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II

Also: Kilian Czepanek kam nicht wieder.

Natürlich fanden sich sofort wohltätige Freunde, die das längst vorausgesehen hatten, die übrigens nicht verstanden, wie er es so lange hatte aushalten können, er, der gottbegnadete Phantasiemensch mit dem Kainszeichen genialer Unrast auf der gewitterschweren Stirn. Andere nannten ihn einen Lüderjahn und Schmierfink, der unschuldigen Mädchen nachgestiegen wäre und die jungen Männer zum Spielen verführt hätte. Sie priesen Frau Czepanek glücklich, von ihm befreit zu sein, und legten Lilly ans Herz, den unwürdigen Vater aus ihrer Erinnerung zu streichen.

Die schlimmsten von allen aber waren diejenigen, die vorerst gar nichts sagten, sondern Rechnungen entfalteten. Frau Czepanek verkaufte und versetzte alles, was das kleinbürgerliche Wohlleben ihrer Jugend, was freigebige Launen ihres Gatten an blanken Habseligkeiten ihr irgend beschert hatten, doch damit war sie bald am Ende. Entbehrliche Möbel, Kleider und Wäschestücke folgten; da endlich wurden die Gläubiger stiller.

Der Gesangverein, als dessen Leiter Kilian Czepanek vor fünfzehn Jahren berufen worden war und der in dieser Zeit nicht weniger als sechs Ehrenpreise eingeheimst hatte, gab seiner Zufriedenheit mit den Leistungen des verflossenen Kapellmeisters dadurch Ausdruck, daß er die Stelle ein halbes Jahr lang offen hielt und der verlassenen Frau das Gehalt solange in voller Höhe auszahlte.

Aber auch diese Gnadenfrist ging zu Ende. Und nun kamen die bitteren Bettelgänge zu den Honoratioren und Würdenträgern der Stadt, das leidige Klingelziehen und ängstliche Schuheabkratzen vor fremden Türen, das halbstündige Harren in dunklen Hausfluren, das verschämte Niedersitzen auf schmalen Stuhlkanten, das Seufzen und Stammeln und Augenauswischen, das, so aufrichtig es gemeint war, doch bald etwas Heuchlerisch-geschäftsmäßiges bekam und, je mehr es Eindruck machen sollte, desto mehr seinen Eindruck verfehlte.

Nun kamen die Bitten um Arbeit in Läden und Geschäften – überall, wo man Bettwäsche und Hemden und Nachtjacken verfertigt, wo man billige Spitzen an billige Waschkleider nähen läßt, wo man Weißzeug durch Säume und Pässe und Borten und Schnüre belebt. Nun kam das Klappern der Nähmaschine Tage hindurch, Nächte hindurch.

Nun kamen die durchstochenen Finger, die entzündeten Augen, die geschwollenen Knie, die Essigwasserumschläge um die fiebernden Schläfen, die brodelnde Teekanne Morgens um vier, der dreimal gewärmte Süßwasserkaffee mit sogenannten Butterbroten statt des mittäglichen Bratens und der abendlichen Eier – kurz, nun kam das Elend …

Und seltsam, je weiter der Tag in die Ferne rückte, an dem Kilian Czepanek verschwunden war, desto sicherer rechnete die verlassene Frau auf seine Wiederkehr. Das halbe Jahr verstrich; ein anderer Dirigent erschien und forderte zu Vergleichen heraus. Um den Ankömmling zu ärgern, vergnügten sich die Zeitungen ein paar Wochen lang mit ehrenden Anspielungen auf den Verschollenen. Aber auch das ging vorüber. Und nun folgte die große Kirchhofsstille. Höchstens in ein paar Bierstuben und ein paar Mädchenherzen blieb sein Bild noch lebendig.

Frau Czepanek aber, die so lange in verbissener Scham die Lippen aufeinandergepreßt hatte, wenn von ihm die Rede gewesen war, fing an von seiner Heimkehr zu sprechen wie von einer feststehenden und planmäßig vorbereiteten Tatsache.

Ja mehr als das: Sie, der in den eineinhalb Jahrzehnten langsam Jugend, Hübschsein, Schlagfertigkeit und Lachen, alles, was sie ihm einst als Mitgift in die Ehe gebracht hatte, abhanden gekommen war, untergesunken in einer grauen Lache von Selbstvorwürfen und Ängsten um nichts, – sie, die schon lange kein farbiges Band mehr auf der hageren Brust geprobt, keine Haarflechte auf der höher werdenden Stirn geordnet hatte, fing an von neuem eitel zu werden. Wenn sie an der Ladenkasse den kargen Stücklohn eingeheimst hatte, so versäumte sie nie, einen Teil davon in Puder und Schönheitswässern anzulegen. In Augenblicken der Erschöpfung, wenn die Füße nicht länger treten wollten, langte sie rasch ein rotes Pomadestiftchen aus der Tasche und führte es über die schmalen Lippen. Und Morgens gegen acht lief sie stets mit einem frisch gebrannten Kranze kreisrunder Löckchen zwischen Herdfeuer und Nähmaschine einher.

