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VIII.

Am Morgen des 19. Juni wurde Konrad gegen vier Uhr aus tiefem, traumlosem Schlaf durch das Telephon aufgestört. Seine Frau schreckte auf, sie war früher wach als er. Mit ihren weißen, feinen Händen griff sie über seinen Hals hinweg nach dem Hörer, fragte: »Was los? Wer dort?« Konrad war schnell wach geworden. »Es ist für mich, gib her«, sagte er, »bleibe ruhig liegen, ich muß wahrscheinlich gleich fort.« Am Apparat meldete sich der Dr. B., der alte, wegen beruflicher Delikte zu einem Jahr Haft verurteilte Arzt, den man allgemein den »Luftschlucker« nannte, weil er im Gefängnis die Gewohnheit angenommen hatte, riesige Mengen Luft zu schlucken, wodurch er sich das Atmen und das Leben noch schwerer machte, als es ohnehin war. Jetzt flüsterte er, durch seine ständige Atemnot behindert, mit leiser Stimme dem Arzt zu, er möge zu seinem Bruder kommen.

»Wie geht es ihm? Hat er nach mir verlangt?« fragte der Arzt.

»Ja, nein, gut, mäßig, wie man es nimmt. Verlangt hat er nach Ihnen nicht, das nicht gerade, aber Dr. Fabrizius wünscht es und ...«

»Und? Wie, was denn noch?« fragte der Arzt ungeduldig, da sich B.s Stimme in undeutliches Gemurmel verloren hatte. »Sollten Sie mir noch etwas sagen? Soll ich etwas Besonderes mitbringen? Ist Gefahr vorhanden? Sprechen Sie deutlicher!«

»Ich spreche ja so deutlich, wie ich kann!« antwortete Dr. B. »Es ist nur die alte Geschichte, die Entziehung macht keinen Spaß. Gefahr? Hahaha! Mit fünfundzwanzig Jahren!«

Der Arzt kleidete sich in aller Eile an. Gern hätte er mit seiner Flossie gesprochen, nachdem er sich sein Kind angesehen hatte, das mit rosigen Wangen, einem winzigen, verschlafenen Mund und zerzausten goldenen Löckchen, aber ernst wie immer, in dem Kinderbett schlief. Flossie schien aber wieder eingeschlafen zu sein. Schon den Hut in der Hand und die Aktenmappe unterm Arm, den frischen Geschmack des starken Zahnwassers auf den Lippen, nahm der Arzt ihre über den Bettrand herabhängende Hand, um sie, was er sonst sehr selten tat, zu küssen. Sie mußte aber doch wach gewesen sein, denn sie entzog sie ihm energisch, und obwohl der Arzt, seiner Ungeduld zum Trotz, noch ein paar Augenblicke an der Tür verharrte, blieb sie stumm. Sie streckte sich, kuschelte sich dann zusammen, fragte nicht und ließ ihn gehen ohne Gruß.

Auf der stillen Straße, in der Allee mit den blühenden Kastanien, die schon vom hellsten Frühsommersonnenschein durchleuchtet wurden, begegnete der Arzt einer Autodroschke mit einem verschlafenen Chauffeur und ließ sich nach dem Gefängnis bringen. Der Chauffeur, fremd in diesem Viertel der Stadt, wußte nicht, wo das Gefängnis war, und so mußte sich der Arzt neben ihn setzen und ihm den Weg zeigen.

Die Fahrt schien ungewöhnlich lange zu dauern, ebenso die Formalitäten bei der Torwache. Als aber der Arzt in seinem kleinen Lazarett angelangt war und auf die Uhr sah, waren seit dem Telephonanruf insgesamt erst achtzehn Minuten verstrichen.

Dr. Fabrizius kam aus einem Krankenzimmer, dem größten und hellsten, am besten ausgestatteten Raum der ganzen kleinen Abteilung. Er drückte Konrad die Hand und sagte, neben ihm den Korridor entlang hin- und wieder zurückgehend: »Schön, daß Sie so schnell gekommen sind, Gefahr besteht keine, ach wo, keine Spur Gefahr im Augenblick, wenn auch der Puls recht minder ist. Hauptsache: die Entziehung ist mal eingeleitet. Macht ihm natürlich viel zu schaffen. Es ist da allerhand los, er quasselt und spinnet ohn' Unterlaß, ich glaube nicht, daß er genau weiß, wo er ist und so. Offenbar ist es die erste Entziehung und deshalb auch die aussichtsreichste. Müssen eben nur über den Berg. Wollten ihm dann mal Papyver geben, verabredetermaßen, unsere bewährte Kombination: Paraldehyd, Pyramidon, Veronal, damit er so drei, vier Täglein sich die Qualen abdämmert im Tiefschlaf. Will aber das Tränklein nicht nehmen. Es raucht in ihm! Hält er es für Gift? Er trinkt auch Wasser nicht. Trotz Durst. Von Essen keine Rede. Das sind wir ja gewohnt. Ein wenig Toben mag uns auch nicht gar schrecken. Jedem das Seine. Nur bei seinem elenden Zustand auf die Dauer doch nicht so unbedenklich – ich wollte Ihnen in aller Freundschaft doch meine Meinung sagen. Wir müssen ihn eben ein bißchen plagen, können ihn hier nicht weiter im Kokaindusel lassen. Wollen Sie nun dableiben? Ich habe eine recht bewegte Nacht hinter mir und möchte jetzt ein kleines Ende pennen oder dergleichen.«

