts und links hatte sie alles, das kleine Weib, nur kein Taschentuch! – Warum lachst du nicht, Konrad, sitzt da wie ein Klotz!« Er schlug dem Bruder auf die linke Schulter, aber der Schlag traf nicht, denn die Schulter war vom Schneider besonders wattiert, um die Unregelmäßigkeit im Bau des Rückgrates auszugleichen.

»Du wattierter Konrad!« spöttelte Rudolf. »Du bist die Tugend selbst. Du und deine blonde Flossie, das frische Trampelchen, ihr hättet dabei sein müssen! Wir hätten euch eingeheizt, verlaß dich darauf! – Und höre nur zu, da gab es erstens einen Allasch, und ich trank diesen Allasch mit dem Gastgeber, Rosenfinger, auf langes Leben und gute Geschäfte, prosit! Und dann roten Cherry Brandy mit meiner süßen kleinen Vera, auf Ihr Wohl, gnädiges Fräulein! In Rot! Und trank auf unsere Freundschaft. Und trank diesen Cherry, und dann half and half auf das Wohl der kleinen Rotznase Orchidee in der grauen Turnerinnenhose, zu eng am Hintern, Ihr Spezielles! Und wenn Sie noch so ungnädig gucken! Und trank diesen half and half und dann gelben französischen Chartreuse mit dem gelben Manfred, dem Bild der hungrigen Jahre, liebster Bruder mein, ich sah aber weg, und er sah auch fort, Sekt gab es, aber der machte furchtbar durstig, und da waren wir auch schon auf du und du, ich und sie, und ich trank diesen Anisette, und mit dem ulkigen Steffie, den sie auch den scharfen Japaner heißen, weil er Jiu-Jitsu kann, trank ich einen ganz kleinen Anisette, ein Kleckschen dem Kleckschen, und der putzige Makler kam zu, und einen Arm um den Hals von Manfred, und seine Brillanten glitzerten wie toll, obwohl er alles so schummrig hatte beleuchten lassen, und den Kopf auf die Schultern des Japaners Steffie gelegt und einen Arm um meinen Hals, so zeigte er uns drei Männern stolz: das alles hier habe ich mit Lieferungen von Zeltösen gemacht, alles aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe, alle sollten wir Brüder sein und uns lieben wie Vater und Sohn und Bruder und Bruder, und ich soll heute abend wiederkommen, da wird der Manfred auch wieder da sein, und besonders wir zwei sollen von Herrn Steffie etwas Jiu-Jitsu lernen, die Kunst der Selbstwehr mit allen 606 Griffen, fabelhaft doch, nicht? Er, Rosenfinger, hat im Kriege auch die vielen ulkigen Eimerchen für Marmelade fabrizieren lassen aus Papier. Und da tranken wir eben etwas wie Kümmel, nur schärfer, aber wasserklar, und da war ein Offizier in Zivil, fühlte sich aber gar nicht gemütlich, hager wie ein Stock, war dem wohl auch zu heiß oder zu kalt, weiß der Himmel, er zog immer nur die Schultern vorne zusammen und rieb sich die Hände, als wäre ihm nicht ganz wohl, und zählte seine Worte, leckte an seinem Monokel, als wäre es aus Zucker. Aber den andern war es warm geworden, und Verachen schmiß die Joppe weg und die doofe Orchidee ihre Matrosenjacke und zog das graue Höschen an den Beinchen in die Höhe, weit über die Knie, und das Grammophon wurde aufgedreht, und eine schöne Twostep-Platte nach der anderen, da tanzten sie zusammen, die blassen, schlanken, niedlichen Gören, Köpfchen an Köpfchen und Hälschen an