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Und wiederum begann für Lilly ein neues Leben.
Mit ihrer Einsamkeit war es nun gründlich zu Ende.
Allnachmittäglich feierte Herr Dehnicke fortan seine Teestunde bei ihr. Doch jetzt war er kein »Herr Dehnicke« mehr, jetzt war er ein Richard, ein süßer und geliebter Richard, dem man jubelnd entgegenwinkte, den man mit ausgebreiteten Armen im Hausflur empfing, an dessen Kniee gelehnt man mit eingezogenen Füßen auf dem Teppich hockte, und dem man mit zärtlichem »Weh-weh« die bösen Falten von der Stirne blies.
O man hatte ja so viel Liebe nutzlos aufgespeichert! Man konnte verschwenden, verschwenden – und immer noch war neuer Vorrat da.
Manchmal wußte man nicht aus nicht ein mit all dem Überfluß.
Man ließ die große Dame, die Gnädige, die Herrscherin zum Teufel gehen, man duckte sich, man machte sich klein, man wollte getadelt und gescholten werden, man wollte Angst empfinden vor jedem Schatten seines Mißbehagens und jeden ihm selber unbewußten Wunsch aus seinen Augen lesen. – Man wollte vor allem dankbar sein, dankbar für seine Güte, seine Zartheit, für alles, was er als Retter getan hatte.
So war es denn freilich kein Wunder, daß er den anbetenden Aufblick allmählich verlor, daß er Ansprüche zu machen begann – und zwar sehr launenhafte – daß er das Gebaren des Ehemannes annahm und hie und da sogar an seine Wohltaten erinnerte, ein wenig nur, aber doch genug, um die erst freiwillige Spende der Demut allmählich zur Pflicht werden zu lassen.
Seit Lilly seine Geliebte geworden war, hatte sich in seinem Verhältnis zur Außenwelt ein Umschwung vollzogen, der sein ganzes Leben auf eine neue Grundlage stellte.
In dem pedantischen, ängstlich um guten Ruf und bürgerliches Ansehen besorgten Zinkgußwarenfabrikanten schien das kühnste Lebemannstum erwacht zu sein.
Hatte er früher Bedenken getragen, sich auf Straßen und Promenaden an Lillys Seite zu zeigen, so konnte er jetzt nicht satt werden, sich als ihr Ritter den Blicken der Menge preiszugeben. Er schaffte sich zu dem alten, braven Geschäftscoupé noch eine neumodisch bauchige Viktoria an, in der er mit ihr zusammen die Linden hinunter zum Tiergarten fuhr. Er wählte für die gemeinsamen Abendvergnügungen nur solche Stätten, an denen das modische Berlin am häufigsten zu finden ist, und suchte mit Sorgfalt diejenigen Plätze aus, wo man von allen Seiten gesehen werden konnte.
Hinter den Brüstungen der Proszeniumlogen saß er mit geblähter Hemdbrust, sorgfältig frisiert und behandschuht, und bemühte sich, den Operngläsern, die gegen ihn und seine Begleiterin anblitzten, ein blasiert gleichgültiges Lächeln entgegenzuhalten.
Er bestellte seine Kleider bei den Londoner Schneidern, deren Vertreter gegen den Frühling und den Herbst hin Kunden werbend in Berlin auftauchen, er schaffte sich ein Monokel an und steckte das Taschentuch in die linke Manschette, er kehrte den Offizier heraus und suchte gewisse weibisch-runde Gesten der Gardegigerl geschmackvoll nachzuahmen.
Alles in allem: er war nach Kräften bemüht, sich einer Mätresse von Lillys Rang und Qualitäten würdig zu erweisen. Hatte er doch bald herausgefühlt, daß die Verbindung mit einem so schönen Geschöpf – anstatt ihm zu schaden – einen neuen unverhofften Abglanz auf sein Leben warf. Sogar auf das Ansehen seines Hauses strahlte sie hinüber – mehr als alle Prunkbauten es vermocht hatten.
Wenn der Inhaber der Firma Liebert & Dehnicke sich solche Sprünge erlauben kann, hieß es in der Geschäftswelt, dann müssen ihre Artikel weit glänzender gehen, als wir geglaubt haben. Und mancher Händler, der sonst bei der Konkurrenz gekauft hatte, kam nun zu ihm, von jenen geheimnisvollen Mächten der Suggestion herbeigezogen, deren Gesetze Psychologen und Kulturhistoriker vergebens zu enträtseln trachten.
Man begegnete ihm mit erhöhter Achtung, der als mildernde Beimischung ein jovial vertrauliches Lächeln nicht fehlte, wie immer, wenn die Welt einem Manne von erprobter Unschädlichkeit einen kleinen, interessant machenden Fehl heimlich zu verzeihen hat.
Und Fragen wie: »Wann sieht man sich mal auch außergeschäftlich?« oder »Wollen wir nicht mal gelegentlich zusammen bummeln?«, Fragen aus dem Munde von Leuten, die sich früher nicht im mindesten um ihn gekümmert hatten, wurden so wohlfeil, wie die Bronzeartikel des Hauses »Liebert & Dehnicke« es waren.
»Von Rechts wegen müßte ich dich mit allem, was du bist und brauchst, auf das Konto der Geschäftsunkosten setzen,« sagte er einmal lächelnd zu Lilly, die solche weniger zarten Späße allgemach verschmerzen lernte.