»Natürlich will ich bei ihm bleiben. Wenn es sein muß, auch allein!«

»Allein? Kommt ja gar nicht in Frage! Ginge sicher über Ihre Kräfte. Wir haben ja hier unsern alten Herkules, den Hufeisenkneter, den Oberwärter M., Sie kennen ihn, der sonst bei mir in der Weiberabteilung dienstet, stark wie ein Waldteufel und ruhig im Sturm, Eisenzwinger heißt der Knabe, und zur Pulskontrolle unseren kleinen alten Luftschlucker, der sich in diesem Punkt heute nacht wieder einiges geleistet hat. Ja, natürlich, sofort! Dann haben Sie ihn ganz für sich. Aber vorher noch eine kleine, aber mir peinliche Nebenfrage, dürfen mir nicht böse sein, verehrter Kollege, wir sind doch stubenrein?«

»Wie meinen Sie das, Kollege?« fragte Konrad betroffen.

»Sind Sie keimfrei? Hahaha! Haben Sie nicht in einer Tasche einige Sonnenstäubchen, Kokain? Es könnte doch sein, daß sich das mitleidige Bruderherz der Leiden seines Nächsten erbarmet! Es wäre aber eine falsche Barmherzigkeit. Ein für allemal! Entzogen muß er werden, und zwar gleich jetzt. Längeres Hinauszögern wäre Tierquälerei.«

Konrad sah dem Kollegen ruhig ins Auge, dann gab ihm Fabrizius den Weg frei.

Konrad trat auf den Bruder zu, der ohne Kragen und Schuhe, in seinem zerbeulten, silbergrauen Anzug mit verschränkten Armen dasaß, den kleinen, grau-blonden Kopf auf die Brust gesenkt. Vor ihm, so daß seine Knie sich mit Rudolfs Knien berührten, stand der riesige Gefängniswärter aus der Frauenabteilung, unbeweglich wie eine steinerne Mauer, er atmete tief. Vielleicht hatte kurz vorher ein Kampf zwischen den beiden stattgefunden, denn als Konrad näher trat, sah er, daß der »Eisenzwinger« die großen Hände des Bruders gekreuzt hatte und sie mit den seinen, wahren Tatzen, festhielt. Auch Rudolf atmete tief, aber nicht so ruhig wie der Wärter, sondern schnell, wie gehetzt. Er wehrte sich nicht mehr.

Seine Augen, kugelig, blaugrau, metallisch leuchtend, ruhten voller Verzweiflung einen Augenblick auf dem Bruder, der neben Fabrizius von der Tür her schrittweise näher kam, aber sie wandten sich sofort wieder ab, huschten inhaltsleer an dem weißen Kittel des Oberwärters empor, hinauf bis zu seiner Halsbinde, seinem kurzgeschorenen Kopf, dann rechts nach rückwärts an der Lehne des Lehnstuhls vorbei, links vorbei, ruckweise plötzlich nach vorwärts, nach oben zu der mit Eisendrähten verschmolzenen, quer rechteckig in ziemlicher Höhe eingesetzten Glasplatte, die das Fenster darstellte. Konrad kam immer näher, Fabrizius blieb zurück.

»Nicht rutschen!« flüsterte er. »Aufgepaßt!« Konrad wandte sich erstaunt um. Dabei wäre er fast ausgeglitten, er hielt sich krampfhaft an dem Wärterkoloß fest, der weiterhin gutmütig lächelte, ohne sich zu rühren. Rudolf starrte jetzt stumpf vor sich hin. In seinen dichten Locken waren viele graue Fäden zu sehen.

Auf dem hellgrauen Fußbodenbelag war eine Flüssigkeit ausgeschüttet. »Da, sehen Sie, haben wir sie ja, unsere drei Tage Schlaf, Papyver,« sagte Dr. Fabrizius. »Er hat nicht einmal einen Tropfen nehmen wollen. Wir haben zur Not unsere Kiefersperren, Schlundsonden und das ganze schöne Arsenal, aber ich wollte warten, bis Sie kommen, des Bruderarztes linde Hand. Freilich, es ist eine eklige Sache, einem lebenden Menschen solch ein Ding zwischen die Zähne zu klemmen und ihm den Rachen aufzureißen und ihm partout das werte Leben zu retten, er mag spucken wie er will! Vielleicht schaffen Sie es in Güte. Denn runter muß es. Zum Teufel mit allem Rausch! Komisch, jetzt ist er stumm. Bis vor einer Minute hat es sich nur so in einem Strom aus ihm ergossen, Redefluß ohne Ende und dergleichen. Und männermordender Kampf. Er hat ja niedliche Griffe an sich, der junge Held. Aber an Eisenzwinger prallt alles ab. Die Hand geben Sie ihm lieber nicht, stecken Sie sie in die Tasche, ein wenig tückisch ist das Brüderchen, hackt herum mit seinen Beißerchen, natürlich alles im Tran, Gott weiß, wo seine Gedanken sind, sicher jeden Augenblick woanders. Aber sprechen dürfen Sie natürlich mit ihm. Vielleicht versteht er die Stimme des Blutes doch.«

»Du, hier bin ich – Rudolf!« sagte Konrad leise.

