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VI

Die beiden Töchter der Frau Kantor Asmussen waren wieder einmal ausgerückt. Das wußte die ganze Junkerstraße. Und Lilly erfuhr es bereits, als sie kaum noch den halbdunklen, nach Staub und Leder riechenden Raum betreten hatte, wo in fichtenen Gestellen die angeschmuddelten Bände sich bis zur Decke emportürmten.

Frau Kantor Asmussen war eine würdevolle, von der Natur mit freundlicher Wohlbeleibtheit ausgestattete Dame, die Lilly an der Tür ihrer Leihbibliothek empfing und ihr unter Küssen und Tränen erklärte, daß sie sie schon im voraus wie eine leibliche Tochter geliebt habe und daß sie nun, da sie sie von Angesicht zu Angesicht sehe, völlig von ihr bezaubert sei.

»Da sprechen die Menschen von der kalten Fremde,« dachte Lilly, der diese Art des Empfanges sehr wohl gefiel.

»Was sagte ich, wie eine leibliche Tochter? O pfui! viel mehr, viel mehr, viel, viel unendlich mal mehr! Die leiblichen Töchter sind Giftschlangen, an die man seine Liebe nicht wegwerfen darf. Das sind Schmarotzergewächse, die man ausreißen muß, mit allen Wurzeln ausreißen aus der eigenen Brust – ausreißen aus –«

Sie unterbrach sich, denn der stumpfsinnige Kanzlist, der Lilly in einer Droschke begleitet hatte, schob den Reisekorb hinter ihr her über die Schwelle.

Als er sich empfohlen hatte, fuhr Frau Kantor Asmussen fort: »Was meinen Sie, habe ich meine Töchter geliebt oder nicht? – Habe ich ihnen täglich gesagt: Euer Vater ist ein Schuft, ein Lumpenhund, den Gott verdammen möge, oder nicht? – Und was tun sie zum Lohne? – Eines Morgens sind sie fort, – weg, ganz weg – Betten leer – und auf dem Tisch ein Zettel: ›Wir gehen zum Vater. Du schlägst uns zu viel, und die ewige Milchmus ist uns über.‹ … Sehen Sie mich an, liebes Kind! Bin ich nicht die Güte selbst? Sehe ich aus, als ob ich jemand schlagen könnte? Und dazu meine leiblichen Töchter … Aber glauben Sie, daß es zum ersten Male geschieht, daß meine Töchter mich nur einmal vor der ganzen Stadt mit Schmach und Schande überhäuft haben? – Wenn ich Ihnen nun sage, daß es bereits zum dritten Male geschieht – und daß ich sie schon zweimal in Jammer und in Lumpen auf meiner Schwelle liegen gefunden und verzeihend an meine Brust gezogen habe! … Ja, so war es – ja, so ist es, ja, so ist es! – Aber wenn sie es wagen sollten, zum dritten Male wiederzukehren, hier ist ein Staupbesen, sehen Sie hier – an der Tür steht er – da habe ich ihn hingestellt – in dem Augenblick, als ich ihr Verschwinden bemerkt hatte – – und da wird er stehen bleiben, bis ich ihn ergreifen und sie hinausstäupen werde über die Schwelle, auf die Straße hinaus – so – so – so,« und sie fegte mit einer Gebärde unsäglichen Ekels ein unsichtbares Etwas in den Hausflur hinaus, wo sie es voll Verachtung liegen ließ.

»Die arme, arme Frau,« dachte Lilly. »Wie schwer muß sie gelitten haben!« Und sie gelobte sich in ihrem Herzen, der verlassenen Mutter die ungetreuen Kinder nach besten Kräften zu ersetzen.

In diesem Augenblick kam ein junger Mann zur Tür herein, ein Kunde, der sein Leihbibliothekbuch wechseln wollte.

Er bestellte einen Band Zola und sah sich triumphierend nach Lilly um, als ob er sagen wolle: »Sehen Sie, so ein Kerl bin ich.«

Frau Kantor Asmussen schüttelte leise tadelnd den Kopf und holte das geforderte Buch aus einer Reihe hervor. Er ergriff es hastig, ohne im mindesten auf das warnende Nicken zu achten, mit dem sie es ihm überreichte.

»Sehen Sie, mein liebes Kind,« sagte sie hinter ihm her, »so wandelt die Jugend der Verderbnis entgegen, und man selbst ist verurteilt, ihr den Weg zu weisen.«

»Wieso?« fragte Lilly, die hoch aufgehorcht hatte.

