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XXII

Die Welt ging ihres Wegs. Ruhig, heiter, geschäftig, als wäre nichts geschehen, als schwämme nirgends auf dem Weltmeer ein verlorenes Glück, das mit jeder Stunde, jeder Minute weiter in die Ferne sank, als kauere nirgends im Winkel ein liegen gebliebenes Menschenkind, das aus umflorten Augen ratlos vor sich niederstarrt.

Frau Laue tippte ihre Lampenschirme … die Bratkartoffeln schmirgelten in der fettblanken Pfanne … die Lampe des Flurverschlags blakte … Und der Armeleutsgeruch verteilte seine Gaben an jeden, der in sein Reich geriet.

Es war kein Herz-aus-dem-Leibe-weinen wie damals nach der Verstoßung. Kein stumpfes In-sich-zusammensinken. Kein mit dem Schicksal haderndes Verzweifeln.

Nur das Gefühl einer grauen, endlos sich streckenden Leere war's, – unterbrochen freilich vielemal am Tage von grellen, fast tierischen Aufschreien der Sehnsucht, – ein zages Sich-bescheiden, das Bewußtsein einer unentrinnbaren Kerkerhaft, eines angstvollen Hinabgleitens in dunkle Lebenstiefen, in ein dunkles Sterben ohne Willen, ohne Würde, ohne Kraft.

Zwischen dem Heute und der Zukunft, der Zukunft, die von allen Gassen winkte, stand vor Lillys tränenlosen Augen hochaufgerichtet das Gitterwerk der Brücke, in dessen Ranken sie nach jener Vorstellung von »Rosmersholm« prüfend die Füße gestemmt hatte. Und wenn sie ins Leere starrte, so sah sie tief unter sich die schwarzen, rotsprenkligen Wasser träge vorüberrollen, hörte die Eisenranken unter ihren kletternden Sohlen leise klirren und singen.

Dieser Singsang wurde stärker, wurde ein Geleitston, der über allem schwebte, was der ereignislose Tag brachte und verschlang.

Er bohrte sich in den Hirnschädel, er hämmerte in den Schläfenadern, er fuhr schmerzend zu allen Poren aus und ein.

Auch einen Text gab es zu seiner armen Melodie.

Der hieß: »Sterben!«

Also sterben!

Was war einfacher als das? Und was war zwingender?

Aber noch nicht heute. Heute noch nicht … Morgen vielleicht. Oder übermorgen.

Irgend etwas konnte doch noch geschehen. Ein Brief konnte ankommen. Oder gar er selber! Oder wenn auch das eine nicht und nicht das andere, – wer mochte ahnen, welch ein Glückswunder das Schicksal für morgen bereithielt?

Also heute noch leben!

Heute noch Stunde an Stunde reihen in immer gleichem trübseligem Spiel! – –

Da ereignete es sich eines Abends, – acht Tage nach Konrads plötzlicher Abreise – daß Frau Laue zu ungewohnter Zeit mit großem Nachdruck in Miene und Haltung die gute Stube betrat.

»Also, Lillychen,« sagte sie. »Auf die Weise geht das nicht weiter … Wenn Sie sich ausweinen möchten, dann würd' ich nichts sagen. Aber so nehmen Sie ja nie im Leben Vernunft an … Für Sie gibt's selbstverständlich bloß eines: Zu Ihrem Herrn Dehnicke zurück … Wenn er einen Schimmer hätte, wie die Dinge hier stehen, würd' er Sie auch schon längst abgeholt haben. Und darum sag' ich Ihnen: Entweder: Sie setzen sich jetzt hin und schreiben ihm einen schönen Brief, oder ich lass' morgen vormittag die ganze Arbeit im Stich und fahr' zu ihm ins Kontor. Auf meine Kosten werd' ich schon kommen.«

Lilly spürte einen heftigen Drang, die Alte zur Tür hinauszujagen, aber sie war zu mutlos geworden, um mehr als in ohnmächtigem Widerwillen sich von ihr abzuwenden.