»Nur lauter! Er hat Sie scheinbar nicht gehört. Oder doch? Und sieht er was? Der Teufel kenne sich aus! Das geht nun schon die ganze Nacht, immer ärger und ärger. Stimmt es, Eisenzwinger?«

Hilfesuchend wanderte Rudolfs Blick über Konrads Gesicht, als ob er ihn wiedererkennen möchte, seiner selbst aber nicht sicher sei. Er suchte angestrengt nach Worten, auf einmal schien sich etwas in ihm zu lösen, er öffnete den Mund, als sitze ihm das erste Wort schon auf der Zunge.

»Sehen Sie nur zu, daß Sie ihm möglichst schnell den wundersamen Trank beibringen! In einer Stunde bin ich wieder hier!«

»Erkennst du mich nicht?« fragte Konrad. »Ich bin dein Bruder.«

»Oh, nein – ich – habe – keinen – Bruder«, antwortete Rudolf mit einer Stimme, die ganz verschieden war von der, die Konrad seit Kinderzeiten an ihm gekannt hatte. »Oder doch! Ich weiß nicht! – Natürlich, hier nicht – er soll in B. sein mit Frau und Kindern. Sie haben ihm telephoniert. Er kann nicht kommen, heißt es.« Er lächelte müde, aber sehr freundlich und zeigte die schönen Zähne. »Wenn Sie es – aber vielleicht doch sind, dann kommen Sie – näher! Ich sehe jetzt schlecht. Sie haben ja ganz – seine Statur. Bist – du es, so sprich ein Wort!«

»Rudolf! Rudolf!«

»Also dann auf Wiedersehen! Brüderchen, aufgepaßt! Nicht mir in die Haare fassen! Da kreucht etwas, siehst du es nicht? Faß es doch, aber läuft das flink! So winzig und so flink! Es laufen die Tierchen zu zweien, Bruder und Schwester oder Mann und Frau, und hier sind noch kleinere, hast du sie? Rühr mich nicht an, bitte, blas sie fort und auf Wiedersehen! Sie quälen mich zu sehr, dahier unter dem Armband, da, wo der Wärter die Flosse hält, und am Nacken, drück sie tot, und unter den Achseln! Ach, du faßt sie nicht! Der andere ist fort. Wohin? Bitte, geben Sie die Pranke weg, lassen Sie mich los, mein alter Bruder ist jetzt da. Nicht wahr, du bist es doch? Verzeihung, tausend Dank! Der Angeklagte dankt schön! Er sorgt für mich, Sie können gehen. Einer ist für mich. Sie drücken zu stark, Herr Wärter, mein Handgelenk ist schon Mus und Brei. Wozu denn? Für die Milde des Gerichts! Sie können gehen! Ich tue ja nichts mehr, lassen Sie mich nur eine halbe Minute! Alle gegen alle! Auf Wiedersehen! In der Hölle, ja? Wie das juckt und wie das zuckt. Entschuldigen Sie, Herr Doktor, daß ich Sie belästige. Ihnen wird so etwas nichts Neues sein. Alte Späße. Aber mir. Sie sehen meinem Bruder so von Herzen ähnlich, aber ich weiß, Sie sind es nicht, ich habe vielleicht Halluzinationen, aber keine Luft und furchtbare Schmerzen. Fünf Jahre Koks und Mops, ist das schön? Aber mich können sie nicht täuschen, ich kenne sie alle schon lange, die Kleinen, die fängt man, und das große Tier läßt man laufen. Ja, glotzt mich nur an, ich fürchte euch nicht! Was wollt ihr auf einmal von mir? Wollt ihr mich wieder in den Teppich einrollen? Das gilt nicht, feiges Pack! Wo ist mein Hut? Hut runter! Bitte, loslassen! Freilassen!«

