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Oft erwachte Chiffon in seinem bescheidenen Hotelzimmer tief in der Nacht von seinem alten Hungerschmerz. Vielleicht hatte er kurz vor dem Einschlafen zuviel an seinen Feind Rudolf gedacht und sich, törichterweise, wie er selbst einsah, vorgestellt, daß dieser durch eine Fügung des Himmels wieder freigekommen sei. Aber er überzeugte sich selbst mit allen Vernunftgründen, daß solch ein Wunder des Himmels unmöglich sei, und dies beruhigte ihn etwas.
Er wußte, daß auch ein Bissen trockenes Brot seine Schmerzen etwas lindern konnte. Er stand leise auf und holte sich aus einer Tischlade, die knarrte, eine alte, harte, beintrockene Brotrinde, legte sich nieder und bemühte sich, sie möglichst geräuschlos zu kauen. Er wollte Vera, die in der letzten Zeit etwas verfallen aussah, nicht wecken. Aber sie hatte nicht geschlafen. Sie kam zu ihm, streichelte seine Haare, sie fuhr ihm – eine Zärtlichkeit, die er noch nicht an ihr kannte – über die Augenlider, sie holte ihm, bloßfüßig über den Teppich huschend, ein Glas Wasser, damit er die Rinde besser hinunterbringe, sie fegte ihm im Dunkeln die Brotkrümelchen von dem Kragen des Pyjamas fort – alles zart und sanft, aber ohne ein Wort –, und als er etwas sagen wollte, hielt sie ihm ihr weiches, duftendes, mit vielen Ringen besetztes Händchen an die Lippen.
Plötzlich, als er in seinem Glück – auch sein Magen hatte sich beruhigt und alles fügte sich ihm zum Besten – wieder einschlafen wollte, hörte er sie etwas vor sich hin murmeln.
Er setzte sich sofort auf und sagte, in der Annahme, sie hätte gefragt, ob es ihm besser ginge: »Ja, ein wenig, und es wird immer besser, wenn du nur bei mir bist.«
Nun richtete auch sie sich auf den Kissen hoch.
Sein Auge hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte gut den Ausdruck ihrer großen, jetzt lackschwarzen Augen erkennen und die etwas schärfer gewordenen Linien um ihren kleinen herzförmigen, nun ohne Schminke sehr blassen Mund.
Sie flüsterte: »Du, sag ja oder nein!«
»Warum soll ich das sagen? Veralein, warum? Kindlein, warum?« fragte er lächelnd.
»Sag ja oder nein«, wiederholte sie, so ernst, wie er sie nur einmal gesehen hatte, vor einigen Tagen, als Rudolf den Wein bitter gefunden hatte – und damals, am Kiosk.
»Also gut. Ich gehorche: Ja oder nein«, versuchte er zu scherzen.
»Nein, nicht so«, sagte sie, legte noch einmal die Hand auf seinen Mund, ließ sie aber dann hinabgleiten und drückte sie auf die Gegend rings um sein Herz, dann über dem Magen. Und jetzt preßte sie so stark, daß er von neuem nagende Schmerzen zu empfinden begann: »Nur eines davon sollst du sagen, Manfred! Entweder ja oder nein.«
»Aber dann muß ich doch vorher wissen, Dummchen, worauf sich dieses Ja oder Nein bezieht! Auf welche Frage soll ich dir denn antworten? Betrifft es dich oder ...«
»Gar kein oder, das soll dich gar nichts angehen«, sagte sie und drückte noch fester, so daß ihn ein schneidender Schmerz durchzuckte.
»Laß! Du tust mir weh! Liebling! Jetzt müssen wir schlafen. Bist du denn nicht müde? Ude? Äby uß afen ehen. Anfred auch lafen, ät achts. Itternacht!«
»Sprich nicht diese dumme Babysprache! Jetzt ist es sehr wichtig. Ja oder nein?« Sie hatte die Hand von seinem Leib fortgenommen, hatte mit beiden Händen in seine Haare gefaßt und zog so sein Gesicht nahe an sich heran. Er konnte sich nicht wehren.
»Nein!« sagte er.
Sie zerrte sein Gesicht unruhig noch näher an sich heran. Ihre Augen waren über den seinen, und er fühlte ihren lauen reinen Atem über seine hageren Wangen streichen. Sie öffnete ihren Mund, er sah ihre niedlichen, blitzend weißen Zähne. »Lügst du auch nicht?« flüsterte sie – sie sah ihn lange an –, »Manfred, lügst du jetzt nicht?«
Ohne es zu wollen, schloß er die Augen. Er konnte ihren Blick wie er da über ihm in der Dunkelheit schimmerte, nicht ertragen. »Also gut, wenn du es unbedingt willst: Ja!« sagte er und dann nochmals »ja!«
»Also ja?« fragte sie nach einer langen Pause. Als er immer noch schwieg, faßte sie seinen Kopf, aber nicht mehr bei den Haaren, und legte ihn, als wäre es der Kopf eines Toten, zart auf seine Kissen zurück. Sie waren noch warm, noch feucht von seinem Schweiß. Die alten Schmerzen wühlten in seinem Innern. Trotzdem schlief er ein ...