Die abendlichen Ausgänge – dreimal, viermal in der Woche – wurden alsbald zur Gewohnheit, und sie machten Lilly rasch mit allem bekannt, was an Schaumblasen des Vergnügens aus dem Berliner Hexenkessel in die Höhe quirlt.
Für die großen öffentlichen Bälle, auf denen man mit seidener Halbmaske die geheimnisvolle Frau von Stande markiert, war es in diesem Winter schon zu spät geworden. Dafür aber blieben die Theater von der leichteren Observanz, in denen der Abhub des Pariser Boulevardlasters, verwässert und aufgewärmt, lusthungrigen Seelen als höchste Reizung des Gaumens dargereicht wird, – die spätnächtigen Kabaretts, wo die Zote, mit literarischem Mäntelchen behängt, ihre Purzelbäume schlägt und der Bourgeoisie entlaufene, wilde Weiber mit zünftigen Tingeltangeleusen um die Palme der Gemeinheit ringen, – die Bars und die Grillrooms, – die nach polizeilicher Vorschrift unverschließbaren Hinterzimmer vornehmer Restaurants, wo man unter den höhnisch lächelnden Augen korrekter Kellner frostige Orgien feiert – und dann zum Schlusse die lichterfunkelnden, blaurauchigen Säle gewisser Cafés, wo man in der Berührung mit der zu Markte gehenden Dirnenwelt eine letzte Aufpeitschung der übermüdeten Nerven sucht und findet.
Wohl hatte Lilly sich anfangs gegen dieses Treiben gewehrt, denn ihr Sinn stand noch immer nach Genüssen von einer anderen Art, auch hatte sie ein unbestimmtes Wehgefühl, als ob jeder Tag des neuen, lusterfüllten Lebens sie weiter und weiter von jener lorbeerbestandenen Treppe entferne, an deren Stufen ihre Sehnsucht einst hinangekrochen war; als sie aber sah, daß jeder Wunsch nach Stille einer unlustigen Ablehnung begegnete, kam sie freiwillig davon zurück und verschob alles, was an Träumen in ihr lebte, auf eine künftige bessere Zeit … Eine Zeit, die alle Hoffnungen zur Blüte brachte, die – ja die, – … hier durfte die Phantasie nicht weiter.
Und dann war es auch fast immer blendend amüsant.
Man blieb selten zu zweien. Meistens fand man Bekannte. Unter ihnen viele von dem Kellermannschen Feste her, die sich beim Weiterziehen zwanglos anschlossen, mit denen man sich auch häufig schon vorher verabredet hatte, so daß schließlich eine ganze Bande beisammen war, um deren festen Kern sich immer neue Erscheinungen herum kristallisierten.
Eine der Getreuen war jene brünette, süße, kleine Frau mit den unsicheren Glutaugen und dem törichten Lächeln, die an dem Festabend mit ihrem Freunde und Lilly zusammen eine Familie hatte bilden wollen. Sie hieß Frau Sievekingk, war aus dunkelm Lebensdrange ihrem Manne, einem irgendwo in Hinterpommern ansässigen Arzte, entlaufen und lebte nach mancherlei Irrfahrten mit dem Inhaber einer großen Dampfwäscherei zusammen, einem rothaarigen, spindeldürren Swell, Wohlfahrt mit Namen, der am Magen litt und für den sie in ihrem Retikule stets eine Auswahl von Tropfen und Pülverchen bereit hielt. Doch diese rührende und energische Sorgfalt hinderte nicht, daß sie ihn mit jedem betrog, der sich um sie bemühte. Alle Welt wußte es, und niemand nahm es ihr übel. Denn sie war Dichterin und mußte sich Erlebnisse schaffen, die sie besingen konnte. Eine Notwendigkeit, die zur Folge hatte, daß mancher, der ganz insgeheim mit ihr zu sündigen glaubte, sich nach ein paar Wochen, aufs genaueste porträtiert, als Held einer heißblütigen Skizze oder eines schwülen Liebesgedichtes in irgend einer jungdeutschen Zeitschrift wiederfand.
Da war ferner Frau Welter, die geschiedene Frau des berühmten Komponisten, deren rundes, rostbraunes Gesicht – sie war jüngst von einer geheimnisvollen Spritztour aus Algier zurückgekehrt – in drolligem Gegensatz unter dem mächtigen, goldgelb gefärbten Haarschopf hervorguckte, der sie wie eine Gloriole bis in den Nacken hinein umgab … Mit ihr zu verkehren war gefährlich, denn obgleich sie in guten Verhältnissen lebte – die wohlhabenden Verwandten ihres Mannes hatten ihr ein reichliches Jahresgehalt ausgesetzt – so pumpte sie doch jeden an, der in ihre Nähe kam. In ihrer grenzenlosen Gutmütigkeit opferte sie nämlich alles, was sie besaß und was ihre Freunde ihr gaben, zwei abgedankten Liebhabern hin, von denen jeder auf seine Weise ein Lump war. Mit wem sie es im Augenblick hielt, blieb unbekannt. Man sah sie oft in Begleitung eines stocksteifen Regierungsassessors, der zu korrekt war, um nach Tische den Zahnstocher zu benutzen, und, da er hohle Zähne hatte, stundenlang schweigend dasaß, beschäftigt, die Zunge zwischen den Kiefern hin und her zu rollen.