»Rudolf, was willst du? Was brauchst du?«

»Ich danke schön. Bitte sagen Sie, wo bin ich? Sagen Sie es leise, ich höre ja gut, nur mit dem Sehen ist es Essig. Ist es heute oder morgen? Heute oder übermorgen? Übermorgen muß ja auch einmal drankommen. Ja, das zieht in den Haaren, die halten dort wohl ein Turnfest ab oder ein ganzes Parlament. Das kribbelt wie verrückt. Und wo spielt der letzte Akt? Dann macht die Platzanweiserin die Lichter aus, und die Leute gehen nach Haus schlafen. Der Film war schön, der Film ist aus. Aber wo bin ich jetzt? Muß wohl ein polnisches Arrestlokal sein, ihr sprecht ja alle so ein verrücktes Zeug. Ihr glaubt wohl, ihr seid auch Menschen, weil ihr eine Fresse dort sitzen habt wo ein anderer ehrlicher Mensch sein Gesicht. Loslassen! Der gefesselte Mann. Das ist ja kein Recht, das ist Rache! Loslassen! In einem deutschen Krankenhaus, da ist es blitzsauber, da gibt es keine Wänzlein und Pflänzlein. Und niemand steckt hinter den Wänden und kritzelt mit dem Bleistift und will alles abhorchen. Wenn nur endlich mein großer Bruder da wäre! Er war doch eben noch da, auf den Korridor ist er gelaufen. Gestern habe ich ihn angerufen, aber es war kein Strom, bei Chiffon ist eben alles faul. Sagt mal, nicht? O komm doch, laß dich nicht so bitten. Ich kann und will nichts mehr ertragen, das tut man ja keiner Katze an. Loslassen! Ich kann dir die Hand nicht reichen, du treuer Kamerad! Vera ist nun wohl auch hier. Nur um sie tut es mir leid. Das größte Miststück auf Gottes grüner Erde. Bitte lassen Sie mich los, nur zur Probe! Bitte lassen Sie mich nicht mit mir allein! Hier tut es ihm weh. Stark im Nehmen war er immer und niemals feig vor dem Feind. So sind wir doch noch mal ins Feld gezogen. Unser heiliges Deutschland lassen wir euch nicht. Wenn er nur endlich da wäre! Eine bekannte Seele! Die Roten kommen alle aus der Hölle, Vera auch. Aber mein Bruder ist reines Gold! Weich, aber rein! Wir sind Waisen. Wäre doch erst übermorgen! Heute regnet es, heute ist untermorgen. Warum lacht ihr nicht! Konrad, du alter Philister, versteck dich nicht, du braver, wattierter Geselle, ich kenn' dich doch! Dieser Tag ist wohl das Untermorgen. Das ist ein schreckliches altes Haus. Wie das hier überall riecht! Arme Vera, hier wirst du an dein Chypre denken! Und ich kann nicht von der Stelle, nicht stehen, nicht liegen! Nur lehnen! Nicht gehen! Laßt ihn, laßt ihn doch endlich ein wenig los! Konrad, jetzt bist du wieder fort! Warum sprichst du nichts? Du bist doch ein Witz! Macht mal das Fenster raus! Zieht mir mit dem Kamm mal ordentlich stramm durchs Haar! Faß doch an, Bruderherz, mir bricht der Angstschweiß aus. Jetzt kommt's! Ist schon der Kragen fort? Loslassen! Luft! Ist das alles naß ringsum! Mich ekelt ja vor mir selbst. Drei Dezigramm Koks pro Tag, da krepiert ein Ochs. Ist gar zu scheußlich! In meinen Fingern zuckt es, die Ameisen kribbeln, das fleißige Volk, und die Millionen Würmer graben sich noch tiefer hinein. Ja, das heißt gefangen sein! Bitte, lassen Sie ein wenig nach, ich tue nichts mehr!«

»Bitte, lassen Sie ein wenig nach, Herr Wachtmeister!« sagte Konrad.

»Ist denn kein Fenster da? Verfluchte Wirtschaft! Gestern hätte ich noch massenhaft Koks haben können. Jetzt wäre mir geholfen. Ach, ich könnte mich erschlagen! Da stand ich vor dem Eisschrank, nein, vor dem Eisenschrank, und ganze Schaufeln Schnee kamen da rausgeschneit, weiß, eisigkalt, jetzt in der Hitze! Ach, Kinder, süße Kinder, Freundchen, Freundchen, Wachtmeisterchen! Was, Schufterle, lach! Ach, hätte ich ein klein' Stäubchen. Nur das letzte! Ich will sparen, täglich noch weniger, weniger als nichts. Gestern, da hätte ich es von Chiffon bekommen sollen, zwei Kilogramm hätte ich haben können, so zitterte er um sein schäbiges Leben, echte Ware von Merck, und ich habe es nicht genommen. Bruder, bleib doch, du hast es Mutti versprochen! Geh noch nicht fort! Ich studiere mit dir! Ach, wie schrecklich ist mir, es wird immer ärger und ärger! Vor den Augen flimmert es, oben in den Wolken müssen die Flieger sein, hörst du es surren, und jetzt wird es krachen. Siehst du denn nichts? Hast du denn noch Zeit? Erst war es schwarz und jetzt wird es aber rot. Brand, ja? Nein, es ist schon wieder still, nur mein Herz pocht toll! Es dreht sich im Kreise, alles ist ganz grün. Grün ist ja auch eine schöne Farbe, bringt Glück! Nur kein Rot! Jetzt sehe ich dich, Konradin! Bist du aber alt geworden! Aaach! Oooh! Luft! Luft! Wo seid ihr denn? Jetzt ist alles aus! Mutti! Oooh!?«