Da die Hitze in der Stadt um diese Zeit fast unerträglich geworden war und Vera immer elender auszusehen begann, entschloß er sich, einen ihrer Ringe zu versetzen – denn er hatte schon die Hoffnung aufgegeben, von Steffie Geld zu erhalten –, um mit seiner geliebten kleinen Frau nach einem bei Prag an Wasser und Wald gelegenen, kleinen Ort verreisen zu können, dessen farbenprächtigen Prospekt er im Hotel gefunden hatte.
Als er an der Portierloge vorbeikam und sich an dem Schalter in das Adreßbuch der Stadt vertiefte, um die Adresse eines Versatzamtes herauszufinden, sagte man ihm, daß das Adreßbuch ganz veraltet sei. Er hätte nach einem »anständigen« Versatzamt fragen können, aber es war ihm zu peinlich. Lieber hätte er alles andere versucht, als daß er das Hotelpersonal mit seinen Geldnöten bekannt gemacht hätte. Und so sicher er sich auch fühlte, so hielt er es doch für sehr überflüssig, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Seine Wertsachen aber »schwarz«, d. h. an fliegende Händler am Kaffeehaustische loszuschlagen, sollte der allerletzte Ausweg bleiben, denn er wußte aus eigener Erfahrung, wie es dabei zuging. So unternahm er, wieder von bohrenden Schmerzen in seinem Magen gepeinigt, noch einen Versuch beim Poste-restante-Amt, und auf einmal kam er sich wieder wie ein Glückspilz vor, denn gerade heute morgen war etwas gekommen. »Steffie, du guter Kamerad, du verläßt mich nicht.« Drei Fünfzigmarkscheine in einem einfachen Brief – und kein Wort dazu. Auch dies trug zu seinem Glücksgefühl bei. Er fand es von seinem Freund Steffie sehr klug, keine großen Geldbeträge und vor allem keine geschwätzigen Erklärungen einem einfachen Briefe anzuvertrauen, und bei der Behebung einer Postanweisung oder eines Einschreibbriefes hätte er von einer seiner Legitimationen Gebrauch machen müssen, was er sich ebenfalls für die äußerste Not aufbewahrte, die jetzt glücklicherweise ganz in weite Ferne gerückt war.
Selig kam er mit Blumen und Bonbons daheim an, und als er den Ring seinem geliebten Kind Vera an den Finger steckte, entsann er sich des Kinderorakels von gestern nacht, ja oder nein, bei dem er sich eigentlich gar nichts gedacht hatte. Nun aber hatte sich das »Ja« bestätigt, man war von den schwersten Sorgen befreit.
Vera sah die Bonbons erstaunt an. Zuerst dachte sie, auch der Ring sei ein Geschenk. Sie hatte nicht einmal gemerkt, daß er verschwunden war, er hatte ihr nicht gefehlt, und auch jetzt fragte sie nicht. Sie, die noch in der letzten Zeit daheim stundenlang mit ihm oder auch für sich allein in ihrer Babysprache oder in weisen altklugen Redensarten vor sich hin geschwätzt hatte, war jetzt sehr schweigsam geworden. Wo war sie mit ihren Gedanken? Er hatte sich das Rauchen abgewöhnt, und jetzt war sie es, die eine Zigarette an der anderen anzündete. Sie hatte in der Aschenschale neben den Zigarettenstummeln (plötzlich entsann er sich wieder des Zigarettenstummels, den ihm Rudolf unlängst in der Unglücksnacht zwischen Kragen und Hals geworfen hatte) eine Menge winziger Papierschnitzel gesammelt. Zu lesen war nichts. Aber auf der Löschpapierunterlage entzifferte er die Adresse ihrer Mutter in Spiegelschrift. An Rudolf oder an seine Familie schien sie nicht geschrieben zu haben, wenigstens konnte er diese Namen nicht auf dem Löschpapier entziffern. Sie folgte ihm genau mit ihren großen, blaugrünen, tief umränderten Augen.