Da war unter anderen eine überschlanke kleine Spitzmaus, niedlich und boshaft, mit blauen, kalten Stahlaugen und einem dünnlippigen, nach innen gekniffenen Munde, die stets in weißer Seide ging und eine fächerförmige Schleppe hinter sich her rauschen ließ. Sie nannte sich Frau Karla. Aber wie sie eigentlich hieß, wußte niemand außer ihrem Liebhaber, einem blutjungen, sehr blassen und schmächtigen Fabrikantensohn, den sie ganz beherrschte und mit aussaugender Vergnügungssucht bis zum Morgen hinter sich her zog. In einer unbewachten Stunde hatte er verraten, daß sie die Frau eines gänzlich weltfremden, jüdischen Privatgelehrten war, der des Glaubens lebte, daß die gesellschaftlichen Forderungen des Berliner Westens sie in Anspruch nähmen, und ruhevoll über seinen statistischen Tabellen saß, während sie mit allen möglichen Leuten in Rauchtheatern und chambres séparées herumtollte.
Da waren Frauen aller Art, um deren Vergangenheit und Existenzquelle niemand sich kümmerte, wenn sie nur hübsch und elegant und nicht gerade Kokotten waren.
Zu den Herren, die außer den legitimierten Begleitern in Fülle sich einfanden, um bei guter Gelegenheit im Trüben zu fischen, und die das eigentlich belebende Element der Gesellschaft bildeten, gesellte sich bisweilen auch jener Doktor Salmoni, der auf Kellermanns Feste mitleidig lächelnd den Staupbesen geschwungen hatte. Lilly fühlte sich dann stets befangen und wortkarg werden, und doch war ihr, als ob sie ein geheimes Band mit ihm verknüpfe. Er übte wie damals seinen kaustischen Witz an jedem, der ihm in die Quere kam, nur an ihr ging er rücksichtsvoll vorüber. Bisweilen schnitt er mit seinen Seziermesseraugen prüfend auf sie ein, und zwei oder dreimal fragte er im Vorbeigehen leise: »Was haben Sie eigentlich hier zu suchen, schöne Frau?«
Auch Herr Kellermann tauchte nicht selten auf, betrank sich und streute dann Bemerkungen über die nach Erlösung schreiende Schönheit um sich, Bemerkungen, die Lilly andauernd zu überhören bemüht war. Zum Schlusse hatte er meistens kein Kleingeld bei sich, worauf Richard für ihn bezahlte.
So war die Welt beschaffen, in der Lillys Tage – und Nächte – fortan sich abrollten.
Daneben gab es geheimnisvolle Botschaften aller Art. Einladungen fremder Herren zu verschwiegenem Stelldichein, anonyme Blumenspenden vom bescheidenen Veilchensträußchen bis zum prunkenden Orchideenkorbe, Besuche verdächtiger Damen, die private Wohltätigkeitskränzchen veranstalteten und mit vielsagendem Lächeln Lillys Mitwirkung erbaten, – ein trüber Wellenschlag des Begehrens brandete unaufhörlich an ihrer Schwelle. Anfangs hatte sie Angst gehabt, schließlich nahm sie kaum noch Notiz davon. –
Frühlingstage kamen ins Land und mit ihnen die großen Rennen, bei denen alles sich zusammenfindet, was aus irgend einem Grunde Anspruch erhebt, zur eleganten Welt gezählt zu werden.
In Richard war, seit Lilly in schüchterner Hoheit neben ihm thronte, der schlummernde Kavallerist mit einer solchen Heftigkeit zum Bewußtsein gelangt, die Leidenschaft für alle Forderungen einheimischer Pferdezucht so mächtig angeschwollen, daß er auf keinem dieser Feste zu fehlen vermochte. Obgleich er niemals wettete, so trug er doch die Taschen voll zerknitterter Tips; Rennchancen und Pedigrees bildeten seine hauptsächlichsten Gesprächsstoffe, und Lilly, die für das alles nicht das mindeste Interesse hatte, paßte sich ihm willig an.
Als sie eines Morgens in ihrer Zeitung den Bericht über den Verlauf des gestrigen Flachrennens studierte, zog folgende Stelle ihre Aufmerksamkeit an sich:
»Unter den reizenden Vertreterinnen der Welt, in der man sich nicht langweilt, fiel wieder einmal jene imponierend schöne Erscheinung auf, der man seit etlicher Zeit ein wenig überall begegnet, und die den diskreten Hauch der Hautevolee, der sie, wie man munkelt, entstammen soll, noch immer um sich verbreitet. Man könnte sie, entsprechend der Veilchenfarbe, die sie bevorzugt, nach sehr berühmten Mustern › la dame aux violettes‹ benennen. Jedenfalls wünschen wir uns Glück zu diesem neu auftauchenden Gestirn, das dem Bilde unseres großstädtischen Lebens nur zur Ehre gereichen wird.«
»Wer mag das wohl gewesen sein?« dachte Lilly mit einem kleinen Neidgefühl und ließ die Gestalten all der schönen Frauen, die sie gestern bewundert hatte, an ihrem Geiste vorüberziehen.
Aber die Geschilderte war nicht darunter.