»Wie geht es dir, Rudolf? Liebster, verstehst du mich?«

»Wie es mir geht? Danke, sehr gut! Ich habe furchtbare Qualen auszustehen. Könnte ich etwas essen? Es brennt mir im Magen. Schmerzen habe ich nicht. Nein, trinken will ich nicht! Ich traue keinem, auch Vera nicht! Ihr vergiftet mich alle, Weiber wie Männer, in einem Fingerhut. Ich war immer zu sehr allein, Mutti! Ohne Vater, ohne Freund, ohne Frau! Jetzt bist du wieder weit fort. Er ist raus aus der Tür. Draußen im Garten geht er, warum habt ihr hier keine richtigen Fenster? Glas mit Eisendraht durchzogen! Ja, das ist der deutsche Gott, der Eisen wachsen ließ! Wozu das alles? Wer soll denn hier ausbrechen? Jeder ist selig, wenn er nur hier sein darf. Ach, Brüderchen, weine nicht! Bruderherz, loslassen! Ich breche nicht aus, mich habt ihr für immer! Ich war noch nie im Gefängnis. Rudolf, jetzt haben sie dich doch! Ihr schämt euch wohl alle sehr? Ich auch! Aber was tun? Das beste Argument ist immer noch der Revolver, das sage nicht ich, das sagt der Herr Instrukteur. Der Steffie hat es raus, sage ich euch. Aber als ich ihn raus hatte – sagt es nicht weiter –, da war es schon zu spät. Der Herr Lehrer lehrt alles, Jiu-Jitsu, Fechten, Schießen auf bewegliches Ziel, im Liegen, im Stehen, aus der Tasche, im Laufen, aus dem fahrenden Auto heraus. Vor dem Kiosk wird er mir nicht ein zweitesmal auflauern, ich weiß es, Vera lügt nicht, die Roten lügen aber alle. Und Rudolf stiehlt nicht. Kleckschen möchte ich nicht heißen um alles in der Welt. Da müssen es die Moneten tun und die brutale – Kraft. Schön kann nicht jeder sein, komm, tröste dich! Aber lebend bekommen sie ihn nicht! Steffie kann einem mit dem »Dreiunddreißiger« auf japanisch leise die Knochen im Leibe zerbrechen, ich weiß es genau. Versucht hat er es oft. Auf der Matratze bei Rosenfinger. Rosenfinger, fort mit dir! Gutes, rot angemaltes, rührseliges altes Schwein! Schufterle! Steffie, nun mach schon! Das Herz bleibt einem im Leibe stehen, und der kalte Saft bricht heraus wie jetzt! Aber Rudolf, halte dich! Nichts zeigen! Die Zähne aufeinandergepreßt, daß es knirscht! Oder gelacht, auf japanisch gelächelt! Lächeln, lächeln! Das beste Beruhigungsmittel ist die Repetierpistole, da sagt niemand gern nein. Jetzt die Augen aufgemacht, ihr glaubt mir wohl nicht, ihr zwei Schneemänner, daß ich euch erkenne! Das hier ist mein Bruder, der Doktor, und das hier ist der dicke Wärter. Was, Wärterlein fein, mit den Männern ist es netter als mit den doofen Weibern? Wir sind doch die besten Kameraden! Bitte, lassen Sie mich los, ich lege mich ins Bett und schlafe mich tot. Chiffon, paß auf, die Kassenwand kommt angesaust! Hui! Ja, Rudolf nimmt euch alle aufs Korn. Und dort hinten im Winkel hinter dem Bett hockt der Schreibersmann, der Engelmacher. Einer macht Bengel, einer macht Engel! Bitte, freilassen! Ich nehme keinen Koks mehr! Möchte zwar mal wieder, gebt nur her, möchte zu gern mal wieder! War schön! Mitten im Schnee liegen, mit offenem Maul, die Sterne laßt glitzern, sie tun uns wohl, vom Himmel hoch, da kommt es her, Schnee, was wäre es da so kühl! Noch einmal leben, das wäre allerdings schön. Weshalb lachen Sie, Sie sehen meinem armen Bruder so ähnlich, warum lachen Sie denn? Dein Wein war bitter, Vera, und mit dem Kochen wird es Essig sein, du Süße! Lachen ist hier streng verboten. Die Wände haben Ohren, denn der Direktor heißt von Ohr. Oh, bitte geben Sie mir etwas zur Beruhigung, ich möchte schlafen wie ein Windelkind. Der Vater hat mich mit seinem Vollbart gekitzelt und roch deftig nach rotem Wein und gutem, braunem Rauchtabak. O nein, so werde ich nicht gesund. Bitte, sehen Sie, dort läuft etwas! Warum guckten Sie sich nicht um? Ihr wart wohl nie gefangen? Gestern haben sie mir sogar Handfesseln angelegt wie einem Proleten und den Hut vom Kopf herunter, schmutzige Rache, im Auto gab's frische Luft, und alle guckten und staunten Gotts Wunder. So reist man durch die Welt. Oh, die Welt ist schöner, je weiter sie ist. Warum ist es nur hier so stickig? Es ist bald bei mir Schluß, ich weiß es.«

»Nein, nicht doch! Bitte, Rudolf, nimm die Medizin! Du kannst sofort schlafen, und nachher ist alles gut!«

»Wie herzlich du sprichst! Du bist sehr, sehr gut! Du bist wohl auch nicht vorbestraft? Herzsüßen Dank! Zu lieb! Aber einnehmen kann ich nichts, ich weiß doch nicht, was es ist. Selbst meine liebe schöne Vera hat mich vergiften wollen mit bitterem Wein! Ehrenwort! Wer sind denn Sie, was wollen Sie noch hier?«

»Ich bin dein Bruder, du hast mich doch eben erkannt!«

»Mein Bruder? Lächerlich! Mein armer Bruder hat vor drei Jahren im Herbst an mir Selbstmord verübt. Laßt mich lieber verrecken, es lohnt nicht, es wird doch mit mir nichts mehr!«

»Nein, du mußt dich zusammennehmen! Du wirst wieder gesund.«

»Ja, gebt mir nur den Todesstoß! Ich komme nie mehr frei!«

»Doch! Sicherlich, bald! Wir meinen es alle gut mit dir!«

Plötzlich stieß Rudolf mit seinem Kopf dem Wärter blitzschnell vor den Leib und wollte die Hände losreißen und sich frei machen. Aber auf alles vorbereitet, steckte der Wärter den Stoß ein und zuckte nicht einmal zusammen. Er hielt die Hände Rudolfs fester als vorher.