Sie begannen die Koffer zu packen. Weil sie von der Hitze sehr erschöpft war, nahm er ihr bald die Arbeit ab. Zuletzt, als auch er schon etwas ermüdet war, fielen ihm seine Taschentücher in die Hände, es lagen die einfachen Herrentaschentücher neben den Kavalierstaschentüchern, alles war sauber und sicherlich vollzählig. Es schienen ihm sogar mehr zu sein als sonst. Obwohl sich etwas in ihm dagegen wehrte, sah er sie genauer durch, an einem bestimmten solchen Tuche lag ihm besonders, es war ein Andenken an ein bestimmtes grauhaariges, nein, dunkelhaariges »Kind« von sehr gepflegtem Äußeren, mit rosigen Marzipanfingern, er vergaß es nicht. Man hatte damit Ordnung gemacht, mit diesem kostbaren Tüchelchen, hatte sauber Staub gewischt, die Spuren, die Abdrücke der Finger auf einer glatten, staubbedeckten Tischplatte fortgebracht, es hatte gute Dienste geleistet, er hatte es nachher immer treu im verschlossenen Schrank aufbewahrt. Er suchte es, fand es aber nicht.
Zuerst wollte er sich damit beruhigen, es sei der etwas unordentlichen Vera unter ihre eigenen Taschentücher geraten. Er suchte hier nach – und da waren Wunderwerke aus hauchdünnem Seidenbatist, mit breitem Rand von schneeweißer Stickerei, und andere Tücher, klein wie die Hand, mit bunten Pariser Mustern, aber auch hier war es nicht zu finden.
Er sah Vera an. Niemals war eines von ihren Wäschestücken in Verlust geraten, denn beide, Vera ebenso wie er, hatten eine Leidenschaft für schöne Wäsche. Er blickte immer noch Vera an, Vera, bis an die Haarwurzeln errötend, sah ihn an. Er wußte, was es mit dem Tuch für eine Bewandtnis hatte. Sie wußte, wohin es gekommen war. Er begann zu zittern, in seinem Halse würgte es, in seinem Magen meldete sich der alte bohrende Schmerz. Aber er wußte, der »Himmel« war immer bei den Schlauen, er war bei ihm, auf seiner Seite. Schließlich kam er auf den Gedanken, das unselige Kavalierstaschentuch könne sich zufallsweise in der schmutzigen Wäsche befinden, er bückte sich, um das Bündel aus dem untersten Fach des großen Schrankes hervorzuholen. Da sprang sie auf ihn zu, riß ihm das Bündelchen aus der Hand und zischte: »Laß!« Er ließ ab. Schließlich beruhigte er sich damit, daß es unzählige solcher Tücher gab, daß es vor allem kein Monogramm getragen habe und daß auch mit dem schärfsten Mikroskop und auch mit den Luchsaugen eines Gerichtsarztes wie Konrad sich keine Spur mehr an dem Tuch entdecken ließe, selbst wenn es der Polizei in der Wohnung in den »Schwedengängen« in die Hände gefallen sein sollte.
Schweigend und hastige Blicke auf ihn werfend, aus denen halb Zärtlichkeit, halb Schuldbewußtsein sprach, und mit großem Eifer hatte jetzt Vera das Packen des Koffers übernommen. Am nächsten Morgen reisten sie, ohne noch einmal von dem Kinderorakel oder von dem Schweizer Kavalierstaschentuch gesprochen zu haben, nach dem kleinen Ort ab.
Es bestand nur eine einzige, etwas unbequeme Autobusverbindung dorthin, aber der Ort war reizend. Das Hotel war zwar fast menschenleer, wenigstens an Wochentagen – aber mit großem Luxus ausgestattet, sehr billig. Die Landschaft war schön. Das Essen war herrlich, und niemand fragte nach ihren Papieren. Ihre Fenster gingen auf eine kreisrunde Terrasse mit einer Tanzplatte hinaus, die auf Betonstützen über einem kleinen Gewässer errichtet war.
Der See, halbmondförmig mit zahlreichen Buchten, war rings von hohen Tannenwäldern umgeben, ein einziges Fischerboot war ganz entfernt am Horizont zu sehen, dort, wo dieser See sich an einen anderen anschloß.
Sie saßen auf der Terrasse nebeneinander, sie nahm seinen Arm und schmiegte sich an seine magere Schulter. Sie erschien ihm jetzt, seit den sonderbaren Vorgängen der letzten Tage, noch bezaubernder. Je weniger sie mit ihm sprach, desto inniger schien sie ihn zu verstehen, und so merkwürdig fragend manchmal ihr unruhiger Blick über ihn hinwegging, nachts, in der Stille des menschenleeren Hotels, gab sie sich ihm ungezügelt bis in ihre letzte Faser hin, so daß er in seinem Glück glaubte, es wäre eine andere Vera, die ganz die Erinnerung an die alten Zeiten, an den unseligen Rosenfinger, an den unseligen Rudolf, an die Ermordung des unseligen Polizisten verloren habe. Denn dieser Vera gruselte es nicht vor ihm.