Und dann plötzlich schoß ihr das Blut heiß ins Gesicht. Ihr Blick suchte das violette Redfernkleid, das von gestern her noch über einer Stuhllehne hing. Es war nun schon über zwei Jahre alt, aber so glänzend gearbeitet, daß es allenfalls mit den Schöpfungen des Frühlings wetteifern konnte, und weil sie ein zweites dieser Art nicht besaß – man mußte Richard unnütze Ausgaben ersparen – so hatte sie es auch etliche Male nacheinander getragen.
Jawohl, da gab es keinen Zweifel mehr – sie war gemeint, sie selbst und keine andere.
Ihr erster Gedanke war: Wie wird Richard sich freuen!
Aber auch sie freute sich. Die kühnsten Weissagungen der Frau Laue schienen sich erfüllen zu wollen. Sie fing an berühmt zu werden. Sie stand sogar schon in den Zeitungen.
Wäre nur schließlich die Angst nicht gewesen, die rätselhafte, widersinnige Angst, die immer im Herzensgrunde lauerte und gerade dann emporkroch, wenn irgend ein neues Ereignis sie einen Schritt zu Glück und Glanz hin weiterführte! … Seit sie an Richards Seite in die Welt hinausgetreten war, begegnete ihr nichts als Frohes, Stolzes, Hoffnungweckendes. – Alle verehrten sie, alle schmeichelten ihr. – Selbstverachtung und Selbstquälereien waren verschwunden und hatten allem Fremden gegenüber einer ruhigen Schätzung eigenen Wertes Platz gemacht, aber die dumme, dumpfe Angst war da und ließ sich nicht zum Schweigen bringen.
Nachmittags – früher als gewöhnlich – kam Richard … strahlend, das Montagsblatt schon von der Straße her zu ihr emporschwingend.
Und als sie sich zehnmal umarmt und die bewußte Stelle wohl zwanzigmal miteinander gelesen hatten, wurde er finster und schweigsam, kreuzte die Arme wie Napoleon und ging mit kurzen, harten Schritten im Zimmer auf und nieder.
Man konnte so recht sehen, wie der Ehrgeiz in seinem Hirne Wellen schlug.
Da klingelte es.
Die kleine Frau Doktor Sievekingk wurde gemeldet.
Sie war zu einem freundschaftlichen Schwatz schon öfters bei Lilly gewesen, doch ohne ihr eigentlich näher getreten zu sein. Heute kam sie gerade recht, um das Glück der neuen Berühmtheit mit auskosten zu helfen.
Ihr grausamtenes Jackenkostüm schillerte in der Abendsonne, und das rote Capotehütchen mit den wehenden Reiherfedern schmiegte sich wie eine niederwärts züngelnde Flamme in das schwarze Gelock hinein.
Mit ihrem liebreizenden, anschmiegsamen Lächeln bot sie Lilly die Hand, aber als sie sich zu Richard wandte, blitzte in den unsicheren Glutaugen etwas von der Energie, mit der sie ihrem Geliebten die rettenden Magentropfen aufzunötigen pflegte.
Da man Fremden gegenüber an der Fastnachtsposse einer ruhigen Seelenfreundschaft immer noch festhielt, so griff Richard bescheiden nach seinem Hute, um sich alsdann von Lilly zum Längerbleiben nötigen zu lassen. Aber die kleine Frau kam ihm zuvor.
»Machen Sie keine Faxen,« sagte sie, »und tun Sie nicht so, als ob Sie hier nicht zu Hause wären. Auch ›du‹ dürft ihr euch aus Versehen nennen. Ich werde dann nichts gehört haben.«
Beide lächelten, und während sie dem Gaste eine Tasse Tee einschenkte, spielte er ein wenig absichtlich mit dem bewußten Zeitungsblatt, denn er wollte sich im voraus vergewissern, ob sie von dem großen Triumph schon etwas erfahren hatte.
»Wegen dem Wisch da komme ich eigentlich,« sagte sie, »und gerade mit Ihnen habe ich darüber zu reden. Denn da sind Sie nu wohl riesig stolz darauf?«
Richard machte eine Bewegung der Abwehr und lächelte selbstgefällig dazu.
»Ich hätte Ihnen, offen gesagt, 'n bißchen mehr Verstand zugetraut.«
»Erlauben Sie mal,« meinte er verdutzt, und Lilly fuhr auf. Die Angst des heutigen Vormittags verdichtete sich zu der Ahnung, daß ihr großes Glück einen Pferdefuß hatte.
»Lassen Sie mich mal ruhig weiter reden,« sagte die kleine Frau, und ihre Augen flammten jetzt sehr sicher und bewußt. »Ich habe Erfahrung in solchen Sachen … Denn mein Rotkopf fing auch mal so mit mir an …. Ist Ihnen denn niemals der Gedanke gekommen, Herr, daß, wenn so ein Elitegeschöpf, wie das da – so was Süßes und Herrliches, wie's überhaupt nicht zum zweiten Male gibt – wenn sich das Ihnen anvertraut, daß Sie dann eine Riesenverantwortung übernehmen? … Glauben Sie, daß unsereins bloß dazu da ist, daß Eure Eitelkeit sich damit breit machen kann? … Wir sind keine Portierstöchter, Herr, – und keine Ballettratten, die man in Samt und Spitzen steckt, und mit denen man dann rumläuft, um den Lebemann zu markieren! … Wir sind aus der Gesellschaft rausgefallen, das ist richtig, aber zu dem Weiberzeug, wohin Ihr uns gern rangieren möchtet, gehören wir darum noch lange nicht.«
Richard wollte etwas erwidern, fand aber nicht gleich die Worte.