»War wohl von mir nicht nett?« bettelte Rudolf. »Ich weiß selbst nicht, wie es kommt. Ich habe es euch gesagt, steckt den Rudolf ins kalte Wasser, mit dem Kopf voran. Ist es aus, so ist es aus, und allen ist geholfen. Wozu braucht ihr dann Fingerabdrücke? Ihr habt Ruhe und ich erst recht. Bin ich ein Mörder? Ach, wenn ihr mir die Brust aufreißen könntet, damit ich endlich Luft bekomme. Es ist fürchterlich! Glaubt ihr es nicht? Fühlt doch her, alle beide, hierher, hierher! Laßt doch richtige deutsche Luft herein, mir ist zum Ersticken! Ich war lange nicht im Wald. Im Wald geht der junge Jäger singend durch den Wald. Bitte, wischen Sie mir die Nase ab! Auch aus den Augen rinnt es, aus beiden, bitte, mein Herr, und auf Wiedersehen, Schufterle! Der Jäger, der nimmt den Bock aufs Korn. Ja, sehen Sie ihn, der ist erst recht alt geworden, der alte H....bock, der Chiffon. Es ist Winter und Schnee. Und unter dem Winterschutz, den dicken, altbemoosten, dunkelgrünen, weißbeschneiten Holzklötzen und Kloben und draußen auf dem runden, ausgetretenen Äseplatz, alle gedrängt, Fell an Fell, ja? Und die kleinen, schwarzen Kügelchen rollen ihnen unter, stehen die Rehe und Zicken und schnaufen still vor sich hin. Brot und Wurzeln und Eicheln und Rüben in Raufen, und überall ist etwas Schnee, das tut so gut wie Salz, da kommen sie, Rotwild, ja? Die Alten sichern, und die Jungen schauen mit blanken, schwarzen Lichtern und reiben die Geweihe an den Stämmen, mit den schwarzen, weichen Nüstern und wruddeln sie an dem Schnee und ziehen ihn ein und scharren die Erde leise auf mit den gespaltenen Hufen, und dann wird es still, es wird dunkel, und der deutsche Mond zieht auf, das dicke, himmlische Ding in den weißen Bäumen oben, und vom hohen Dorf kommt Glockengetön, und aus dem Försterhaus hört man das Grammophon. Und den Jägershund hört er bellen, und schon sind die Rehe in alle Winde, die alten voran. Der Hund spielt so nett mit dem jüngsten Kind, das reitet auf dem starken Hund! Denkt ihr wohl? Das war schön! Ich habe oft mit vielen Menschen gesprochen, ich aber habe mich – gar nicht gefürchtet – vor ihnen. Und getippelt sind wir oft zu zweien, zu dreien, einer hinter dem andern. Stundenlang, jahrelang, jahrelang. Im südlichen Schwarzwald sind die schönsten Blautannen, die Hänge rauf und runter, die dicksten Kerle, mehr blau als grün, da müßte er »Blauwald« heißen. Oder Rudolfswald, warum denn nicht? Dort, das ist das Herz vom Deutschen Reich, und nach Straßburg ist es nicht mehr weit, von dem hohen Dorf sieht man den Dom und nachts die Züge über der Brücke, die Lichter in den langen D-Wagen wie in einer Perlenschnur, gar nicht schnell, unten, ohne Laut. Ich habe das Leben doch schön gelebt! Auf Wiederleben! Ja, Sie, Wachtmeisterchen, und du, Brüderchen, ihr nicht? O doch, bitte! Wenn ich nur ein wenig von der Luft hätte von damals! Und wie das hier sticht und zuckt! Ein Buntspecht pickt an den Borken, an der Rinde herauf, herunter, im Kreis, hin und zurück, in den Fugen, da kriechen kleine Käfer, so rostrote, denke ich, sehen Sie, Herr Wärter, dies verdächtige Individuum? Da zwischen meinen Fingern drückt sich etwas Winziges herum, gucken Sie nur hin, an Ihrem schneeweißen Kittel, da klettert auch so ein brauner Hochtourist hinauf, darf ich es Ihnen abnehmen, ich tue es gern unter uns Männern. Eure Wand ist voller Wanzen, ihr seid wohl alle wanzenblind, bitte, die Hände hoch! Das geht wohl nicht, ich bin ja gefährlich! Die Wanzen, die nimmt der Jäger aufs Korn, aufs Gerstenkorn, und ist das Korn aus, dann geht's an die Zuckerrübe. Bei Magdeburg gibt's Zuckerrüben genug und genug, da haben die verdammten Roten sich feige versteckt. Proleten sind Proleten. Schützengräben und leichte Maschinengewehre auch. Aber wir haben schwere! Wir schießen