Nur ihr gar zu zartes Wesen machte ihm Angst. Er zitterte um sie. Und was er noch nie getan hatte, er begann ihr ganz zu vertrauen. Jetzt kam ihm manchmal der Gedanke, »richtige« Kinder zu bekommen, ein solides Geschäft mit seinem schönen Anfangskapital (hätte ich es nur über die Grenze!) anzufangen, eine neue Heimat jenseits der deutschen Grenze zu finden.
Die alte sollte auf immer vergessen sein und ebenso alles, was er dort erlebt hatte.
Trotz der großen Ruhe, die in dem nur schwach besetzten Hotel herrschte, konnte Vera neuerdings nur schlecht schlafen. Am Tage blieb sie allen Toilettenkünsten zum Trotz blaß, unter dem aufgelegten Rouge schimmerte es besonders abends grünlichfahl hindurch. Selbst die beste, »kußfeste« Lippenschminke konnte die Lippen nicht so röten, wie sie es wollte, vergebens biß sie sich in die Lippen, fast sofort nachher wurden sie wieder blutleer. Müde schleppte sie sich an Chiffons Seite in den kühlen, weiten Tannenwäldern oder am Seeufer entlang, wo zwischen dichtem Schilf das Wasser bleifarben gleißte, an einzelnen Stellen, weiter im See, silbern schillernd und drüben, am anderen Ufer, von dunkelblauen Schatten gedämpft ...
Sie blieb stehen, sie sah ihn an. Sie hatten einen großen Spaziergang rund um den See geplant, sie hatten sogar gewettet, ob dies möglich sei, da sich ja der See an andere anschließen sollte. Jetzt war sie nach einigen Schritten schon müde. Er zog sein graues Lüsterjackett aus, legte es über das schwellende Moos. Seine arme, blasse, reizende Frau legte sich seufzend hin, die Arme unter dem rotblonden Köpfchen verschränkt, die Arme nackt bis in die Achselhöhlen. Er saß neben ihr, verscheuchte mit seinem grauen Hut die Mücken, die vom Wasser in dichten Schwärmen herüberkamen. Sie hielt die Augen geschlossen, atmete tief und friedlich wie ein Kind. Aber als er sie schon eingeschlafen glaubte, öffnete sie ihren Mund und fragte ihn, ohne die Augen zu öffnen: »Manfred, was wird nur mit allen den Pfändern?« Er hatte jede Frage eher erwartet als diese. Sie fuhr mit monotoner Stimme fort: »Hast du nicht Angst, daß die vielen Leute sich beschweren?«
»Ach, beschweren«, sagte Manfred und zuckte die Achseln, »das sollte dich nicht im Schlafen stören.«
»Aber die Polizei, wenn sie doch hinter uns her sein sollte? Was dann? Wenn sie uns hier finden? Wenn sie dich verhaften und mich auch, was dann? Oder nur dich allein? Was willst du ohne mich beginnen?«
»Ach, du mein kleiner Liebling, schlafe, sage ich dir! Ich bin sicher wie in Abrahams Schoß!«
»Wenn ich das nur glauben könnte!«
»Doch, du kannst das. Ich bin sicher. Die Polizei dort hat Butter auf dem Kopfe. Ich bin und bleibe absolut sicher. Ich weiß zuviel. Ich weiß eben alles! Die haben noch ganz andere gedeckt. Was liegt denen an mir? Ich habe meinen Saldo noch lange nicht voll. Ich kann sogar jederzeit zurück. Wenn nur Steffie ...«
»Jetzt aber lügst du, Manfred!«
»Ich lüge?«
»Können wir zurück? Kann dir nicht auch Rudolf etwas antun? Hast du selbst reine Hände? Ganz reine Hände? Es ist nicht um mich! Es ist nur um dich!«
»Vera, du kannst die Augen öffnen. Sieh mich ganz scharf an, wenn du willst. Frag mich, wenn du willst. Ich werde dir alles sagen, wenn du willst. Nun? Nun, Kind? Kind, Kindlein mein, willst du wirklich alles wissen?«
»Ich kann jetzt oft so jämmerlich schlecht schlafen. Rudolf in seinem Gefängnis wird sicherlich auch schlecht schlafen. Ich habe zuviel Sorge um ihn. Um dich auch, um euch beide.«
»Zu gütig«, sagte Chiffon verletzt. »Hast du ihm vielleicht gar geschrieben?«
»Ich? Nein. Ich schreibe euch beiden nie mehr.«
»Wie meinst du das? Weshalb solltest du mir denn – schreiben? Wir wollen doch immer beieinander bleiben.«
»Ich möchte es auch so sehr gerne! Jetzt ja! Jetzt sehr! Nur ...«
»Soll ich dir also auch Rudolf kommen lassen? Wenn er frei wird, meine ich?«
»Du solltest nicht über solche Sachen scherzen.«
»Und du solltest kein so ernstes Gesicht machen. Das kleidet nur die Großen. Am schönsten bist du, wenn du Babysprache sprichst. Ich liebe dich dann wie mein Kind.«
»Und ich dich wie meinen Vater! Du bist jetzt schöner geworden, wir brauchen dein Haar gar nicht färben zu lassen. Über dem braunen Gesicht sieht es fast wie Silber aus. Und du bist noch so jung. Weißt du, was ich meine?«
»Ja, ich bin jung, und du bist eine alte Dame, Vera?«
»Alt darf ich gar nicht werden. Dabei muß ich bleiben. Wort ist doch Wort, nicht? Ich habe es einmal einem geschworen.«
»Das ist doch alles nur Unsinn. Ich bin nicht dein Vater, und du wirst noch einmal ...«
»Nicht von der Zukunft sprechen! Wir sind ja jetzt so glücklich.