»Viel Zeit hab' ich nicht!« fuhr Frau Laue fort. »Das Dutzend muß vorm Schlafengehn noch voll werden … Aber auf eins können Sie sich gefaßt machen: Is er morgen um zehne noch nich hier gewesen, dann kommt er spätestens um zwölfe, denn bis dahin hab' ich ihn geholt. Guten Abend, Lillychen.«

In traurigem Hohne lachte sie hinter ihr her. So also sah das Glückswunder aus, das ihr das Schicksal für morgen bereithielt!

Von neuem sich ducken unter schwächliche Übermacht! … Zurückkriechen in das feige Behagen der wohlriechenden Gefangenschaft! … Weitervegetieren zwischen flauen Festen in dumpfigem Halbschlaf, wenn nicht Langeweile und Ekel sie heimlich auf die Straße trieben.

Zu einem Widerstande morgen würden ihr bald die Kräfte fehlen, – das fühlte sie wohl. Richard brauchte sie nur einmal anzusehen mit jenem Hundeblick, der ihr ganz neu an ihm war und der sie beim bloßen Drandenken mit beschämender Weichheit erfüllte. Schon jetzt reckte sich etwas in ihr, das sie zwingen würde, die Arme um des Freundes Hals zu werfen und sich an seiner Schulter auszuweinen.

Um eines so jämmerlichen Ausgangs willen lohnte es sich wahrlich nicht, das Morgen noch einmal abzuwarten.

Darum – sterben – heute noch!

Heute noch!

Wie ein Rausch kam es über sie.

Mit gefalteten Händen jauchzend, weinend lief sie im Zimmer umher.

Eine Heldin wird sie werden gleich Isolden. Eine Märtyrerin ihrer Liebe.

Und das Brückengeländer wartete … Wie würde es wieder zittern und dröhnen, wenn sie die Füße in seine Ranken stemmte!

Der Singsang in ihrem Kopfe wurde so laut, daß sie glaubte, daran vergehen zu müssen. Die Luft war erfüllt mit einem Wirbel von Tönen. Von den Wänden hallte es wieder; – der Lärm der Straße, das große Brausen der Weltstadt, – alles sang: »Sterben – sterben – sterben!«

Sie riß den Hänger vom Leibe und zog sich zum Ausgehen an.

Zuerst wollte sie eines der beiden schlechtsitzenden Kleider wählen, weil sie von Konrad selber stammten, aber sie brachte es nicht übers Herz.

»In Schönheit sterben,« hatte Hedda Gabler gesagt.

»Ach, hätte ich wenigstens sein Bild,« dachte sie, »um zum Abschied in seine Augen sehen zu können!«

Aber nichts als die Briefe besaß sie von ihm – – mit ein paar Gedichten dabei. – Die sollten sie auf dem letzten Gange begleiten.

Sie lagen tief unten in dem Lederkoffer, der immer noch in Frau Laues Kabuse verborgen stand, wiewohl es längst niemand mehr gab, vor dem er verborgen zu werden brauchte.

Als sie die Tiefen durchwühlte, um das kleine Päckchen an sich zu nehmen, fiel ihr unverhoffterweise die alte Notenrolle in die Hand.

Zärtlich besah sie den vergilbten und versteckten Bogen, der die anderen in seinem Innern barg.

Nun war sie ihrem Hohen Liede nicht mehr gram und verachtete es nicht, wie beim Wiederfinden an jenem unglückseligen Morgen, an dem sie ausgezogen war, um das Konrad gegebene Gelöbnis zu brechen.

Nun war es wieder ein lieber, wertvoller Besitz; – kein strenger und segnender Mahner zwar, kein Wundertäter, kein Heiligtum – auch jetzt nur ein altes Überbleibsel, aber ein Überbleibsel, das man küßt und unter Tränen streichelt, weil ein Teil des eigenen Lebens daran klebt.

Und ein Teil des eigenen Blutes auch.

Da saßen die schwarzen Flecke noch immer!

Am Tage der Ausfahrt hatten sie sich eingebrannt. Am Tage des Heimgangs wird das Wasser der Tiefe sie löschen.

Dann glitt ihr Blick über die Rolle hinaus in trübe Fernen zurück.