Und sich zärtlich zu Lilly hinüberneigend, fuhr sie fort: »Da kommt nu so ein Wurm in seiner ahnungslosen Vornehmheit und sagt: ›Nimm mich hin – mach mit mir, was du willst!‹ Und was werden Sie aus ihr machen? … Ein Frauenzimmer werden Sie aus ihr machen – oder wenigstens eine, die alle Welt dafür hält … Widersprechen Sie gar nicht erst … Für den Anfang ist das schon ausreichend,« – sie wies auf das Zeitungsblatt – »wenn sich die Schmocks schon mit uns beschäftigen, dann sind auch die Gardejrafen bald da … Und dann gnad' Euch Gott, denn die sind viel schöner und ritterlicher als Ihr … Und muß unsereins mal durchaus zu den Kokotten runter, dann will man wenigstens wissen, für wen und weswegen … Und dann seid Ihr auch schon kalt gestellt. Dann seid Ihr ein schlechter Witz von vorgestern … Weiter nichts.«
Lilly war von dem allem ganz wirr und benommen. – Sie hatte es gar nicht für möglich gehalten, daß jemand es wagen könne, mit Richard in diesem Tone zu reden, und hatte abwehrend und begütigend die Hand auf seine Schulter gelegt, denn sie fürchtete, daß er böse werden und sein Recht als Hausherr geltend machen könne.
Aber das Gegenteil geschah.
»Ich will ja gern tun, was Sie verlangen,« erwiderte er kleinlaut. »Wenn ich nur wüßte –«
»Was Sie nicht wissen, das werd' ich Ihnen sagen: Sie sollen sie nicht mehr rumführen wie'n Menagerietier … Nicht jedem beliebigen Menschenhaufen zur Schau stellen … sollen Sie nicht jedem Laffen vor den Operngucker setzen. Dazu ist unser Kind zu schade.«
Richard ermannte sich zu einer Gegenwehr.
»Sind Sie denn nicht auch überall zu sehen?«
»Jawohl. Denn ich will selber was sehen. Dazu bin ich meinem Greuel von Mann und dem ganzen Posemuckel davon gelaufen, aber in Proszeniumlogen setz' ich mich darum doch nicht. Und rings um den Sattelplatz treib' ich mich auch nicht rum … Ich gehöre zur Bohème, und Lilly mit ihrem stillen, feinen Herzen gehört in die Bürgerlichkeit … Da muß sie bleiben, als ob sie Ihre angetraute Frau wäre … In die Demimonde – ich meine das, was man hier in Deutschland so nennt, im französischen Sinne sind wir schon lange drin – da wollen wir beide nicht runter. Das lassen Sie sich gesagt sein, Herr.«
Richard stand auf. Er hatte einen roten Kopf bekommen und kaute hilflos und grimmig seine Schnurrbartspitzen.
»Ich habe immer nur ihr Wohl im Auge gehabt,« sagte er. »Und schließlich ist es auch dein Wunsch gewesen, Lilly.«
Sie mochte ihm nicht widersprechen, denn sie wollte ihn nicht noch mehr beschämen und wandte sich schweigend ab.
»Und wenn tausendmal!« entgegnete statt ihrer die kleine Frau. »Dann hätten Sie ihr eben sagen müssen: das verstehst du nicht, du kennst diese Sorte von Leben nicht … Da wir nicht verheiratet sind – was notabene das Beste für euch wäre – müssen wir uns bescheiden halten, sonst vernagel' ich dir das Leben und drück' dich in den Sumpf.«
Lilly fühlte die Tränen emporkommen, wie immer, wenn sie das Wort »Heiraten« im Hinblick auf sich und Richard am Horizont auftauchen sah. Und um ihre Bewegung nicht zu zeigen, ging sie rasch hinaus, ihm seinen Überzieher zu holen, denn es war dreiviertel sechs.
Sie geleitete ihn auch bis vor die Tür und küßte ihn zärtlich, denn er sollte beileibe nicht glauben, daß sie verstimmt oder ihm gram sei.
Und hernach verteidigte sie ihn mit Eifer. Er sei gut und lieb, er habe sie vorm Verderben gerettet und wolle gewiß nichts Böses.
»Zum Aufhetzen bin ich nicht hier,« sagte lachend die kleine Frau. Dann bat sie sich Erlaubnis aus, noch eine Weile bleiben zu dürfen. Sie heiße übrigens mit Vornamen »Jula«, wonach man sich in Zukunft zu richten habe.
Auf dem geradlinigen Sofa – über dem Walters herrisch lächelndes Bildnis einer höchst gleichgültigen Schafschur Platz gemacht hatte – saßen sie nun beide Hand in Hand, vor sich auf den Glastellern je einen angeknabberten Kuchen, und Lilly kostete zum erstenmal in ihrem Leben das Glücksgefühl, so etwas wie eine Freundin zu besitzen, denn vor der Schwertfeger war ihr ja immer bange gewesen.
Der Zeisig sang ein kümmerliches Frühlingsliedchen, und von den Kastanien her antworteten die Spatzen. Die Maisonne malte rote Kringel an die Wand, und aus dem Aquarium zuckte bisweilen ein grüngoldener Blitz, wenn eins der Schleierfischchen durch die wehenden Fäden der Algen schoß. –
Die Stunde der Konfidenzen hatte geschlagen.
