Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bis gegen zehn Uhr blieb die Familie zusammen. Konrad, mit seinen Gedanken ganz fern, spielte mechanisch mit Hilda Halma. Sie hatte auf der Bettdecke das Brett aufgestellt und hielt es mit der linken Hand fest. Er gewann fünfmal, verlor achtmal. Ihr machte es Spaß.
Rudolf war nicht zurückgekommen. Die Mutter ging in ihr Schlafzimmer. Sie wollte sich ausweinen, und auch das konnte sie nicht. Sie weinte nur nach innen. Schlaflos, ohne ruhen zu können, verbrachte sie die Nacht. Sie hatte die Schuhe abgelegt, barfuß, als wandere sie in der Wallfahrt, die sie gelobt hatte, lief sie lautlos stundenlang im Zimmer umher. Um Mitternacht hörte sie die Entreetür zufallen. Kam jemand? Ging jemand? Ihr war, als sei sie aus einem Traum mit einem starken Schlage aufgewacht, und sie hatte doch noch kein Auge geschlossen! In den Knien brannte es und rollte schwer wie heißes Metall. Die alte Magd trat bei ihr ein. Die beiden Frauen setzten sich im Dunkeln zueinander, senkten die Köpfe und stöhnten, aber sie sprachen nicht, und die Magd versuchte nicht, ihre Herrin zu trösten. Erst gegen Morgen kehrte Minna in ihre Kammer zurück, nachdem sie das Bett der Mutter wie für eine Kranke frisch aufgeschüttelt hatte.
Konrad war nach dem Einschlafen der Schwester in sein Zimmer gegangen, das, von den Räumen der Mutter und Schwester getrennt, nach rückwärts gelegen war. Er setzte sich in seinen Studiersessel, einen alten »Ohrenstuhl«, der schon seinem Vater beim Studieren gedient hatte. Er war so erschöpft, daß er sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Er hatte nur die Schuhe ausgezogen, war aber sonst angekleidet geblieben. Er träumte vieles wirr durcheinander und zum Schluß davon, daß er mit dem Vater auf einer Seilbahn fahre und daß ein Stahlseil schnurrend über dem Waggon und zugleich ein zweites unter seinen Socken daherrolle. Als er aber aus dem Fenster des Waggons, an seinen Vater gepreßt, hinaussah, merkte er, wie die Seile nach oben und unten sich im leeren Raum verloren. Der Wagen, schräg im Steigen begriffen, stand in der Luft, grüne Wälder und Wiesen in der Sonne ließ er unter sich. Der Sohn faßte, außer sich vor Erstaunen, nach dem Handgelenk des Vaters, der, ohne sein Herausstarren aus dem Waggonfenster zu unterbrechen, in Schlaf versetzt schien, und rüttelte ihn: »Aufwachen! Aussteigen! Aufwachen!« – Doch nicht der Vater wachte auf, sondern er. In sein dunkles Zimmer drang aus dem Nebenzimmer ein zarter Lichtschimmer und zugleich ein Schnurren, das an das Rollen des Drahtseiles erinnerte.
Er stand auf und öffnete die Tür ins Nebenzimmer. Sein Bruder stand am Waschtisch mit entblößtem, prächtig modelliertem Oberkörper aufrecht vor dem Spiegel. Die breite Brust ohne Haare, glatt wie Email, die Rippen in weichem Schwung bewegt, die schlanken Hüften in den Breeches von dem militärischen Koppel gegürtet. Sein blondes, in Naturlocken fallendes Haar war noch etwas feucht, in seiner rechten Hand hielt er einen vernickelten Trockenapparat hoch, einen sogenannten »Fön«, der heiße Luft erzeugte, und damit trocknete er, sich im Spiegel bewundernd, sein Haar. Das Erscheinen Konrads war ihm sichtlich unangenehm: »Könntest du nicht anklopfen, wenn du in ein fremdes Zimmer trittst?«
»Ja, was machst du denn hier? Warst du bei Frau von Ohr?«
»Jetzt in der Nacht aus der Stadt den Riesenweg hinaus zum Gefängnis? Fällt mir nicht im Traume ein! Ich habe dir ja gleich gesagt, ich gehe nicht hin, es hat keinen Sinn!«
»Und was tust du da mitten in der Nacht?«
»Oh, du grundgütiger Himmel! Was kann denn um Himmels willen ich dafür? Habe denn ich den alten Herrn niedergeknallt? Immer predigen! Laß mich doch gefälligst in Frieden! Kümmere dich um dich! Ich bin alt genug!«
»Du hast doch zum Haarwaschen nicht etwa das ganze Wasser in der Wanne verbraucht?«
»Nein! Ausgesoffen habe ich es! Ich muß mich auch einmal wieder saubermachen und mir die Haare waschen. Ihr könnt quatschen, was ihr wollt. Ich habe eine Einladung. Ein Millionär, Lieferungen en gros. Ich will dort nicht herumlaufen wie ein Schwein. Man ist kein Prolet. Ich lasse mich auch nicht in den Soldatenrat wählen, jetzt erst recht nicht. Ich bin eigens eingeladen, man ist unter gebildeten Menschen.«