Ihr war, als lichteten sich Nebel, als würden Tücher fortgezogen. Als sähe sie ihren Weg wie ein scharf umgrenztes Band hinterrücks zu ihren Füßen liegen.

Schwach war sie gewesen. Und dumm. Und nie auf den eigenen Vorteil bedacht … Ein jeder Mann, der in ihr Leben getreten war, hatte mit ihr machen können, was er wollte. Nie hatte sie ihre Seele zugeschlossen, nie die Zähne gezeigt, nie die Macht ihrer Schönheit spielen lassen, – – nur immer dienen wollen und liebhaben und alles zum Guten wenden.

Zum Dank für das alles war sie gehetzt und geschuhriegelt und in den Kot gestoßen worden ihr Leben lang, und selbst der eine, der sie hochgehalten hatte, war schließlich ohne Abschied von dannen gegangen.

»Aber dafür hab' ich auch nie einen gehaßt,« dachte sie, »und hab' mich immer als was Besonderes fühlen dürfen, und was ich auch gelitten hab' und was ich auch verbrochen hab', – es ist mir am Ende wie ein Geschenk vom Himmel gefallen.«

Schien es nicht wahrhaftig, als habe dies Hohe Lied, das nun entwertet, versteckt und verrottet dalag gleich ihrem eigenen Leben, segnend und schuldlösend über allem gewaltet, geradeso wie sie es früher immer geglaubt, wie sie es noch damals in der Stunde seliger Hingabe Konrad vorphantasiert hatte?

»Ja, du sollst mitkommen!« sagte sie. »Du sollst sterben, wenn ich sterbe.«

Und behutsam rollte und umwickelte sie das zerfallende Papier …

Dann fand sie auch die Briefe, las sie noch einmal und dann noch ein paarmal – aber sie verstand nicht, was sie las. – – –


Die Uhr ging auf zwölf, als sie leise die Flurtür hinter sich schloß.

Frau Laue schlief.

Auf den Treppen begegnete ihr niemand. Ungesehen trat sie hinaus.

Seit ihrer Flucht zu Konrad war sie um die Mitternachtszeit nicht mehr allein auf der Straße gewesen.

Die zwei langen, vom Lichte grell getünchten Häuserreihen, – dazwischen einherjagend die spritzenden Bügel der elektrischen Bahnen, – geräuschlose Schattengestalten, – alles war, als sähe sie's zum erstenmal.

Eine dumpfe Furcht kam über sie.

In den Beinen fand sich ein taubes Gefühl, als wären ihr zwei hölzerne Stelzen angeschraubt, auf denen sie vorwärts mußte ohne Zaudern, ohne Ruhe, ob sie wollte oder nicht. Und die Absätze klapperten unaufhaltsam dem Ziele entgegen.

Jedesmal, wenn Einer ihr entgegenkam, fühlte sie den Drang sich zu verstecken, denn sie glaubte, man müsse ihr ansehen, wohin sie ging.

Darum bog sie in dunkle Nebenstraßen, in denen gepflastert wurde und welkende Lindenkronen Tropfen streuten.

An langgestreckten Ziegelbauten, die hinter schwarzen Gartenmauern ungastlich lagerten, an Schuppen und Fabriken vorbei führte der Weg.

Und immer klapperten die Absätze: »Tak – tak – tak.« Es war, als trüge sie einen Schrittzähler bei sich, der jede Verkürzung dieses Ganges gewissenhaft berechnete und festhielt.

Dann begann sie auf weitere Umwege zu sinnen.

Aber sie wies die Versuchung von sich.

»Was du tust, das tue bald,« stand irgendwo geschrieben.

Wenn erst die Füße müde wurden!

Zähne zusammenbeißen und vorwärts!

Das Engelbecken lag schwarz und verlassen. Auf den unsichtbaren Wassern spielten gelbe Lichtchen.

»Hier könnt' ich's bequemer haben,« dachte sie, atemlos vor Beklemmung, und trat näher bis in das Gras der Böschung.

Aber schaudernd wich sie wieder zurück.

Die Brücke dort oben im Nordwesten mußte es sein, – die war ihr vom Schicksal bestimmt.