scharf und knallen oft ganz schön auf die roten Brüder. Sei doch still, Rudolf, laß ihn schlafen, Bruder! Gib mir eine Spritze, ich möchte so gerne schlafen, erinnerst du dich, wir haben in Betten nebeneinander geschlafen, Konrad, das war fein kühl im Sommer, Fenster auf und der Wind in den Rolläden und die hellen Flecke auf der Zimmerdecke. Da waren silberne Linien gemalt. Ist wohl schon alles verblaßt? Ob der noch lebt? Ich habe mich nie zurückgetraut. Und im Winter bekam ich eine Wärmeflasche, damit spielten wir beide zwischen den Füßen und lachten uns eins. Mutti hat ein kleines Herz. Ulkig! Dann lacht sie wohl nie. Die Betten schüttelt sie auch nicht mehr auf. Ach, einmal nur schlafen! Ihr seid doch zwei, könnt ihr mir nicht Ruhe vor mir verschaffen? Beim Wandern, da ist es am besten. Aber ihr laßt mich ja nicht! Weit in die Welt! Welt in die Weit! Nur fort! Nicht hängen und haften! Verhaften! Mich verhaften! Habe ich denn jemals jemand etwas getan? Hätte ich denn gestern nicht den Manfred zerquetschen können zwischen der Kassenwand und der eisernen Kassentür wie eine Wanze? Nicht Mucks hätte er gemacht. Wanzen mucksen nicht! Aber, ich tue keiner Seele was. Vielleicht bin ich zu feig dazu. Ja, die zwei Polizisten sind freilich hin. Ja, kommt nur raus aus euren Ecken und seht mir gerade ins Gesicht! Ich sehe, Schufterle, sie schießen im Dunkeln auf mich zu, Hut runter! Sie fallen über mich her, alle gegen alle, Pack, vier oder vierzig, wer siehts denn genau im Dunkeln, und was können meine Augen sehen, ich bin ja wie blind, wenn ich ein Zentigramm habe. Gut war es deshalb doch! Gute Dinge danket Gott! Ich war dabei. Klar. Und der eine, schon liegt er am Bauch und krallt mit den Händen zwischen den Steinen, siehste mal, Schufterle, und der andere heult herzzerreißend, klar, ich war dabei, geschossen hat einer, aber doch nicht ich! Ich lebe ja selbst viel zu gern! Ich habe nur aus Angst gedrückt – und schon war's vorbei – ist das nicht ein Witz? Und deshalb unters Fallbeil? Erinnerst du dich, Bruderherz, wie wir es uns vorgestellt haben, wenn wir beide ganz alt sind, ich zweiundzwanzig? Da bist du schon ein Greis, Mensch! Fünfundzwanzig und etwas! Was habe ich schon gelebt? Gute Tage noch keine! Aber du? Du ja! Nicht wahr, Bruderherz? Vor Chiffon hüte dich! Oh, wenn er das wüßte, Schufterle, wie es mich jetzt hier quält! Gelacht hat er, gelacht und meinen neuen Filzhut zertrampelt! Bruder, Bruder! Es kommt wie vorhin! Jetzt drückt es an, und die Mutter rutscht am Hochaltar auf den Knien, von uns Kindern weiß sie nichts, Kinder, Kinder, oh, bitte, helfen, schnell! Guck mal her, zieh mir fix das Hemd auseinander, ich tu' dir nichts, sieh doch, da unter der linken Brustwarze ist es geschwollen, Bruder, ein dicker Eisenreifen geht da rings rum, innen wohl! Kann das sein? Das Herz zwingt es mir ab! Ich kann nicht mehr! Hau feste darauf! Doppelt und dreifach hat es sich zusammengezogen, und das zwingt mir das Herz ab. Reißt das Fenster auf! Schlagt die dicken Scheiben ein! Luft! Ach laßt mich doch atmen! Könnte ich künstlichen Sauerstoff bekommen? Ich möchte aufstehen! Luft! Nur ein bißchen Luft! Reißt mir den Mund auf! Kommt rasch! Eine Mark gebe ich für Luft! Alles was ich heimgebracht habe! Lauft, verkauft mir Luft! Wartet nicht! Wärter, warten Sie nicht, ich krepiere Ihnen unter den Händen. Meinem Vater hat auch niemand geholfen. Da ist er verblutet fürs Vaterland, glaubt ihr nicht?! Warum kommt unsere Mutter noch nicht? Ich habe Hunger, und in der Kirche ist jetzt nachts keine Seele mehr! Und der Durst! Und keine Luft! Jetzt ist es ernst! Weckt ihn auf, Bruder, holt mir den Arzt! Er darf mich nicht ersticken lassen! Was steht ihr denn da herum? Und sagen, daß das Koksen ein Genuß ist, ein Götterfraß! Rrraus!«