Sag, Manfredlein, bist wenigstens du ganz glücklich? Wenn ja, mußt du nur nicken. So ist es recht. Das gibt mir wieder Ruhe, ich muß nämlich viel Ruhe haben, mußt du wissen. Manchmal denke ich an die komischsten Sachen. Du hast mich doch mal die Glücksgöttin spielen lassen, erinnerst du dich? Da waren die gelben, mageren, abgezehrten Emigrantenweiber im Spielklub, denen habe ich ordentlich Glück gebracht, was? Das war auch wirklich reizend von dir. Wenn ich an so etwas denke, da wird es ganz ruhig in mir. Aber dann muß ich an etwas Entgegengesetztes denken und ...«
»Was soll denn das sein, du großes Kind?«
»Sag nicht immer Kind zu mir, ich höre es nicht gern. An was ich denke? An Rudolf, wie er mir damals bei Rosenfinger mein Mäntelchen aus blau eingefärbtem Stoff mit den Kronenknöpfchen anbrachte, in der Nacht, und geregnet hat es auch. Er kam ohne Atem an das Portal bei Rosenfinger – und sah mich flehend an. Aber ich – und wenn er hundertmal fleht! Hätte ich denn sollen? Sag, Muschelchen, sag!«
»Ist das alles, was dein kleines Herzchen bedrückt?«
Sie nickte, daß die roten Löckchen flogen.
»Dann wollen wir aufstehen und noch ein wenig gehen. Magst du?« Sie nickte noch einmal, noch stärker.
Es waren die friedlichsten Tage, die Chiffon, der unter der Zucht eines ungewöhnlich strengen Vaters und einer sehr klugen, aber auch sehr harten Mutter aufgewachsen war, seit seiner Jugend erlebt hatte. Er blühte jetzt auf, selbst seine alte Magenwunde schien zuzuheilen, und sein Gesicht verlor die Falten. Feurig glänzten seine dunklen Augen unter der hohen, gebräunten Stirn.
Auch seine Frau schien allmählich ihre Ruhe wiedergefunden zu haben. Sie klagte nicht mehr über den schlechten Schlaf. Nur wunderte sich ihr Mann, warum sie von dem wunderbaren Essen, diesen Gedichten auf dem Kochherd, so wenig aß, warum sie so zart und ätherisch wurde. Bei Tisch ließ sie fast alles stehen. Aber wenn sie abends beide von ihren Spaziergängen in ihr Zimmer gekommen waren, wünschte sie, mit den Händchen bettelnd, vor dem Schlafengehen noch etwas Süßes. Da um diese Zeit der winzige Kramladen des Ortes längst geschlossen war, schlich sie selig Hand in Hand mit ihm auf Strümpfen die Hoteltreppe hinab, um in der verlassenen Hotelhalle aus einem Schokoladenautomaten eine kleine Packung Schokolade oder Pfefferminzbonbons zu ziehen, »und noch eine solche und noch eine andere«, und nachher in ihren heißen und immer leidenschaftlicheren Küssen war dann der Geschmack der mit Vanille gewürzten Schokolade oder des herben, aromatischen Pfefferminzes.