Hälschen, und schnippten mit den Zöpfen und schwankten schon mächtig. Mir zeigte der Rosenfinger seinen großen Trainingssaal mit dem Punchingball, da übten wir ein ganz klein wenig im Stoßen, aber das Seil, an dem der Ball zwischen den Türfüllungen hing, war nur Papierstrippe, bums, da war's aus, da kullerte er herunter und in eine Ecke. Aber jetzt ist ja Frieden, da gibt es wieder alles und alles wieder, wie es war. Weißt du, Konradin, ich bin nicht so, wie du denkst, ich habe immer meinen armen Vater vor mir gesehen. Und die Jungens, die sagen: so finster, du süßer, blonder Gott? Denen hätte ich am liebsten in die Fresse gespuckt. Ich schmiß mich hin, es waren da zwei Matratzen auf der Erde ausgelegt, nebeneinander, und über meinem Kopf schaukelten die Turnringe, mit echtem Leder bespannt. Und Vera kam und brachte zu trinken, Crème de vanille, glaube ich, und da lagen wir, sie auf der rechten Matratze und ich auf der linken, und sie war ganz außer sich, und mit ihren weichen Haaren kitzelte sie mich ins Ohr, sie trug ihre langen roten Zöpfe frei, nur unten mit etwas Schnürsenkel eingeknüpft, und sie sah mich von der Seite mit den feuchten grünen Augen an, sie wollte ganz sicher was von mir – ich konnte etwas nicht machen, und sie warf den Kopf zurück, machte das kleine Mäulchen auf und zu, leckte sich die Oberlippe, da sah ich ihre weiße Kehle, die zuckte, dann hatten sie auf einmal alle das Licht ausgemacht und hatten geschrien: ›Lichtstreik! eins, zwei, drei, Licht aus, Messer raus!‹ Aber ich lag ganz still da und hörte sie atmen, und dann raschelte was, da zog sie aus ihrer doofen Hose unten das himmelblaue Band, bei Licht nachher habe ich es gesehen, und damit hat sie mir die Hände gebunden und hat mich abgeknutscht, an der Stirn und hinter dem Ohr, wohin sie eben kam, wäre sie doch nur wieder fort gewesen, es war ja auch zu heiß. Und ich war selig, als die anderen wieder hereinkamen, mit Manfred und Steffie, da machte sie, Vera, mir schnell die Hände wieder frei und nahm es für ihr Haar, das Band. Dann sind sie alle marschiert, treppauf, treppab, bis in den Wintergarten und in das Schlafzimmer, mit Kerzen in der Hand, eine ganze Prozession, ich rechts, Vera links, Manfred in der Mitte, und trugen jeder in der rechten Hand eine Kerze und in der linken eine Schnapsflasche, und kein Mensch nahm mehr ein Glas zum Trinken. Wie die Wilden soffen wir direkt aus der Pulle. Dann waren wir wieder in dem großen Saal, wie im Anfang. Die Vera war immer noch bei mir. ›Ich muß Ihnen etwas sagen‹, sagte ich, und sie hielt ihr kleines Öhrchen gegen meinen Mund. Da kamen mir ihre Haare in den Mund, und ich mußte lachen und hielt ihr Köpfchen etwas weg von mir. Das mußt du doch verstehen? Das verstehst du doch, Konrad? Wärest du doch auch mitgekommen! Es waren so viele Menschen da, man hätte es nicht bemerkt. Vera drängte und drängte, und endlich sprach ich. ›Wissen Sie, Fräulein Vera‹, sagte ich, ›daß mein Vater gestern gefallen ist? Wie merkwürdig! Sechs Tage nach Waffenstillstand?