Bis dorthin währte der Weg noch lange. Wohl eine Stunde währte er.

Belebtere Straßenzüge folgten.

Balllokale, in denen das Dirnentum sich tummelt, sandten die grellen Strahlen ihrer Lampenreihen wie Fangarme in die Nacht. Zustrom von Droschken war da und fröhliches Gekreisch.

Nur weiter – weiter!

Aus einer Kellerkneipe, die ihre Türen geöffnet hielt, quoll ein heißer Dunst, mit Knoblauchgerüchen geschwängert.

Was hatte doch ähnlich gerochen? –

Richtig! Die Brühwürstchen, die von Frau Redlich ihrem Sohne als Henkersmahlzeit mit auf den Weg gegeben worden.

Dicht vor ihr sandte ein armdicker Wasserschlauch seinen reinigenden Strahl quer über die Straße.

Was war doch ähnlich zischend und paffend am Boden entlang geschossen? –

Richtig! So hatte es geklungen, wenn der alte Haberland, die Kupferspritze in der Hand, den Rasen wässerte.

Dann plötzlich schoß es ihr durch den Kopf: »Das ist ja alles nicht wahr! Ich liege im Bette zwischen den Leihbibliothekschränken, und hinter mir blakt die ausgehobene Hängelampe, – und das alles steht in dem Buch, das ich heimlich lese, während Frau Asmussen über ihrer Medizin glücklich entschlafen ist.«

Wachsendes Getöse rief sie ins Leben zurück.

Der Mittelpunkt der Stadt war da, in dem Berlins nimmermüdes Nachtleben seine Wirbel schlägt.

Der Spittelmarkt kam. Die gewaltige Leipziger Straße tat sich auf mit der endlosen Perlenschnur ihrer Lichtkugeln. Wie in silbernem Nebel begraben lag sie da. Wie ein buntes Bild, das eine Schimmelschicht bedeckt. Und die Glimmlichter der Cafés und Nachtkneipen sprenkelten es mit rötlichen Flecken.

Das taube Gefühl in Lillys Beinen verstärkte sich.

Sie ging und fühlte nicht, daß sie ging.

Nur ihren Herzschlag fühlte sie, der wie das Rucken einer Mühle den ganzen Körper erschütterte.

In der Friedrichstraße fluteten Menschenmassen wie am Tage.

Jagdfrohe junge Männer saßen irgend einer lachenden Beute auf den Hacken.

In den Seidenstrümpfen der trippelnden Dämchen spiegelte sich das Lampenlicht.

»Wer erst in dieser Welt untergetaucht ist,« dachte Lilly mit einem schauernden Neide, »den ficht kein Ehrgefühl und kein Sterbenwollen mehr an.«

Ach! Jenseits dieses gleißenden Wirrwarrs kamen wieder Dunkel und Schweigen, in deren Hut man sterben kann, so viel man will.

Und unaufhaltsam gingen die Absätze: »Tak – tak – tak.« Man hörte sie selbst in all dem Lärm.

»Könnt' ich nicht irgendwo in ein Café gehn?« fragte sie sich. »Wenn mich wer sieht, was schadet das noch? – Und ich bekäm' eine lumpige Viertelstunde.«

Lichter – Spiegel – Polster – flimmerndes Rauchblau – – ein Klingen von Kristall – ein Prickeln in verschmachtender Kehle!

Einmal – einmal noch! Nicht eine viertel – eine ganze Stunde – mehr noch, wenn sie wollte – wurde ihr damit geschenkt, eine arme, kleine, niemandem schadenbringende Lebenszeit.

Aber sie wußte keine Rechtfertigung für diese Feigheit und wollte sich auf ihrem letzten Gange nicht vor sich schämen müssen.

Drum weiter – nur weiter!

Das lachende Gewühl der Kranzlerecke wich zurück, – – die dolchscharfen Lichter stachen nicht mehr.

Lilly wußte nun kaum noch, wo sie ging.

Wahrscheinlich war sie in eine der stilleren Querstraßen geraten, die nach dem Nordwesten führen.