Nie hatte er sie tiefer geliebt, niemals hatte er, wie er glaubte, in so reiner Eintracht mit ihr gelebt. In seiner Liebe war die behutsamste Schonung, er hätte sie nur mit den Fingerspitzen berühren, vor jedem Windhauch bewahren mögen. Jetzt war er beinahe fest entschlossen, sein großes Gelübde zu halten. Nur erbat er sich etwas mehr Zeit, der Himmel sollte ihn nicht drängen. Der Himmel war ewig und hatte Zeit. Daher sollte man ihm auch etwas Zeit lassen, ihm ein wenig Glück und Frieden gönnen. Er freute sich über jeden Tag. So schön hatte er sich das Leben nie vorgestellt. Sein Veralein schmiegte sich so dankbar, so hingebend eng an ihn, daß sie sich eines Abends beide darüber wunderten, wie sie bis in die ersten Jahre ihrer Ehe vor ihm hatte – Angst empfinden und in ihren Anfällen die Nachbarn aus dem Schlaf hatte wecken können. »Das war gar nicht ich«, hauchte sie, »es ar ein öses Ind, ein ummes!« Das einzige, was ihm noch Sorge machte, war das Ausbleiben jeder Nachricht (Geld! Geld!) von Steffie – und der immer noch schlecht bleibende Appetit seiner geliebten kleinen Frau.
Eines Abends aber bat sie ihn mit gesenkten Augenlidern, deren lange Wimpern auf den immer noch fahlen Augenrändern spielten, er möge in das anliegende Zimmer übersiedeln.
»Ja, warum denn? Was habe ich dir getan?«
»Du? Nur Gutes. Aber du störst mich doch beim Einschlafen.«
»Das höre ich zum erstenmal. Ich dachte, du schläfst jetzt wie ein Musterkind! Laß mich doch hier! Ich habe dich doch noch nie gestört. Was ist dir denn?«
»Darf ich dich denn um nichts bitten?«
»Als ob ich dir schon je etwas abgeschlagen hätte!«
»Doch hast du das«, sagte sie und setzte sich im Bette so rasch auf, daß das Seidenbändchen von der Schulter ihres Nachthemdes hinabschlüpfte.
»Ich dir etwas abgeschlagen?« fragte er flüsternd, mit einem Blick auf ihre zarte, teerosenfarbene, sehr dünn gewordene Schulter.
»Doch! Erinnerst du dich nicht? Das Rouge!«
»Welches Rouge?« fragte er erstaunt.
»Das Kokain! Das nannten wir doch Rouge, weil es immer ein rotes Mäntelchen trug. Nein? Wie? Hast du schon vergessen?«
»Aber das war doch nur zu deinem Wohl. Du weißt ohnehin nicht, welches riesige Glück du bei dem Höllenzeug gehabt hast. Riesenglück! Riesenglück! Welcher Teufel hat dir das nur eingegeben?! Zum Glück aber wirkt es doch nicht bei allen! Baby, Kind, du bist ja so dumm – und so ... Danke Gott! Du weißt nicht, was es ist . . . Sonst ... Was wäre aus dir geworden!«
»Ach, Manfred, nein, sieh, um mich ist es nicht schade. Warum hat denn er ...? Es ist ...«
»Sprich doch weiter ...«
»Nein, ich möchte lieber nicht! Laß mich doch heute nacht allein hier schlafen. Hast du denn Angst? Horch, höre, wie furchtbar ruhig es ist. Wer soll mich dir denn entführen? Ich bin nicht mehr hübsch, ich bin ein Gerippe nur noch, ein Erippe. Ich bleibe euch doch treu.«
»Euch? Was meinst du denn immer damit, Liebling?«
»Nur dich! Man sagt doch auch: ›Euch dien' ich, Euch auch lieb' ich, mein teurer Gebieter! ‹ Bitte, tu mir den Gefallen. Dann wache ich morgen wieder ganz unbekümmert auf, und wir fahren in dem komischen alten Boot aufs Wasser hinaus, und ich lehre dich etwas, willst du?«
»Was soll das sein?«
»Ach, ich kann doch nichts. Nur Babysprache und versalzene Suppe machen. Einmal hab' ich sogar ein kleines Händchen voll Salz in den Kaffee geschüttet, au, was hast du für eine Grimasse gezogen? Hast du mir verziehen? Bitte, verzeih mir alles. Gib mir dein großes Ehrenwort, daß alles quitt ist, du bist mein liebster Mann, ja? Nur heute nacht laß mich allein. Morgen ist alles wieder gut. Und einen lieben Kuß zum Abschied noch.«
Spät in der Nacht erwachte Chiffon. Ihm war, als hätte Vera seinen Namen gerufen. Er warf den Bademantel über und pochte an die Verbindungstür. Niemand öffnete. Der schwache Lichtschimmer, der durch die Türritzen gekommen war, erlosch. Plötzlich mußte sich Chiffon der Szenen entsinnen, die sich zu seinem Entsetzen damals abgespielt hatten, als vor Jahr und Tag die Anwohner des Klubs Hera, durch Veras Schreien nachts erwacht, die Treppen hinabgelaufen waren, durcheinandergeschrien und an seiner Tür gepocht hatten. Aber er und Vera hatten, Hand in Hand, eng an die Tür gepreßt, dagestanden und hatten nicht geöffnet.