»Ich habe mich eben mächtig aufgespielt,« sagte Frau Jula. »Aber es war auch nötig, mein Süßes. Denn Sie wie ich, wir beide stehen gerade auf der Kippe. Ein kleiner Schupps, ein kleines Schwanken – und wir liegen unten … Da, wo uns keiner mehr aufhebt … Wenn wir uns auf unseren Charakter verlassen könnten, wär' ja die Sache gar nicht so schlimm, aber treu sein können wir nun alle mal nicht – und wollen auch gar nicht.«
»Wie dürfen Sie so etwas sagen?« rief Lilly entsetzt.
Frau Jula leckte sich mit ihrem roten Züngelchen die Lippen.
»Warten Sie nur ab, Süßes,« sagte sie. »Das Männervolk um uns herum ist nämlich wirklich nicht dazu angetan, uns plausibel zu machen, daß wir nur für Einen da sind. Das ist überhaupt nur im Plural zu genießen … Ach, ich könnte Ihnen da Dinge sagen! Aber ich will Sie nicht erschrecken … Und dann ist auch eine Gefahr dabei: jeder, dem wir uns hingeben, nimmt uns ein Stück von unserem Besten. Ja, von unserem Besten, sage ich. Wenn man es auch nicht recht definieren kann. Selbstbewußtsein ist es nicht, denn das wächst womöglich noch dadurch. Reinheit auch nicht. Denn darauf pfeifen wir. Glück erst recht nicht. Denn mit dem Einen allein kämen wir ja um vor lauter Mopsen … Ich habe schon mit mancher darüber gesprochen. Und jede hat dasselbe Gefühl … Die einen meinen, man soll sich nicht verlieben und es nur aus Kaprice tun … Die anderen schwören wieder auf die große Leidenschaft, die alles heiligen soll … Das wird wohl bei jeder verschieden sein … Und dann will ich Ihnen noch ein paar Ratschläge geben, denn es wird ja auch an Sie kommen: Vor allem sich nichts schenken lassen … Wenigstens nichts von Geldeswert … Höchstens Blumen, und auch die nicht im Übermaß … Und auch nichts wiederschenken, denn alles gehört ja dem anderen … Ehefrauen, die dürfen das, aber für uns schickt es sich nicht … Überhaupt das Amant-de-coeurtum vermeiden, denn das machen die Kokotten auch so … Ehefrauen, die dürfen das alles, denn die müssen sich doch dafür rächen, daß sie dem Einen ans Bein gebunden sind. Wir dagegen sind ja frei und können gehen, wann wir wollen … Aber wir dürfen nicht … Wir dürfen nicht … Alles – bloß das nicht.«
»Warum sollen wir das nicht dürfen?« fragte Lilly, die plötzlich ihre Ketten fühlte.
»Ehefrauen, die dürfen alles … Die dürfen sich scheiden lassen, so oft sie wollen … Und tragen dann den Kopf genau so hoch wie zuvor … Aber bei uns ist es jedesmal ein Sturz weiter ins Dirnentum hinein, und je öfter wir wechseln, desto mehr werden wir freie Beute für jeden. Es sei denn, daß man sein eigenes Vermögen hat, aber das haben wir ja beide nicht … Wie die Geier sitzen sie ringsum und lauern … Hat sie sich von dem aushalten lassen – und dem – und dem – warum soll sie denn nicht auch für mein gutes Geld zu haben sein? Deshalb muß sich jede festklammern an den, den sie hat – er mag noch so klein und so boshaft sein, und sie mag ihn noch so abscheulich finden.«
»Das verstehe ich nicht,« sagte Lilly. »Wenn man einen hat, liebt man ihn doch.«
»Ach … Sie haben wohl noch jeden geliebt?«
»Gott, es waren nicht viele,« erwiderte Lilly. »Außer meinem Mann – dem General –« – sie konnte sich doch nicht versagen, das stolze Wort in den Mund zu nehmen – »nur noch einer – und dann dieser hier.«
»Ach, pfui schämen Sie sich,« rief Frau Jula in ehrlicher Empörung, »Sie wollen mir wohl als Tugendrose etwas vorblühen?«
Lilly beteuerte, daß sie die Wahrheit gesagt habe.
Frau Jula vermochte das nicht zu fassen.
»Dann gehören Sie ja gar nicht zu uns! Dann müßten Sie ja eigentlich Konsistorialrätin werden.«
Lilly lachte. Sie, die immer geglaubt hatte, daß über ihren sittenlosen Wandel längst der Stab gebrochen sei, sah sich nun gar um ihrer Ehrbarkeit willen verspottet.
»Ach, wenn ich Ihnen die Geschichte von all? den Weibern erzählen wollte, die um uns rum sind,« fuhr Frau Jula fort. »Die eine hält es heimlich mit Mädchen. Die andere vermietet möblierte Zimmer an Studenten, aber nur an solche, die ihr gefallen. Die dritte« – ihre Stimme senkte sich zum Flüstern – »holt sich ihre Liebschaften von der Straße her.«
Lilly schauderte. »Wie? Mit solch einer hab' ich zusammen gesessen und habe nichts davon geahnt?«
Frau Julas Augen brannten ins Leere.