»Bruder, warum quälst du dich so? Trink, und die Atemnot verschwindet sofort. Das ist ja Wahnsinn! Warum schüttelst du den Kopf? Du mußt! Sonst gehst du ein! Wachtmeister, ist noch eine Portion von dem Zeug vorbereitet?«

Der Wachtmeister nickte stumm.

Konrad sah seinen Bruder flehend an, aber Rudolf sah ihn nicht. Mit seinem kleinen Kopf hin- und herpendelnd, so daß er einmal mit seinen langen, graublonden Haaren sich in den Knöpfen des Kittels des Wärters verfing, dann wieder mit seinem Kopf Konrads Leib streifte – jetzt hieß es immer nur: – nein. Plötzlich brach er in ein endloses, automatisches Gelächter aus, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Das Lachen strengte ihn an, sichtlich wollte er es beenden und konnte nicht. Sein Körper zitterte, so daß auch der schwere Lehnstuhl vibrierte, er schüttelte den Kopf, als wolle er sich selbst Halt gebieten, die ursprüngliche Röte wich einem fahlen, unheilverkündenden Grau. Konrad ergriff seine feuchte, kalte Hand. Der Puls war langsam, wie immer bei Kokainisten, aber fadendünn, und setzte aus.

»Rudolf, was ist mit dir? Wachtmeister, wir warten nicht mehr. Lassen Sie ihn los, bringen Sie die Medizin.«

Der Wärter gehorchte sofort. »In einem Wasserglas? In dem Zahnputzglas?« fragte er, die ersten Worte, die man heute morgen von ihm hörte.

»Einerlei! Nur rasch!«

»In einer Kneipe in Kattowitz haben sie mir einen alten Menschen gezeigt in einer Ecke sitzen, das sollte ich sein, ja, Konrad?« flüsterte Rudolf mit kaum vernehmbarer Stimme. Der Wärter stand da, ein Wasserglas, zur Hälfte mit einer braunen Flüssigkeit gefüllt, in der massigen Hand. »Warten Sie, nein, so geht das nicht«, sagte Konrad. »Das Zeugs hat sich aus der Lösung ausgeschieden. Wärmen Sie das Ganze noch einmal schnell in der Teeküche. Bitte recht schnell!« Der Wärter lief, das Glas vorsichtig in seiner riesigen Hand haltend. Der Bruder schwieg und atmete flüchtig und schnell. Er bewegte die Lippen, die Augen traten aus den Höhlen, er deutete mit der Hand auf seine Brust, dann auf seinen Mund. Konrad nahm seinen Kopf und hielt ihn hoch. Rudolf flüsterte weiter, wehrte sich gegen die Hand des Bruders, wollte aufstehen und fort. Der Wärter trat ein, das Glas in der Hand. Er hielt es an seine bärtige Wange, um zu erkennen, ob es nicht zu heiß sei, dann gegen das Fenster schräg in die Höhe, um zu sehen, ob es klar sei. »Recht so, gut so«, sagte Konrad zu dem Wärter. »Nun passen Sie bitte auf. Wenn ich sage jetzt, dann flößen Sie meinem Bruder den Trank ein. Nicht überschnell. In aller Ruhe. Schluck für Schluck. Verstanden?«

»Und die Hände?«

»Das wird gar nicht nötig sein. Geben Sie mal das zweite Wasserglas her. So, und jetzt aufgepaßt!« Er schleuderte das leere Glas auf den Fußboden, wo es auf dem Linoleumbelag klirrend zersprang. Rudolf schrak aus seiner Lethargie empor, die über ihn gekommen war, riß die Augen auf, starrte den Bruder, den Wärter an, der Blick huschte zur Tür. Konrad ließ seine Hände los und faßte ihn energisch an der Schulter. »Hast du gehört? Der Vater ist da! Sofort trinken! Augenblicklich trinken bis auf den Nagelgrund, sofort! (Jetzt!) Ex! Jetzt!« Rudolf war noch nicht zur klaren Besinnung gekommen, als er schon den ersten Schluck getan hatte, den zweiten, den dritten und letzten. Der Wärter schmunzelte. Rudolf blickte sich hilflos lächelnd um. »Gut war es«, sagte der Bruder, das Glas zur Nagelprobe umkehrend, ohne daß ein Tropfen fiel, »sehr gut war es. Jetzt darfst du dich auch hinlegen. Bitte, Wärter, machen Sie ihm das Bett zurecht. Wir kleiden ihn dann aus.« Rudolf wischte sich mit der knöpfelosen, schlotternden Manschette seines Hemdes den Mund ab, er verzog die Lippen, denn der Trank hatte widerwärtig geschmeckt. Dann erhob er sich stumm und schwankend aus dem Lehnstuhl, in dem er die Nacht verbracht hatte, streckte die Arme waagrecht von sich, damit das Ausziehen leichter ginge, er wehrte sich nicht mehr. »Es sind allerhand Sachen für ihn gekommen«, flüsterte der Wärter, »auch Nachtgewänder, aber sie werden nicht passen, zu klein, wir nehmen jetzt ruhig die Anstaltswäsche, nicht?« Konrad nickte. Als sie den Bruder aus- und für die Ruhe eingekleidet hatten und der große, schöne, breitschultrige Mensch gebückt wie ein Greis und mit kleinen Trippelschritten wie ein Kind zu dem Bette gekommen war, dessen harte, fest mit Kapok gestopfte Kissen kristallweiß glänzten, sah er den Bruder scheu von der Seite an und murmelte: »Zähneputzen? – und dann Licht aus?« War das die Erinnerung an den Vater, der den Kindern nie erlaubt hatte, sich, ohne die Zähne zu reinigen, zu Bett zu begeben, während die Mutter immer darauf gedrungen hatte, daß sie vor dem Schlafengehen ein wenn auch noch so kurzes Abendgebet sprachen? Konrad und der Wärter nahmen den Bruder wieder zwischen sich in die Mitte, führten ihn zur Wand an den Waschtisch, setzten ihn auf einen Stuhl, und Konrad begann dem Bruder mit einem funkelnagelneuen Bürstchen, das der Anstaltsverwaltung gehörte und im Haus erzeugt worden war, die Zähne zu putzen, während ihm Eisenzwinger den Kopf über den Ausguß hielt.

Dann brachten sie ihn zu Bett, und er schlief röchelnd schon bei den letzten Schritten ein, nachdem er mit dem Fuße eben noch den Glasscherben ausgewichen war, die man noch nicht hatte forträumen können.

Die Sonne strahlte in voller Glut in den hellen Raum.


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