‹ – ›Urchtbar raurig‹, sagte sie in ihrer putzigen Babysprache – auf einmal kreischte sie gar nicht mehr ›furchtbar traurig‹ auf und warf sich mit einem Ruck auf die andere Seite und fing an, mit ihrem Manfred sich herumzukugeln. Aber der Manfred war auch nicht glücklich. Er kann keine Schmalzstullen mehr vertragen. Er wollte niemals ins Feld, und da hat er monatelang in seinem finsteren Elsaß nur von schwarzem Kaffee und Kressensalat gelebt und schon paar graue Haare bekommen. Und dazu ein Magengeschwür. Solch ein Windhund verträgt keinen Schnaps und keine Schmalzstullen. Und ich konnte trinken, immerzu, und wurde nicht dun. Aber ein Praliné nahm er doch, der Manfred, direkt von Veras Mund. Ich tat, als hätte ich's nicht gesehen, aber ich hätte ihn zerreißen können und er mich auch, sicher! Und ich trank jetzt mit den anderen aus den Flaschen, Rosenfinger hat ja genug, und jetzt, wo Frieden ist, kommen immer neue Alkohole herein, da haben wir Prünelle getrunken und Curaçao, scheußlich süß, und dagegen zur Erholung Pfefferminz mit Eiskristallen und dann Sekt, gemischt mit Benediktiner, und dann Zeugs, das wie Bonbons schmeckte, aber ich mag mein lebelang keine Bonbons mehr essen, ich habe ja kein Magengeschwür, und wenn ich einen Menschen auf der Welt hasse, dann hasse ich diesen Manfred, und ich werde es ihm beim Jiu-Jitsu schon beweisen, verlaß dich drauf! Diesen Chiffon werde ich zerreißen, den Lumpen, der er ist! – Ach, mir tut das ja so wohl, daß ich wenigstens dich habe, ich habe dich doch, du bist der einzigste Mensch, der mir geblieben ist. Ich weiß es. Mit unserer frommen Mutter ist ja nichts anzufangen! Sie jammert. Sicher! Aber sie jammert nur um sich. Was weiß sie? Ja, ich lasse sie schlafen, ich bin ja so leise, ich muß dir erzählen, ich habe noch viel auf dem Herzen, ganz etwas anderes als die läppischen zwanzig Märker, und die Mutter soll nur ruhig schlafen! Ich wecke sie schon nicht auf. Es ist für uns alle ein fürchterlicher Schlag. Einer hat gesehen, daß meine Hose, die Cut-Hose vom Vati, im Gesäß zu voll ist, nein, nicht so, versteh mich nur recht, du Schwein. ›Mein blonder Tor‹, sagte er zu mir, ›Sie haben wohl das dunkle Beinkleid von Ihrem Herrn Vater geerbt?‹ Da habe ich aber dem grauen Bock eins in die blasse Fresse gelangt, mit oder ohne Jiu-Jitsu, und zwar so, daß der Manfred sich vor seiner Braut verstecken soll. Aber er hat nur gelacht, mit knallroter Backe, er, ja er beherrscht sich zu gut. Da habe ich die Achseln gezuckt und bin weitergegangen in die Bibliothek, da war ein Marmorkamin mit einem Eisbärfell, und da lagen schon ein paar Kerle, halb ausgezogen, aneinander, meist ältere, und die schmökerten in den Büchern, und ich guckte auch hinein. Aber es war ja zu scheußlich. Da tranken wir Jungens aus Sektgläsern eben einen Gin und dann etwas Martell, und dann gossen wir etwas alten Korn auf die Blätter von solch einem schweinischen Schmöker, und husch-husch, steckten wir ihn ins Feuer, hoch ging er wie bengalisch Licht, und da wurde uns allen wunderbar warm, ja, glücklich und selig waren wir, wir Jungens unter uns, du glaubst es nicht! Und ich holte einen noch dickeren Schmöker aus der Bibliothek, außen Pergament und dickes