Er pochte noch einmal, und nach einer Weile hörte er, wie seine Frau aufstand und im Dunkeln nach der Tür tappte und ihm öffnete. Er trat ein, während sie zurückschlüpfte. Er machte Licht. Sie saß am Bettrand, die schönen, langen, schlanken Beine fast nackt. Sie sahen einander an. Er wartete. »Hast du mich gerufen? Um Himmels willen, was hast du denn? Was ist mit dir? Sprich doch!!« Sie öffnete einigemal ihre Lippen, aber sie sprach nichts. Dann fuhr sie ihm mit ihren Fingerchen durch die Haare. Er setzte sich neben sie an den Bettrand, streichelte Vera, liebkoste ihre Schulter.
Das Licht der kleinen Nachttischlampe brach sich auf ihren spiegelglatten, blaßrot glänzenden, schön geschnittenen Zehennägeln. Plötzlich verzog sie ihr abgemagertes Gesichtchen zu einer ernsten, altklugen Grimasse, sie faßte nach dem roten, in Gold gefaßten Lippenstift (auch er aus der alten Pfandleihe stammend) und begann auf ihrem runden, elfenbeinfarbenen rechten Knie mit dem Lippenstift einige Linien und Flecken hinzuzeichnen, als wolle sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes ablenken. Denn er hatte eben etwas Merkwürdiges unter dem Kissen hervorschimmern sehen, fingerdick, zylindrisch, vielleicht ein Badethermometer? Sie hatte sich beklagt, daß die Bäder immer entweder zu heiß oder zu kalt waren. Aber was sollte dies jetzt hier unter dem Kopfkissen? Er hätte es gern aus der Nähe gesehen, aber sie hatte es, dabei eifrig weitermalend und das Zünglein hervorstreckend, mit ihrem Ellbogen tiefer in die Kissen hineingedrückt. Und jetzt hatte sie mit ihrer süßesten Stimme und in der von ihm jetzt so sehr geliebten Babysprache, in ihrem Lyzeumspanisch, das ihn in letzter Zeit lebhaft an die noch nicht ganz aufgeblühte, jungfräuliche Vera der Rosenfingerzeit erinnerte, zu schwatzen begonnen.
»Uck al er«, flüsterte sie ihm ins Ohr, ihn dabei mit ihren seidenweichen, schimmernden Locken wie unabsichtlich liebkosend, um dann ihre wie bei einem Kätzchen runde, weiche Stirn an seinem Halse zu reiben, dort, wo sich die schon lange zugeheilten Schrammen von Rudolfs Zauberkunststückchen im Jiu-Jitsu befunden hatten. »Kannst du das erkennen? Ist das schön? Ön?« fragte sie und zeigte auf ihr Knie, wo sie in roter Farbe mit dem Lippenstift ein Menschengesicht aufgezeichnet hatte, das bei den Bewegungen des Knies die lustigsten Grimassen schnitt. »Sieh doch nur«, rief sie begeistert, »mach ich so, ist er lustig, ach ich o, ist er raurig. Urchtbar raurig! Urchtbar!«
»Und wer soll das sein?« fragte er, immer wieder durch ihren unschuldsvollen Reiz bezaubert, das Achselbändchen des Nachthemdes zwischen den Fingern. Auf dem Nachtkästchen tickte eine in Silber gefaßte Weckeruhr (alles aus dem großen Schatz), jetzt war es zwei Uhr. Er hätte immer so bei ihr bleiben mögen, das Achselbändchen zwischen den Fingern, den Blick auf ihrer reinen, rosigen, unberührten Brust ...