So bereitete sie sich auf den Moment des Wiedersehens vor. Geschmückt und leuchtend gleich einer Braut wollte sie dem Reuigen verzeihend ihre Arme öffnen.

Denn daß er wiederkommen mußte, das war klar. Wo gab es sonst noch ein verstehendes Lächeln wie das ihre, wo die geheime Seelenharmonie, die durch Schweigen tröstet und durch Gebete das Glück herbeizwingt, die in das Gleiten der Rosenkranzperlen träumende Vorbehalte hineinschmuggelt und das ganze Weltall in einen großen Mollakkord der Sehnsucht auflöst? Wo gab es sonst noch eine, die ohne Trotz und ohne Reue mit Leib und Seele diente wie sie, sich nehmen und wegwerfen ließ nach Lust und Laune wie sie?

So war sie ihm einst entgegengetreten, ein junges, ahnungsloses, blond-lachendes Ding. Hatte sich ihm hingegeben ohne zu geizen, ja ohne zu fragen. Nur weil es ihm eben beliebte. Und hatte es kaum einmal als ihr Recht und seine Sühne empfunden, als sie auf Verlangen ihres Vaters, eines braven, kleinen Gerichtsbeamten, – auf Verlangen der halben Stadt übrigens auch, die den Verführer sonst verfemt und aus seiner warmen Stelle hinausgejagt hätte, – vor dem Altar die Seine geworden war.

Glücklicher als jetzt konnte sie nicht werden. Das ahnte sie wohl. Von dem namenlosen Unglück freilich, das kommen mußte, ahnte sie nichts … Sie nahm es hin, ohne zu hadern, sie liebte ihn so sehr, daß sie es als natürlichen Ausgleich für das unnatürliche Geschenk seines Besitzes betrachtete.

Aber wiederkommen würde er trotzdem! Ob er wollte oder nicht, gleichviel! Besaß sie doch ein Pfand, das ihn für alle Zeiten an sie fesselte, das über kurz oder lang ihn zwingen würde, die Schwelle ihrer Wohnung zu überschreiten.

Nicht Lilly! Zwar liebte er sein Kind, liebte es mit einer Zärtlichkeit, die aus Freude an einem Spielzeug müßiger Stunden und ästhetischem Vergnügen über ihre innere und äußere Lieblichkeit seltsam gemischt war, aber für eigentliche Vaterliebe war in diesem Zigeunerherzen, das fühlte sie, kein Platz. Selbst in den Stunden höchster Verlassenheit würde ihm nie der Gedanke gekommen sein, sich in den Armen eines Kindes Trost und Zuspruch zu holen.

Aber ein anderes war in ihrem Besitz geblieben, das ihn umso sicherer festhielt.

Eine Rolle Notenpapier, nicht mehr.

Er hätte sie mit Leichtigkeit in dem Handkoffer unterbringen können, mit dem er damals auf die große Reise gegangen war. Er hatte es auch versucht, aber zu gierig war in jenem entscheidenden Augenblicke sein Verlangen gewesen, glimpflich davon zu kommen, als daß er sich der Wiederkehr der argwöhnischen Frau hätte aussetzen mögen.

Diese Rolle Notenpapier enthielt alles, was ihn in den fünfzehn Jahren der Spießbürgerei mit Vergangenheit und Zukunft verkettet hatte, alles, was von dem Himmelstürmen seiner Jugend, dem Hoffnungstaumel seiner Darbezeit noch übrig war.

Diese Rolle Notenpapier – sie war schmächtig genug – enthielt das Werk seines Lebens, enthielt – das Hohe Lied.

Solange Lilly denken konnte, war von nichts auf der Welt mit ähnlichem Respekt, mit einer so zarten, ehrfürchtigen Scheu gesprochen worden wie von diesem Werke, von dem außer Mama und Lilly niemand eine Note kannte.

Es war etwas noch nie Dagewesenes, Unerhörtes, ein neues Reich des Klanges, der Beginn einer musikalischen Entwicklung, deren Ende sich im Dämmer mystischer Ahnungen verlor.