Bütten innen, mit allerlei Bildern, und dem gaben wir wieder ein wenig Aquavit, der brannte noch einmal so famos, und dann einen mit Schwedenpunsch, der wollte wieder gar nicht Feuer fangen und schmorte nur so trist dahin, aber dann, mit Schwarzwälder Kirsch, uralt, da brannte es lichterloh, und ich fing an zu flennen, und die andern Jungs flennten mit im gleichen Takt, bis die Mädels hereinkamen, so gut wie nackt. Da liefen wir schnell weg und ließen sie ans Feuer und an den Eisbärenkamin, und der alte Offizier kam mit uns, wollte fort, ich natürlich auch, aber ohne Vera wollte ich nicht gehen, ich konnte doch nicht. Und da gingen wir wieder los und trafen Vera an der Tür zum Badezimmer, da gingen wir frech hinein, und Steffie mit der Orchidee und ich mit der Vera, und das war ein ganz großer Saal, mit einer riesenhaften Spiegelscheibe und einem wunderbaren Badebecken und Glasvitrinen überall, mit großen Flaschen Parfüm, und ich machte eine Flasche auf und spritzte sie an, und sie quietschte ›nicht doch!‹ und wollte ›doch, doch!‹, und die anderen zwei machten so allerhand in einem Winkel und gurrten und würgten, unheimlich, mein Ehrenwort, so etwas war mir neu, da war es schon dunkel, und ich stand mit Vera am Spiegel, und wir lehnten uns mit dem Gesicht zum Spiegel beide, da war es kühl, und mir war so sonderbar. ›Bleibst du mir treu?‹ – ›Icht ragen‹, flüsterte sie, ›du, ich habe Durst‹, und ich hatte auch so furchtbaren Durst und holte aus der Bibliothek vom Kaminsims zwei neue Flaschen Schnaps; im Salon war es dunkel, und überall stolperte man über die Jungs, und die Schmalzstullen lagen auch glitschig am Boden umher und, jammerschade, mit der Fettseite auf dem Teppich, und einer wispert zum anderen: ›Da ist immer jemand hinter uns her und erpreßt‹, und der andere flüstert so rauh: ›Fürchte dich nicht, Süßer, im Volksstaat gibt es neue Gesetze, denn wir sind neue Menschen‹ – das klang so gut, da hätte ich den Menschen direkt küssen mögen. Aber ich ging zurück zu Vera und traf sie noch am Spiegel, und die andern zwei stöhnten im Dunkeln, es war zu scheußlich. ›Ach nicht doch, Bubi, was soll der Schnaps, ich habe wirklichen Durst?‹ Da hatte ich natürlich auch gleich Durst nach Wasser, aber es gab im ganzen Hause keinen Tropfen Wasser, wir machten Licht, die Orchidee schimpfte fürchterlich und kiff, und der Steffie kleckste auch so etwas Giftiges vor sich hin, da verstand ich, warum der seinen Namen hatte. Aber Wasser fanden wir doch nicht. ›Wollen wir nicht bald gehen?‹ fragte ich. – ›Wohin denn? Ich habe Mutti gesagt, ich bin über Nacht bei Frieda‹ (das war die Orchidee in Zivil), ›und Frieda hat ihrer Mutter gesagt, ich bin bei Vera, und Vera, das bin ich, weißt du das auch? Und liebst du mich? Ich liebe dich auch, Süßer du, aber mein Mann ist Manfred –‹ ›Wie kann das sein, das ist doch Quatsch? Du bist noch nicht mal siebzehn, und Manfred ist dein Mann?‹ – Bruder, Konrad, hörst du mir auch zu? Da kommt es nämlich darauf an. Ich bin doch nicht dumm, aber das habe ich beim besten Willen nicht verstehen können. Verstehst du das, Konrad? Doch auch nicht?«