»Eingeladen – für heute?«
»Warum nicht? Heute und egalweg! Mache ich den alten Herrn wieder lebendig, wenn ich mich hier einsperre? Soll ich lesen? Soll ich studieren? Soll ich Halma spielen? Schlafen kann ich ja doch nicht!«
»Ja, begreifst du als erwachsener Mensch nicht, was vorgefallen ist?«
»Aber Mensch, natürlich! Ich verstehe das sehr gut. Ich kann eben nicht nach einem solchen Tage schlafen! Du ja. Glaubst du, ich bin so herzlos? Da irrt ihr euch alle!«
»Und wohin willst du?«
»Zu einem netten Kerl, einem älteren Herrn, ich sage dir, mächtig reich, nennt sich Rosenfinger. Wir sind eine ganze Menge Jungens dort. Aber auch Damen. Und dann kommt ein junger Mensch, angeblich Elsässer, Halbfranzose, halbseiden, heißt Chiffon. Und dann auch ein Prachtkerl von der Polizei, Steffie, ein großartiger Boxer. Wir üben vielleicht am Punchingball.«
»Rudolf!«
»Aber gewiß doch, wenn er nämlich heute so ohne weiteres vom Dienst loskommen kann. Die roten Hunde knallen nämlich noch da und dort herum. Und dann, mußt du wissen, wollen wir uns alle miteinander wieder mal ordentlich die Wampe vollschlagen. Ja, im Hause Rosenfinger, da ist es goldrichtig. Da gibt es echte Zigaretten, Schnaps und Sekt massenhaft und Schmalzstullen, so dick bestrichen, ich lüge nicht. Sie sagen es alle!«
»Wer sagt denn, daß du lügst?« meinte Konrad. »Ich kann verstehen, wenn du hier heute abend nicht recht satt geworden bist. Zieh dich nur warm an, es weht mächtig draußen.«
»Na siehst du, kannst ja ganz vernünftig sein, mußt nur nicht immer meckern. Hör mal, ich habe da vorhin im Wohnzimmer die Cuthose vom Alten liegen sehen, famos geplättet – dir wird sie natürlich zu groß sein, nicht? Was denkst du, ob ich sie mir heute anziehe, hast du den Eindruck, daß das geht? In den alten Breeches aus Ersatzstoff möchte ich nicht gern erscheinen. Es kommen mächtig feine Leute hin, außer der Polizei auch Herren von Adel, Offiziere etc. sollen auch da sein. Und du gibst mir die Schlüssel? Es ist nur euer Vorteil, denn wenn ich die Schlüssel habe, komme ich bald wieder, wenn ich sie aber nicht habe, bleibe ich eben bis morgen mittag außerhalb oder bis übermorgen –«
»Das wirst du doch unserer armen Mutter jetzt nicht antun! Junge! Rudolf! Du Lieber! Ich rechne auf dich – das kann ich doch? Alter! Ja? Ich glaube, Mutti ist aufgewacht, wir haben zu laut gesprochen –«
»Du! Ich nicht!«
»Gut, also ich. Du wartest, bis alles wieder ruhig ist, holst dir dann meinetwegen das Beinkleid aus dem Wohnzimmer –« »Ach, holen! Habe es schon lange hier –«, sagte Rudolf, »auf dem Hosenspanner von wegen der Falten, damit sie auch fein scharf bleiben, nicht? Oder ist das übertrieben? Jedenfalls, die Sachen werden geschont, darauf könnt ihr euch verlassen. Also? Alles wieder gut? Dann geh jetzt raus, damit ich mich in Ruhe anziehen kann. Und, was glaubst du, ist mein Haar schon ganz trocken?« Konrad fuhr dem Bruder durch das aufgeplusterte, nach Kamillen duftende, vom Fön erwärmte, knisternde, blonde Haar, in welchem einzelne der seidendünnen Strähnen eine besonders helle, fast silberfarbene Tönung zeigten. Konrad sprach nichts mehr, nickte bloß seinem Rudolf zu und zog sich in sein Zimmer zurück.
Konrad wunderte sich über sich selbst. Statt daß ihn die Herzlosigkeit seines Bruders abgestoßen hätte, hatte sie ihn getröstet. War es zu verstehen? Ihm selbst war es etwas leichter geworden ums Herz, als er gesehen hatte, wie der andere Sohn seines Vaters dessen Untergang ohne einen besonders bitteren Schmerz überstand. Es gab ihm Stärke, daß sein Bruder Rudolf dem Furchtbaren im Leben so gewachsen schien, wie er selbst diesem Furchtbaren gewachsen sein wollte.
Als er schon im Bette lag, holte er noch einmal das Telegramm hervor, das die Mutter ihm, als dem jetzigen Oberhaupt der Familie, am Bett der in das Halma vertieften Hilda zugesteckt hatte. Er las das Datum. Es war der heutige Tag. Noch an diesem Morgen hatte sein geliebter Vater gesprochen, gelebt. Lebte er jetzt noch, um zwölf Uhr nachts?
Er schrak auf. Die Tür des Entrees war, gerade als die Uhr zum Mitternachtsschlag ausholte, schmetternd zugefallen. Der Freitag war zu Ende. Rudolf hatte das Haus verlassen.