»Kennen Sie die Einrichtung einer Apotheke?« fragte Frau Asmussen zurück.

Lilly meinte, sie sei wohl oft darin gewesen, aber recht Bescheid wisse sie nicht.

»Da gibt es nämlich ein besonderes Behältnis,« fuhr ihre Prinzipalin fort, »auf welchem das Wort ›Giftschrank‹ geschrieben steht. Darin befinden sich die fürchterlichsten Gifte, welche die Menschheit kennt. Darum ist die Tür auch stets verschlossen, und nur der Besitzer oder sein Stellvertreter darf den Schlüssel in die Hand nehmen … Und nun sehen Sie sich einmal hier um. Die Hälfte von allem, was Sie hier sehen, sind ebensolche Gifte. – Alles, was heute geschrieben wird, vergiftet die Seele und lockt sie in den Untergang. Und doch muß ich die Bücher anschaffen, – wenn auch für alt, – aber ich muß sie doch anschaffen, und muß sie mit blutendem Herzen jedem in die Hand geben, der danach verlangt … O, ich brauche nur an meine ungeratenen Töchter zu denken. Ich hatte schön verbieten. Sie lasen doch … Und lasen und lasen ganze Nächte hindurch, und wenn sie mit Übermut und Verderbnis vollgepfropft waren bis zur Kehle, dann schmeckte ihnen das Essen nicht mehr, dann wollten sie nur noch spazieren gehen, und schließlich entwichen sie zu ihrem Vater, diesem Schuft, dieser gemeinen Betrügerseele, diesem mit Blattern behafteten Auswürfling … Ich warne Sie vor diesem Manne, mein Kind, und wenn Sie ihm je begegnen sollten, dann nehmen Sie Ihr Kleid hoch und speien Sie aus vor ihm, wie ich jetzt ausspeie.«

Lilly wandelte ein Schauer an vor der fürchterlichen Schlechtigkeit jenes Mannes; doch beruhigte sie einigermaßen der Gedanke, daß sie ja in dieser ausgezeichneten Frau ihre natürliche Beschützerin gefunden habe.

Eine Stunde später gab es Abendbrot, das in einer Milchmus und in einem unbelegten Schmalzbrot bestand.

Lilly, die nicht verwöhnt war, ließ sich ohne weiteres überzeugen, daß niemand in der Welt eine Milchmus von ähnlicher Delikatheit herzustellen verstünde, und daß selbst der Kaiser kaum je ein köstlicheres Schmalzbrot auf seiner Tafel zu sehen bekäme. Hätte man ihr noch ein Stückchen Schinken gegeben, wie es im Krankenhaus zum täglichen Abendessen gehört hatte, so wäre der Gipfel irdischer Genüsse für sie erreicht gewesen.

Das Zubettgehen bereitete ihr ein neues Vergnügen.

Der Raum, in dem die Leihbibliothek stand, war ein großes, dreifenstriges Zimmer, das durch zwei von der Fensterwand aus tief hineingebaute Büchergestelle und einen in der Nähe der Flurtür gelegenen Ladentisch in vier verschiedene Kojen geteilt war, die nur durch einen schmalen, an der Mittelwand entlang laufenden Gang miteinander in Verbindung standen.

In die hinterste dieser Kojen hieß Frau Asmussen sie zur Stunde des Schlafengehens zwei bankartige Geräte tragen, auf die ein Bettrahmen gelegt wurde. Der Raum war nun seiner Breite nach so ganz ausgefüllt, daß Lilly, um zur Ruhe gehen zu können, vom Fußende her über die Lehne der einen Bank hinwegklettern mußte. Und das erwies sich als höchst spaßhaft.

Eingekeilt zwischen zwei senkrechte Bücherfelsen, zu Häupten das Fensterbrett, zu Füßen einen Stuhl mit ihren Siebensachen, im Arme das Hohe Lied, so schlief sie ein.

Am nächsten Morgen begann der Unterricht.

Lilly erfuhr, nach welchem Prinzip die Tausende von Bänden in den Regalen eingeschachtelt standen, und da sie das Abece auswendig wußte, so wäre sie schon nach fünf Minuten im stande gewesen, jedes beliebige Buch von seinem Platz hervorzuholen, wenn nicht die Hand der Frau Kantor die meisten nach Willkür und Laune durcheinandergerührt hätte.