Aber er erwartete Konrads Antwort nicht ab, wie besessen sprach er weiter.

»›Und da kannst du jetzt noch nicht fort?‹ sagte ich. ›Manfred erlaubt es nicht?‹ fragte ich. – ›Was hat der schon zu erlauben? Ich liebe ihn ja nicht. Ich bin ihm nur hörig, das kommt oft vor.‹ ›Ich kann das nicht verstehen, du Liebes‹, sagte ich zu Vera. ›Sollst du auch nichts sagt sie, ›du bist ein süßes Dümmchen, üßes Ümmchen, deshalb habe ich dich auch so lieb.‹ – ›Versprich mir das eine‹, sagte ich, ›bleibe mir treu! Verstehst du? Dann kannst du so hörig sein, wie du willst.‹ – Habe ich nicht recht gehabt, Konrad, das ist doch nicht unmännlich, das mußte ich doch sagen. – ›Ach, ich bin zu müde und möchte zu gern heim, mein liebes Jungchen‹, sagt sie zu mir, ›und mir ist in der alten dünnen Hose furchtbar kalt, zu kalt‹, sagt die Vera, ›hätte ich nur meine Bluse wieder oder noch besser meinen Mantel, der liegt mitten in dem großen Haufen Garderobe im Vorzimmer draußen –.‹ Die Dienstboten waren ja alle fort, Rosenfinger wollte sie nicht dahaben. Ich ging in die Garderobe und suchte das Mäntelchen. Sie hatte es mir ganz genau beschrieben, aus feldgrauem Stoff, aber wunderbar dunkelblau eingefärbt, mit Metallknöpfen in zwei Reihen, daran hätte man natürlich keinen Mantel erkennen können, es gibt ja jetzt so viele in der Art, es waren ja aber nur zwei Mäntel von Mädels da. Doch wie ich den Mantel anbrachte, fand ich Vera nicht mehr. Die meisten schliefen schon, aber draußen war es noch dunkel, und nach Hause wollte ich nicht. Du weißt ja, ich kann so schlecht schlafen, und da gab ich Rosenfinger die Hand, und er kam mit mir hinunter, und mit seinen blitzenden Fingern kam er an mich heran und stopfte mir eben diese Zigaretten und Zigarren in die Taschen, überall – ich wollte aber nicht, ich sage dir die Wahrheit! ›Auf Wieder- wieder-sehen, heute abend Jiu-Jitsu!‹ rief er mir nach. Ja, schon gut. Und keine zehn Schritte war ich gegangen, da merkte ich, daß ich Veras blaues Mäntelchen mit den Kronenknöpfen noch immer auf dem Arm trug. Zu regnen fing's auch an, und es ging der Wind im Dunkeln. Wirf's in Dreck, dachte ich, aber ich konnte nicht, ich lief zurück und klingelte, er wohnt in seiner Riesenvilla allein, und nach einer Weile kam jemand die Treppe herab, nichts als Vera, leichenblaß und die Hand unten auf dem Bauch und die Unterlippe ganz zerbissen. Als sie mich sah, sagte sie nichts, und als ich sie sah, sagte ich nichts. Und ich legte ihr das Mäntelchen um die Schultern und sah, wie das Mäntelchen mit den Militärknöpfen sich schüttelte. Aber sie sagte immer noch nichts und nickte nur immer mit dem Kopfe. Siehst du? So! So! ›Komm nicht zu spät morgen in die Schule, du Liebes‹, sagte ich, damit ich doch was sage, ›habt ihr dort geheizt? Und mit uns – mit uns wird alles wieder gut. Wir verstehen uns ja beide. Ich bleibe dir treu. Wenn du ebenfalls willst, so – dann mußt du mit dem Kopfe nicken!‹ Da nickte sie weiter. Gott weiß, wo sie war. Da war ich wieder allein auf der Straße, es mochte wohl nicht mehr ganz so finster sein, und der Wind ging auch nicht mehr so scharf. Der Alkohol war verflogen, ich wußte gar nichts mehr davon. Da hätte ich zu Hause schlafen können. – Ich wollte aber nicht zurückkommen. Ich war schrecklich müde, aber in meinen Schultern schüttelte es mich, und mit den Knien stieß es mich, Schritt für Schritt. Ich mußte ziehen. Da bin ich denn gezogen, und bin erst mal eine Stunde gezogen, da wurde es schon ein wenig schummrig, und ich war da in dem großen Dorf, wo wir mit Vati und Mutti und Hilda mal waren, im Sommer, beim Anleiheurlaub von Vati, und dann zog ich noch so eine Stunde, da war ich mitten im Wald, wo wir beide einmal nahe ran waren, du und ich, aber jetzt ging ich noch weiter, auf dem glitschigen Boden, auf den vielen Nadeln und durch, und es wurde licht, nur so trübe licht, eben nur hell, aber die Luft so rein und stark, stillte den Durst, und ein kleiner Hügel mit nackten jungen Birken, eine neben der anderen, zwischen den Zweigen der Nebel, und dann zog ich noch eine, zwei, drei Stunden, da waren wieder Felder mit Winterkorn und Dörfern, da fing es erst langsam an, richtig bei mir in den Beinen zu ziehen und loszugehen, da spürt man keine Müdigkeit mehr, es geht von selbst, und je länger, desto schöner, da ist man fort und denkt nicht mehr –«