Die Breite des leeren Fahrdamms war getüpfelt mit spiegelnden Lachen … Ein herbstlicher Regenwind fegte an den Häuserreihen entlang … In dem schwarzen Fensterglas hing leblos der Widerschein des kalten Laternenlichts … Leblos, erstorben schien alles ringsum. Nur hie und da glitt eine Nachtgestalt dahin und strichen die Katzen von Dunkel zu Dunkel.

Fröstelnd drückte Lilly die Notenrolle fester unter den Arm.

Aus dem Schaufenster eines Blumenladens, dessen Rollläden nicht herabgelassen waren, reckten Lorbeerbäume und Zypressen ihre Stachelkronen denen, die sich etwa spiegeln wollten, schreckhaft entgegen.

In ihrem feierlichen Halbkreis stand mit milchigem Leuchten eine Kaiserbüste.

Was hatte doch ähnlich geleuchtet?

Richtig! Die Klytia, die auf der stolzen Vordertreppe des Liebert- und Dehnickeschen Hauses lächelnd vor sich niederträumte.

Nun wird Lilly Czepanek die grünumwölbten Stufen nie mehr hinansteigen. Als Büßerin nicht – und nicht als Triumphierende … Sie hat einen besseren Weg gewählt, einen, der sie schneller zum großen Ziele führt.

Eine Brücke kam.

Rasch hinüber!

Jene andere, deren Eisengeranke so lockende Wiegenlieder sang, lag weiter im Leeren, dunkler in Schweigen vergraben.

»Sie haben zu viel Liebe in sich,« hatte einmal Einer gesagt. »Von allen drei Sorten: Herzens-, Sinnen- und Mitleidsliebe. Eine muß jeder Mensch haben, zwei sind gefährlich, alle drei führen in den Untergang.«

Wer war das doch gewesen?

Richtig! Ihre erste Flamme, jener arme, schwindsüchtige Kunstgeschichtslehrer, den sie mit Rosalie Katz zusammen nach dem gelobten Lande hinbefördert hatte, jenem Lande, in das sie selber nie gekommen war.

Von blauem Olivenrauch hatte er erzählt – und dem schwarzen Sciroccomeer – und leuchtenden Asphodeloswiesen.

»Was mögen das wohl für Wiesen sein – Asphodeloswiesen?«

Wie seltsam klang das fremde Wort und wie verheißungsvoll!

Aber die Absätze machten: »Tak, tak,« und der Singsang des Geländers dröhnte dazwischen.

Ein Herr redete sie an. Ob sie nicht – – –

Sie schüttelte ihn ab wie ein Geschmeiß.

Noch eine andere Warnung hatte sie einmal auf den Weg mitbekommen, in der auch die Ziffer drei genannt worden war.

Von wem doch?

Richtig! Doktor Pieper!

Mit Wortlaut und Tonfall stand der Satz ihr plötzlich im Ohre, als sei er eben erst gesprochen worden: »Vor dreierlei warne ich Sie: keine überflüssigen Blicke wechseln, keine überflüssigen Rechenschaften fordern, keine überflüssigen Geständnisse machen.«

»Hätte ich keine überflüssigen Blicke gewechselt, so hätte ich mein gelobtes Land zu sehen bekommen, hätte ich keine überflüssigen Rechenschaften verlangt, so wäre ich nicht davongejagt worden, hätte ich keine überflüssigen Geständnisse gemacht – – –«

Was dann?

»Konni, Konni,« klagte sie. Ein Sehnsuchtsschauer, der heiß und schmerzend in die Höhe quoll, zwang ihre kreisenden Gedanken nieder.

Taumlig schritt sie weiter.

Neue Straßenzüge verdämmerten im Nebel. – Ein Schmuckrasen schob seine umfriedete Fläche dazwischen.

Was mochten das wohl für Wiesen sein – Asphodeloswiesen?

Und plötzlich war die Brücke da.

Wie der Dieb in der Nacht tauchte sie aus den Finsternissen der weiten, schweigenden Plätze empor, auf denen Tausende von Laternen als lichtarme Fünkchen verglitzerten.