Noch schwieriger war es, sich in dem großen Kontobuch zurecht zu finden.

Auch hier sollte die alphabetische Reihenfolge maßgebend sein. Da aber die Blattseiten einzelner Kunden sich rascher gefüllt hatten, als die ihrer Nachbarn, so hatte Frau Kantor Asmussen einfach auf irgend eine leergebliebene Stelle hinübergegriffen und so ein Durcheinander geschaffen, in dem schließlich weder sie noch ihre durchgebrannten Töchter sich Rat gewußt hatten.

Lilly begann, von heiligem Eifer beseelt, die große Aufräumungsarbeit, die von nun an viele Wochen lang ihr eigentliches Leben bildete.

Mit Frau Kantor Asmussen hatte sie schon am zweiten Tag ihres Hierseins eigenartige Erfahrungen machen müssen.

Während der Tagesstunden war die würdige Dame wenig mehr zu sehen gewesen, als aber das Abendessen herannahte, fand Lilly sie träumerisch über eine dampfende Teetasse geneigt, während ein angenehmer Duft von Rum und Zitronen das Zimmer erfüllte.

»Ich leide schwer an katarrhalischen Reizungen meiner Nasenschleimhäute,« erklärte sie, aus ihren grauen Augen ein wenig wässerig nach Lilly hinblinzelnd, »und muß zu diesem Zwecke eine Medizin einnehmen, die mir von einem der ersten Ärzte der Stadt verschrieben worden ist.«

Lilly löffelte ihre Milchmus, während Frau Asmussen an ihrer Teetasse nippte und ab und zu einen gramvollen Seufzer ausstieß.

»Habe ich Ihnen schon von meinen Töchtern erzählt?« fragte sie dann.

»O gewiß,« erwiderte Lilly ehrerbietig.

Auch in den Morgenstunden war kaum von etwas anderem die Rede gewesen als diesen zwei mißratenen Geschöpfen und dem verworfenen Menschen, den sie Vater nannten.

»Und doch würde es Ihnen kaum möglich sein,« fuhr Frau Asmussen fort, »den eigenartigen Reiz dieser beiden jungen Mädchen annähernd zu erfassen. Ich dürfte eigentlich nicht darüber sprechen, denn es sind meine Kinder. Aber das darf ich objektiver Weise sagen, daß mir niemals in der Welt zwei junge Damen von so hervorragenden Eigenschaften des Charakters und des Geistes auch nur von weitem begegnet sind. Soviel zartsinnige Kindesliebe, soviel aufopfernden Fleiß und rührende Bescheidenheit – soviel Innigkeit in den kleinen Beziehungen des Lebens, soviel ruhige Stärke in der Beurteilung der großen Fragen ist wohl noch niemals im Gemüte zweier so junger Mädchenseelen zu finden gewesen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihnen, liebes Kind. Sie sind von diesem Bilde edlen Jungfrauentums noch weit, himmelweit entfernt.«

Lilly ließ vor Staunen und Beschämung den Löffel aus den Fingern fallen, und die alte Dame erzählte weiter: »Ich habe mich mit blutendem Herzen von ihnen trennen müssen, und auch sie weinten Tage und Nächte lang, bevor sie mich verließen. Aber was war zu machen? Sie mußten ja zu ihrem Vater. Habe ich Ihnen schon von meinem vortrefflichen Gatten erzählt? Widrige Schicksale haben uns getrennt, aber seine Liebe, das weiß ich, hängt an mir, wie auch ich ihn lieben werde bis in den Tod … Das war ein Mann! O mein Kind, beten Sie zu Gott, daß er Sie würdig mache, je das Weib eines solchen Mannes zu werden. Ich leider war es nicht. O nein, ich nicht.«

Und zwei Tränen grenzenloser Zerknirschung rannen über ihre Wangen.

Noch vieles erzählte sie an diesem zweiten Abend von den Tugenden ihrer zwei Töchter, dem hohen Gesinnungsadel ihres Gatten und dem eigenen Unwert.

Und nachdem sie noch mehrfach die Medizin erneuert hatte, die ihr von einem der ersten Ärzte der Stadt verschrieben worden war, weinte sie sich schließlich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen begann sie ihr Tagewerk mit einem Zornausbruch gegen Lilly, weil diese zum Ausfegen des Bibliothekraumes den Besen verwendet hatte, der immer an der Tür stand.