»Aber dann bist du doch zu uns zurückgekommen, hast an uns gedacht«, sagte Konrad flüsternd.

»Ach, wer wispert denn da?« sagte Rudolf, wie aus einem Traum erwachend mit seiner alten Stimme. »An solchen Quatsch werde ich gerade denken! Kommt ja gar nicht in Frage. Ich wollte einfach nicht mehr. Eine solche rothaarige Kröte soll sich nur ja nicht einbilden, daß ich ihretwegen ziehe. Nicht im Traum! Ihr zum Trotz gehe ich wieder auf die Schule, du kannst mich anmelden. Zur Bürgerwehr gehe ich nicht. Ich habe genug von der Uniform. Und Rosenfinger sieht mich niemals wieder. Die halten mich ja für dumm. Ich bin kein Waisenkind, ich nicht. Solange ich Mutti habe, brauche ich keinen Rosenfinger und keine Vera und keinen Manfred –«

»Weine nur nicht, Mutti hört dich«, flüsterte Konrad.

»Idiot! Du weinst. Nicht ich. Ihr könnt mich alle –« Fassungslos brach Rudolf in Tränen aus, während er mit den Füßen um sich stieß.

Plötzlich besann er sich, setzte sich auf, und, das hübsche Gesicht noch von Tränen überströmt und die schönen hellblonden, an einzelnen Stellen fast silbern hell leuchtenden Haare zerwühlt, die blitzenden, kugelrunden, blaugrauen Augen auf den Bruder gerichtet, zischte er: »Wann bekomme ich die zwanzig Mark zurück?«

»Welche zwanzig Mark?« fragte Konrad verständnislos.

»Sag' ich's nicht? Bist du nicht ein Idiot? Die zwanzig Mark, die ich dir vorhin geliehen habe, erinnerst du dich denn nicht, für Minna?«

Konrad, der in dieser Stunde alles für seinen Bruder getan hätte, ging zum Schreibtisch, zog die Schublade heraus und gab ihm das Geld in lauter kleinen Scheinen und Münzen.

»Na also«, sagte Rudolf mit einem grinsenden, gemeinen, verzweifelten Lächeln, »wozu das Theater?«

»Du mußt mir versprechen, bei allem, was dir heilig ist, daß du nicht mehr in diese Gesellschaft gehst«, sagte Konrad flehend, indem er die Hände des Bruders in die seinen nahm.

»Laß mich los!« rief Rudolf wütend. »Ich tue, was ich will, ich lasse mir nichts befehlen! Du willst wohl den Vater spielen? Das schlage dir aus dem Kopf! Wenn ich mir das Befehlen gefallen lassen wollte, könnte ich ja in der Bürgerwehr dienen! – Aber versprechen kann ich es dir ja!«

»Ja, versprichst du es? Es ist nur dein eigener Vorteil!«

»Ich verspreche dir alles, was du willst«, sagte Rudolf, während er sich bückte, um seine Schuhe wieder anzuziehen, »nur das eine kann ich dir nicht versprechen, daß ich mein Versprechen halte. Oder soll ich lügen? Bin ich ein Dieb? Zwanzig Mark! Rosenfingers Freund? Veras Popanz? Was bin ich bei Manfred? Da hast du keine Worte, was?« – Und er lachte, als sei nichts vorhergegangen und als sei er derselbe Mensch, der am Abend vorher das Elternhaus verlassen hatte, um zu dem Makler und Kriegsspekulanten zu gehen, den man Rosenfinger nannte und zu dem er sich auch jetzt wortlos auf den Weg machte.

Es war dunkel geworden und eiskalt im Zimmer. Von draußen kam der Klang von Schritten. Auf der langen, wie fremd und unbewohnt aussehenden Straße zogen Infanteristen in Feldgrau einher, drei in einer Reihe, die Mantelkragen hochgeschlagen, zwei mit nach unten, einer mit nach oben gerichteter Flinte. Dieser Soldat, ein blutjunger, blonder Mensch, auf den das grelle, bläulichweiße Licht der eben entzündeten Bogenlampen wie ein Scheinwerfer fiel, zog gelangweilt und müde an seiner schräg im linken Mundwinkel hängenden Zigarette, dann, ganz lässig, im Vorübergehen, hob er den Kolben des Gewehrs an die Backe, richtete den Lauf gegen das dunkle Fenster, hinter dem Konrad, atemlos vor Angst, stand, und schoß, gleichmäßig vorwärtsgehend, auf die Bogenlampe, die klirrend zersprang. Die Flamme zischte nur einen Augenblick auf. Im Dämmern lösten sich die Kameraden unten schnell voneinander, sie hielten ihre etwas heller schimmernden Hände vor die Gesichter, wie um sich vor den Scherben der Bogenlampe zu schützen, die längst hinter ihnen lagen. Es war in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag.


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