Die Oper hatte in Wagner einen Gipfelpunkt erreicht, von dem der Weg schnurstracks in den Abgrund wies, die symphonische Dichtung entsprach nicht mehr den modernen Bedürfnissen nach Sinnenfälligkeit, das Lied war durch die Neuerer in ein Häuflein subtiler Kleinwirkungen zersplittert worden … die Kunst der Zukunft gehörte dem Oratorium. Und zwar nicht jener hölzernen Verlegenheitsmusik, die man bisher unter diesem Namen hatte laufen lassen, weil man des Glaubens gewesen war, einer mißverstandenen Kirchlichkeit Zugeständnisse machen zu müssen, sondern – und hier eben setzte die Klangwelt des »Hohen Liedes« ein.

Seit Jahren schon lag die Partitur vollendet da. Aber sie den hahnebüchenen Leistungen der Provinzstadtmusiker anzuvertrauen, wäre Tempelschändung gewesen.

So lag sie also und lag und durchwebte den Tag mit einem milden, geheimnisvollen Lichte, das niemand sah und jeder fühlte. Ließ Strahlenbündel der Hoffnung in ferne Zukunft hinausschießen und erfüllte ein zuckendes Kindesherz so ganz und gar mit Ahnung, Gebet und Liebe, daß es eher stillgestanden hätte, als jener Quelle des Guten und des Hohen zu entsagen, aus der die schaffenden Kräfte des Lebens sich täglich neue Nahrung tranken.

Für Lilly war jene Notenrolle, die, durch zwei Gummistreifen zusammengehalten, in der oberen Schublade des Wäscheschrankes lagerte, eine Art von Hausheiligtum, das den Heimatsräumen Reinheit und Weihe gab.

Die Verehrung der mit krausköpfigen Runen bekritzelten Bogen hatte sie schon in das Dämmerlicht ihrer frühesten Erinnerungen hinüber genommen. Und die Musik, die sie enthielten, war ihr schon früh geläufig.

Papa freilich liebte es nicht, daß man die Motive, die er geschaffen hatte, in der Alltäglichkeit breit trat.

»Singt doch: ›O du lieber Augustin‹ oder ›Nun sei bedankt, mein lieber Schwan‹« pflegte er zu sagen, wenn er eine von ihnen beiden beim träumerischen Summen seiner Arien ertappte. »Die sind tausendmal gut genug für euch.«

Aber seine Ermahnungen wurden unnötig. Mama verlernte allgemach alles, was einem Singsang ähnlich klang, und Lilly zog sich mit ihren Empfindungen mehr und mehr in sich selbst zurück.

Sie hatte sich aus dem Hohen Liede eine Art von Messe zurecht gemacht, die sie, wenn sie sich im Hause allein wußte, vor dem Spiegel zelebrierte. Hierzu umgürtete sie sich mit einem Bettlaken, hing Fenstergardinen über die Schultern, flocht alte Tressen um den Hals und blanke Schuhspangen durch das Haar. Und singend, weinend und jauchzend durchlebte sie mit Kniefällen, Bezauberungstänzen und luftigen Umarmungen noch einmal Sulamiths bräutlichen Sehnsuchtsrausch, wie er in Papas »Hohem Liede« nach drittehalbtausendjährigem Schlummer zu neuem Leben erweckt war …

Das Manuskript dieses Hohen Liedes also hatte Meister Czepanek bei seinem Verschwinden im Hause zurückgelassen. Es wurde der Anker, an den die Hoffnungen der Seinen sich fortan klammerten.

Mochte es vielleicht verständlich sein, daß er, der vagabundierende Böhme, der von seinen eigenen Eltern frühzeitig auf die Straße gestoßen war, Weib und Kind der Not und der Sehnsucht überantwortete, – daß er das Werk seines Lebens, das Schwert, mit dem er sich den Wiedereintritt in die große Welt hatte erkämpfen wollen, mutlos im Stiche ließ, war nackter Widersinn.

Und während in der Dachstube, wohin Frau Czepanek mit ihrer Tochter übergesiedelt war, die Nähmaschine tippte und schnurrte, tagelang, nächtelang, während die Gestalt der verlassenen Frau gänzlich vertrocknete und verkrümmte, und die Schminkschicht, mit der sie sich jung erhielt, auf immer spitzer werdenden Backenknochen lagerte, ruhte als Gewähr künftiger Wiedervereinigung in der Schublade des Wäscheschrankes, der aus dem Bankrott gerettet worden, wunderwirkend durch seine Nähe, – das Hohe Lied.


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