»Nicht wahr, das ist schrecklich,« sagte sie und lachte. »Nun, mich geht ja das nichts an … Ich hab' ja mein Dichten … Das gibt mir die Weihe, das wäscht's wieder ab … Und um dessentwillen geschieht ja auch alles … Denn dazu braucht man Sensationen. Ja, Sensationen braucht man … Ich muß mein Blut jagen fühlen – und ich muß studieren, studieren … In jedem ist was Neues … Und mag ein Mannsbild so fad sein, daß man sein gesamtes Seelenleben in einem Fingerhut ausschöpfen kann, eine Stunde Rausch hat er doch herzugeben, eine Stunde, in der alle Glocken läuten – ja! – in der die ganze Weltorgel Musik macht … Und je mehr du hast, desto mehr Leben lebst du, in desto mehr Seelen kriechst du hinein. – Alle Tore öffnen sich … Alle Geheimnisse werden offenbar … Und wenn du den Herzschlag eines Fremden belauschen kannst, fühlen kannst unter deinen Fingern, dann ist er dein … Dann ist er du selbst … Dann lebst du wieder ein Leben mehr, ja, das ist Leben … Das heißt Leben.«
Sie warf die Arme hinter den Nacken zurück und starrte ekstatisch zur Decke empor.
Lilly sagte sich, daß sie dies Gerede unmöglich ernst nehmen könne, und doch überlief sie es bald heiß, bald kalt.
»Was Sie da sprechen, verstehe ich nicht,« erwiderte sie und stand auf.
Frau Jula hörte sie gar nicht. In ihren Augen glomm ein mystisches Feuer. Wie eine Priesterin, die dunkeln Göttern opfert, war sie anzuschauen.
Es schlug acht Uhr.
Das Dienstmädchen hatte im Nebenzimmer den Abendbrottisch bereitet und auch für die fremde Dame, die nicht fortgehen wollte, ein Gedeck aufgelegt. Nun kam sie und meldete leise, daß alles bereit wäre.
»Wollen Sie mit mir zu Abend essen?« fragte Lilly halb wider Willen.
Da wachte sie endlich auf, antwortete nicht ja, nicht nein, sondern nestelte aufstehend ihren Flammenhut aus dem dunkeln Gelock.
»Nicht wahr, ich bin verrückt?« sagte sie, und wieder erblühte das töricht-liebreizende Lächeln um ihre Lippen.
Mit erleichtertem Aufatmen öffnete Lilly die Tür des Nebenzimmers.
Zartglänzender Damast lag auf dem Eßtisch, den die durchbrochene Hängelampe mit Lichtblumen bestreute. Das heiter farbige, nach einem alten Straßburger Muster gearbeitete Tischzeug hatte Lilly in einem Ausverkauf billig erstanden, und die Bestecke samt Menage und Zuckerstreuer blinkten vornehm in feinstem Alpakasilber, das sich nur durch den Stempel von echtem unterscheiden ließ.
Richard sollte, wenn er einmal zum Abendessen bei ihr blieb, alles so blitzblank und gediegen finden, wie er es im Haushalt der Mutter gewohnt war.
Frau Jula stieß einen Ruf des Entzückens aus: »Ach, wie haben Sie's schön! Und lieb! Und behaglich! Hab' ich recht, wenn ich sage, daß Sie die geborene Ehefrau sind? Dagegen mein Rumpelzeug zu Hause! – Es lohnt sich auch gar nicht … Hat sich mein Rotkopf im Gasthaus an Hammelnieren au lard und getrüffeltem Puter den Magen verdorben, so muß ich ihm am nächsten Abend eine Schleimsuppe mit Semmelbröseln kochen, und das futtre ich dann gleich mit. Wozu soll ich da erst viel decken?«
»Gott sei Dank!« dachte Lilly. »Jetzt ist sie doch wieder, wie immer.«
Das Mahl war bescheiden … Es gab allerhand Kaltes mit Bratkartoffeln dazu und die Reste einer Mehlspeise zum Nachtisch. Aber Frau Jula aß, als wären ihr solche Hochgenüsse seit Jahren nicht begegnet. Und von allem wollte sie den Ursprung wissen.
Lilly gab rechtschaffen Auskunft. Der größeren Billigkeit wegen beziehe sie die kalten Fleischspeisen aus einer ländlichen Quelle, die sie der Freundin gern mitteilen wolle.
»Das hat mir doch gleich geahnt,« sagte die leise, und ihr Auge erstarrte in Nachdenken.
Und nach einer Weile noch leiser wie ein Geständnis: »Dort war's ebenso.«
»Wo – dort?« fragte Lilly.
»Nun dort – bei uns – zu Hause.«
Dann plötzlich schleuderte sie die Serviette von sich, sprang auf, trat an das geöffnete Fenster, und die gerungenen Hände vor der Stirne faltend, rief sie ächzend in den Abend hinaus: »Ich geh' unter! Ich geh' unter! Ich geh' unter!«
»Was ist?« stammelte Lilly erschrocken und sprang gleichfalls auf.
»Ich will zu meinem Mann … Ich will zu meinem Mann! … Mein Mann ist ein Schauerbock, das ist wahr. Und das Leben dort ist der Tod … Das ist alles wahr … Aber ich will zu meinem Mann … Hier geh' ich unter. Hier geh' ich unter.«
Lilly trat hinter sie und fuhr streichelnd über ihren Nacken.