Eine matte Vollmondscheibe hing irgendwo am schwarzen Himmel. Die erleuchtete Uhr eines Bahnhofs war's, dessen Schattenmasse das Dunkel verschlang.

Halb zwei – wiesen die Zeiger.

Wie durch fleckige Schleier hindurch sah Lilly das alles.

Sie war, von Entsetzen gelähmt, gegen die Mauerecke gesunken, um die sie gerade hatte biegen wollen. Das Herz pochte ihr so sehr, daß sie glaubte tot hinfallen zu müssen.

»Ich tu's ja doch nicht,« sagte sie zu sich.

» Doch – ich tu's,« gab sie zur Antwort.

Sie versuchte auch weiterzugehen – geradeswegs auf die Brücke los, deren Geländer tückisch auf sie wartete, aber die Beine wollten nun gar nicht mehr vorwärts.

Der Singsang in den Ohren schwoll zum Donner … Auf dem dunkeln, menschenleeren Uferplatze stand sie und wußte nicht aus noch ein.

Sie nahm die Notenrolle in beide Hände, riß an ihr und suchte sie zu einem Knäuel zusammenzuballen. Aber nichts daran gab nach. Ihr Hohes Lied war stärker als sie.

Dann mit einem Male begannen die Füße sich wie von selber zu regen und schritten und schritten, ob sie wollte oder nicht, an den Kandelabern vorbei, – dem wartenden Geländer entgegen.

So! Nun hielt sie die Eisenstange des Holms zwischen den Fingern.

Von dem Wasser da unten war nichts weiter zu sehen als ein dunkellehmiger Schimmer. Nicht einmal die Laternen spiegelten sich darin.

Jetzt nur noch ein Sprung, – und alles war getan.

»Ja, ich tu's – ich tu's,« schrie es in ihr.

Aber das Hohe Lied mußte vorauf. Das hinderte sie doch nur beim Hinüberklettern.

Ein Wurf – – ein weißliches Vorübergleiten – – – ein Klatschen dort unten, hart und hell, das wie ein Backenstreich durch alle Glieder drang.

Und wie sie das hörte, da wußte sie gleich, daß sie es niemals tun würde. – –

Nein doch! Lilly Czepanek war keine Heldin. Keine Märtyrerin ihrer Liebe war Lilly Czepanek. Keine Isolde, die im Nicht-mehr-da-sein-wollen die höchste Selbstbejahung sieht.

Sondern nur ein zermürbtes und zerplündertes armes Ding, das seine Tage weiterschleppen wird, so gut es kann.

Zugleich begann sie auch die paar Daseinsmöglichkeiten aufzureihen, die ihr noch übrig blieben.

In das alte Lotterleben zurückkehren wird sie nicht. Dies Eine war klar. Mochte Richards Hundeblick von damals auch wieder aufs neue an ihr herumbetteln!

Alles andere konnte ihr recht sein.

Die Lust am Arbeiten freilich hatte man ihr inzwischen gründlich abgewöhnt. Und ob sie sich noch jemals wiederfinden würde, schien höchst zweifelhaft.

Aber schließlich: irgend etwas würde sich schon bieten, das ihr erlaubte, ehrlich und in Frieden dahinzuleben.

Millionen von Menschen wollen nichts Besseres und nennen es »Glück«! – – –

Noch einen suchenden Blick schickte sie in das träg rollende Wasser hinab, in dem das Hohe Lied soeben verschwunden war.

Dann machte sie sich auf den Rückweg. – – –


Schluß

Im Frühling des folgenden Jahres wurde die Berliner Geschäftswelt durch die Zeitungsnachricht überrascht, daß Herr Richard Dehnicke, der Inhaber der altbekannten Firma Liebert & Dehnicke, Kunstgießerei und Metallwarenfabrik, die in Lebemannskreisen als Schönheit viel genannte Lilly Czepanek geheiratet habe und mit ihr zu vorläufigem Aufenthalt nach Süditalien übergesiedelt sei.

Wer sie kannte, wunderte sich nicht.

Sie sei schon immer ein gefährliches Frauenzimmer gewesen, sagte man.


Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart

 


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