»Sieh doch nicht dorthin, Bösewicht, hierher mußt du sehen«, sagte sie und zeigte auf das Knie. »Ist wohl doch nicht schön?« »Herrlich! Kind, das hast du wunderbar gemacht, Vera«, sagte er mit schonungsvollem, gütigem Lächeln, »aber noch besser hättest du es gemacht, wenn du geschlafen hättest.«
»Ach, Unsinn! Ich schlafe ja dann noch so lange. Ich mache noch eine Zeichnung. Darf ich? Lieber alter Vater Chiffon, darf ich?« Sie küßte ihn mitten in das Ohr, dann machte sie sich daran, eine Stange Schokolade unter den vielen Schmucksachen aus dem Nachtkästchen hervorzuholen, sie leckte an ihr und abwechselnd küßte sie ihn, wobei er den süßen, vanillegetränkten Geschmack der Schokolade spürte, und abwechselnd zeichnete sie mit der feuchten Schokolade ein Gesicht auf das andere Knie. »Der eine bist du, und der andere ist er. Rudolf, sei lieb! Manfred, sei auch lieb. Sofort! Vertragt euch! Ihr beiden Männer, Vera sagt, ihr sollt euch versöhnen! Gebt euch einen Kuß. Einen üßen Uß! Üßes Ummchen, nell! Chiffon schenkt dir neue Manschettenknöpfe. – Ach! Seht mich nicht beide auf einmal so bitterböse an, ich habe doch nur euch beide geliebt. Warum ist das so schlimm ...«
»Aber das ist gar nicht schlimm? ...«
»Ja, du hast aber das Blut am Kiosk nicht gesehen«, sagte sie altklug wie ein Kind, das einen Erwachsenen belehrt, und zündete sich flink eine Zigarette an, »das hast du eben nicht gesehen, und dann – jetzt habe ich dich auch noch mitten in der Nacht geweckt. Jetzt seid ihr beide böse, der Rudolf hier verflucht mich in seinem schrecklichen Gefängnis, und du ...«
»Ich werde dir immer gut sein«, sagte er leise. »Du mußt mir auch vieles verzeihen.«
»Ach, wir wollen doch lachen, wir wollen nicht weinen, as ist indisch, inder ürfen icht indisch ein! Ürfen icht!«
»Nein!«
»Also gut! Nun, geh schlafen, Herzensmann! Ich schlafe auch. Es ist doch furchtbar spät.«
»Soll ich nicht doch bei dir bleiben? Ich werde mucksmäuschenstill sein, ich lege mich auf die Couch, du hörst mich nicht, ich verspreche es dir.«
»Bitte, Manfred, versprich nichts! Ich bitte dich doch so! Gehe bitte jetzt und wecke mich morgen, bitte ja?«
»Gut also. Morgens?«
»Nein.«
»Um Mittag? Ittag?« auch er versuchte sich im Lyzeumspanisch, als wäre er durch die unsinnige Sprache inniger vertraut mit ihr. Vera schüttelte den Kopf, den sie schon tief in die Kissen vergraben hatte, und zog an der Zigarette, so daß diese aufleuchtete. »Um Mitternacht? Itternacht?«
»Ja, um Itternacht!« sagte sie lachend, ihre reizenden, bläulichweißen, perlartigen Zähnchen entblößend, zwischen denen sie aber doch noch die Zigarette festhielt. Er ging. Noch an der Tür wandte er sich um.
Vera, die Fingerchen an der Nachttischlampe, um sie auszulöschen, winkte ihn mit der andern Hand zu sich heran, und während sie das Licht verlöschte, umarmte sie ihn fest, drückte die warmen, nach Tabak und auch nach Schokolade schmeckenden Lippen ganz stark und unbeweglich, viele Minuten lang, an seinen Mund, dann ließ sie ihn fortgehen, hielt ihm den Mund zu. Er sollte nicht reden. »Eb ohl, Äby«, flüsterte sie ihm zum Abschied zu, und als ob das für ihn nicht verständlich sein könnte, wiederholte sie, deutlich und Silbe für Silbe klar betonend: »Leb wohl, Baby!« Er schloß leise die Tür.
Er war sehr müde. Vom Wasser kam über die Balkontür die schwere, feuchte Luft des Sees. Im nahen Schilf regten sich die Vögel. Der große, volle Mond ging bald hinter tiefgrauem Gewölk unter, ein leichter Wind hatte sich erhoben, und auf dem zart gekräuselten Wasser zeigte sich der erste Widerschein des beginnenden Morgens, und die Betonstützen, auf denen die Balkonterrassen und die Tanzplatte auf den See hinausgebaut waren, begannen sich allmählich in dem heller werdenden Wasser abzuzeichnen. Er begab sich in sein inzwischen ganz kalt gewordenes Bett, und in dem Maße, als er es erwärmte, empfand er ein Gefühl des Friedens, des Zuhauseseins, der Ruhe, des Mit-der-Welt-Einverstandenseins, das er noch nie gekannt hatte. Jetzt vertraute er ganz seiner geliebten kleinen Frau und seinem Glück.
Am nächsten Morgen versuchte er, leise an ihr Bett trippelnd und sie zart anrufend, vergebens, seine Frau zu erwecken. Aber er schöpfte noch keinen Verdacht. Sie hatte die Tür nicht zugeriegelt. Was sollte ihr inzwischen zugestoßen sein? Jetzt beruhigte er sich. Jetzt erst sollte der schönste Teil ihrer Ehe, ihre richtige Herzensehe beginnen! Tief schlafend lag sie da, sie schnarchte sogar etwas, oder man konnte es ein feines Röcheln nennen. Aber ihr Gesicht schien aufgeblüht, und er hütete sich wohl, sie aus dem kostbaren Schlafe aufzuwecken.