»Dieser Besen ist nur dazu da,« erklärte sie, »um die beiden mißratenen Ungeheuer über meine Schwelle hinauszustäupen. Und wenn Sie, elendes Frauenzimmer, ihn noch einmal anfassen, dann sind Sie die erste, die mit ihm Bekanntschaft macht.«

Da begann Lilly zu ahnen, daß die Fremde nicht ganz so rosig war, wie ihr Lebensdrang sie ihr ausgemalt hatte.

Aber es sollte schlimmer kommen.

Frau Kantor, die um das Heil von Lillys Seele und die Reinheit ihrer Jungfrauenphantasie aufs äußerste besorgt schien, hatte ihr von vornherein verboten, die Bücher der Leihbibliothek zu eigener Lektüre zu verwenden.

»Ich habe an meinen Töchtern erfahren,« sagte sie, »wohin ein solcher Unfug führt, und werde dafür sorgen, daß Ihnen ein ähnliches Schicksal erspart bleibe.«

Solange die Einordnungsarbeiten dauerten, trat die Versuchung, dem Gebote zuwider zu handeln, nur selten an Lilly heran. Als aber mit dem beginnenden Herbste trotz des reicheren Kundenverkehrs die beschäftigungslosen Stunden sich mehrten, die Hängelampe über dem Ladentisch dringlicher lockte, und Frau Asmussen an der Wirkung ihrer abendlichen, von einem der ersten Ärzte der Stadt verschriebenen Medizin immer früher in ein leidloses Traumdasein hinüberschlummerte, da trieben sie Neugier und Einsamkeit unwiderstehlich in die Sündentat hinein.

Den eigentlichen Anlaß bildete ein junges Mädel, kaum älter als sie selbst, das an einem regnerischen Oktoberabend den ersten Band eines Romans zurückbrachte und den zweiten dafür eintauschen wollte. Wie nun dieser sich als verliehen herausstellte, brach sie in Tränen aus und erklärte, sie könne es nicht aushalten, sie müsse wissen, wie die Geschichte weiterginge, sonst stürbe sie.

Lilly riet ihr gutmütig, nach einer der anderen Leihbibliotheken zu gehen, die als größer und vornehmer galten. Sie gab ihr sogar auch den Pfandtaler zurück, damit sie ihn dort wieder einzahlen könne.

Glückselig in seiner neuerwachten Hoffnung zog der Blondkopf ab.

Lilly besah den schmutzigen, zerrissenen Band von allen Seiten. Dann schaute sie vorsichtig hinein.

»Soll und Haben« von Gustav Freytag stand auf dem Titelblatt.

Schon in der ersten Klasse hatte sie von diesem Buche schwärmen hören, aber für Romanlesen war in dem Leben der Nähterstochter kein Platz mehr gewesen.

Furchtsam ließ sie den Blick über die erste Seite hingleiten. Dann schlich sie zur Glastür, horchte eine Weile lang nach dem Hinterzimmer hin auf Frau Asmussens friedliche Atemzüge, – und dann ging's mit vollen Segeln auf das hohe Meer der Phantasie hinaus.

Als sie um vier Uhr morgens mit dem Band fertig war, hätte sie sich das Haar raufen mögen aus Verzweiflung darüber, daß sie dessen Fortsetzung in unwissendem Leichtsinn den Händen eines beliebigen Fremden ausgeliefert hatte. Sie schmiedete Pläne, wie sie seinen Namen, seine Wohnung ausfindig machen und dann heimlich zu ihm hingehen wolle, um die Rückgabe des Buches zu beschleunigen.

Darüber schlief sie ein.

Am nächsten Tage durchstöberte sie das Ausleihebuch zwei-, dreimal in stundenlanger Arbeit, aber den gesuchten Namen fand sie nicht. Da nicht die Titel, sondern die Nummern aufgeschrieben waren, so hatte sie in ihrer Erregung immer wieder darüber hinweggelesen.

Und wie ein Säufer seinen Rausch in einem neuen Rausch zu vertrinken sucht, so sog sie sich in einem anderen Buche fest.

Von nun an wurde Lillys Leben eine große Orgie, von nun an gab es verschwommene Augen, zerschlagene Glieder und große Petroleumrechnungen, von nun an wurde gelauert und geschwindelt, Stunde um Stunde, um Frau Asmussens Argwohn zu entgehen.

Doch eines schönen Wintermorgens kam die Untat an den Tag.

Da gegen Mitternacht der Ofen kalt zu werden pflegte und Lillys Füße zu erstarren begannen, so gewöhnte sie sich daran, die Lampe aus dem Gehänge zu nehmen und mit ihr zusammen ins Bett zu kriechen.

Auf dem Fensterbrett, dicht hinter dem Kopfkissen, war Platz genug, und wenn sie auch in die bittere Notwendigkeit versetzt wurde, noch einmal aufzustehen, die Lampe wieder einzuhängen und das Buch an seinen Platz zu tragen, – denn Frau Asmussen war jetzt morgens oft früher auf dem Posten als sie, – so gewann sie doch wenige Stunden, die sie nicht hergegeben haben würde, selbst wenn sie im Hemd auf die Straße hinaus gemußt hätte.

So war es gekommen, daß in dem Augenblick eines schreckhaften Erwachens Frau Asmussen fertig angekleidet vor ihr stand, während ein schwarzer Band rittlings auf ihrem weißen Hemde lag und die Lampe, die sie um ein Uhr nachts heimlich aufgefüllt hatte, hinter ihr noch brannte.

Nie im Leben war sie geprügelt worden. Und darum wollte sie es im ersten Augenblick nicht ganz für Ernst nehmen, als Frau Asmussen trotz aller Korpulenz plötzlich über die Bettbank sprang, auf ihrer Decke saß wie ein fettes kalekutisches Huhn und ihr den schwarzen Band rechts und links um die Ohren schlug.

Nun begann eine böse Zeit.

Was half's, daß Lilly aufrichtige Reue fühlte, daß sie Frau Asmussen und sich selber Besserung gelobte? – Sie war so ganz durchtränkt von der neuen Leidenschaft, so restlos aufgegangen in dem schöneren Leben, in dem gehandelt und geliebt, gelitten und genossen wurde, – in dem es keine naseweisen Dienstmädchen, keine nassen Regenschirme, keine verliehenen zweiten Bände, keine unauffindbaren Journalnummern, keine Milchmus und keine Prügel gab, daß sie sogar dann, wenn sie die Selbstentäußerung einer Märtyrerin besessen hätte, nicht mehr fähig gewesen wäre, in ihren früheren Zustand zurückzukehren.

So sehr wurde sie nun von ihrer Phantasie beherrscht, daß das, was sich als wirkliches Dasein von einem Alltag zum anderen hinüberreckte, in ewig gleicher, sonnenloser Gefangeneneinsamkeit, ihr als ein dumpfer, schmerz- und lustloser Todestraum erschien, und daß sie das Auge zum Leben erst aufschlug, wenn die klebrigen Blätter eines Lesebuches in ihrer Hand zu knistern begannen.

Verschüchtert und widerstandslos, wie sie war, fand sie nicht einmal den Mut, ihr Heiligstes vor sich selbst zu rechtfertigen. Sie empfand das als ein Laster, wovon sie, wie von einem gottgesandten Brote, ihre hungernde Seele nährte.

Frau Kantor Asmussen hatte ein diabolisches Mittel ersonnen, sie noch mehr zu demütigen. Wie manches gläubige Protestantenherz betrachtete sie die Religion lediglich als ein Strafmittel, und während sie sich bis dahin um Lillys Frömmigkeit nicht im mindesten gekümmert hatte, fing sie nun an, jede Mahlzeit mit einem längeren Bußgebete zu eröffnen, worin sie angesichts der dampfenden Suppenschüssel Lillys sündige Versunkenheit unter Seufzern und Tränen dem lieben Gott zur Besserung anempfahl.

Und wehe ihr, wenn sie sich als rückfällig erwischen ließ! Jene erste Züchtigung war nicht die einzige geblieben. Jetzt setzte es Püffe und Ohrfeigen bei geringfügigstem Anlaß, jetzt sausten wie Sturmschauer an einem Regentage die Schimpfreden um ihr unbeschütztes Haupt.

Erst wenn der Heiltrank des berühmten Arztes seine besänftigende Wirkung zu üben begann, wagte sie aufzuatmen.

Dann stürzte sie sich über das erste beste Buch, und zwischen Testamentsfälschungen und Ehebrüchen, zwischen Giftmorden und Liebesrasereien litt sie und siegte, siegte sie und starb – im Leiden noch voll Wonne – sterbend noch im Rausch.


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