»Warum sollen Sie untergehen?« tröstete sie. »Sie haben mir doch eben so viel schöne Lehren gegeben, wie man's machen soll, um nicht unterzugehen … Und dann haben Sie doch in Ihrer Kunst einen Rückhalt, den ich längst verloren habe.« – Seufzend sah sie sich nach dem Musterschranke um, in dem die letzten der geklebten Wälder in ungesehener Versunkenheit dahinträumten. – »Nein, Sie werden nicht untergehen, Sie werden hochkommen und ganz von oben auf uns arme Weiber niederschauen.«
Frau Jula schluchzte an ihrer Schulter.
»Nie mehr, nie mehr,« rief sie. »Ich kann ja nicht mehr raus aus diesem Gekreisel … Ich bin ja wie vergiftet … Meine Phantasie ist vergiftet … Ich geh' unter … Ich geh' unter.«
Lilly faßte sie leise unter den Arm und führte sie in den unerleuchteten Salon zu der Sofaecke zurück, wo sie vorhin gesessen hatten.
»Ja, hier ist es schön finster,« sagte sie, bockend wie ein Kind. »Hier werd' ich Ihnen alles – alles gestehen. Aber die Tür müssen Sie zumachen. Es darf kein Licht reinkommen.«
Lilly schloß die Tür des Musterzimmers.
Nun saßen sie ganz im Dunkeln. Nur der Dämmer des Spätabends, der vom Kanal her durch die noch dünn belaubten Kastanienkronen drang, goß ein zerfließendes Grau über das weinende Gesicht.
»Ich habe vorhin von einer gesprochen,« sagte die Freundin, »die ihre Abenteuer auf der Straße sucht. Und da sind Sie vor Grauen hochgesprungen … Wissen Sie, wer so eine ist? Ich bin so eine.«
»Um Gottes willen,« rief Lilly.
»Ja, ich bin so eine. An den Abenden, an denen mein Rotkopf mich allein läßt, ziehe ich mich ganz dunkel an und fahre in fremde Stadtgegenden, wo mich kein Bekannter treffen kann … Wenn mir beim Begegnen einer gut gefällt, werfe ich ihm einen Blick zu – und dann kehrt er auch meistens um und spricht mich an – und dann gehe ich mit ihm in gewöhnliche Bierhäuser – oder in eine kleine Konditorei, – wohin er will … Oder ich setz' mich mit ihm auf eine dunkle Bank, – und wenn er mir dann noch besser gefällt, – gehe ich mit ihm auch – – wohin er sonst will.«
»Ach wie ist das schrecklich!« sagte Lilly und drückte die Hände gegen die Augen. Nun wußte sie, warum es sie damals vor ein paar Monaten immerfort und immerfort auf die Straße hinabgezogen hatte, warum ihr ein wohliger Schauer den Leib hinunter gelaufen war, wenn einer im Dunkeln sie angeredet hatte. Nur daß sie freilich zu ängstlich gewesen war, ihm Antwort zu geben.
»Und jetzt, wo Sie das von mir erfahren haben, werden Sie mich wohl nicht länger auf Ihrem schönen Sofa dulden wollen,« rief Frau Jula; »sagen Sie es nur frisch heraus. Ich geh' schon …« Und sie griff bettelnd nach Lillys Händen.
Die kam sich wie eine Samariterin vor, die einer Schwerkranken den Beistand zu leisten hat, den der Augenblick verlangt.
»Warum tun Sie das nur?« fragte sie weich. »Sie sind doch nicht so einsam. Wie ist das alles gekommen?«
»Ja, wie ist das gekommen? … Wissen Sie denn, wie bei Ihnen das alles kam? Diejenigen, die uns Schwäche vorwerfen, die haben klug reden … Eine Notwendigkeit reicht immer der anderen die Hand … Aus jedem Wunsch wächst wieder einer. Und man glaubt ja auch immer das Richtige und das Gebotne zu tun.«
»Ja, das ist wohl wahr,« stammelte Lilly, der Entscheidungsstunden des eigenen Lebens gedenkend.
»So hab' ich mir immer gesagt: Mein Dichten verlangt's. Erlebnisse muß ich haben, Bilder muß ich haben, den ›Frisson‹ muß ich haben, wie der Franzose sagt … Aber das ist ja alles bloß ein Vorwand … Das Wahre ist: Man sucht und sucht und sucht … Der eigne Mann ist es nicht … Und der Rotkopf ist es auch nicht … Und alle die andern, die Kaufmannsschwofe und die Äh-Äh-Leutnants, die sind's auch nicht … Aber irgendwo muß er doch sein! Der fremde Herr am Nebentisch, der ist es ganz sicher … Und man verständigt sich – und dann ist er's auch nicht … Und die Wertvollen sind es erst recht nicht. Denn die geben sich wohl die Mühe, uns in Besitz zu nehmen, aber die Mühe, nachzufragen, ob vielleicht auch in uns was Wertvolles ist, die geben sie sich nicht. Und so sucht man denn weiter … Vielleicht wird's dann einer von der Straße sein … Und dann wird es schließlich ein Fieber … Das frißt einen ganz auf … Manchmal kann ich gar nicht schlafen in Erwartung des nächsten dunkeln Abends, wenn ich mich wieder rumtreiben werde … Sehen Sie nun, daß ich untergehen muß? … Und wie ich heute Ihren schön gedeckten Abendbrottisch sah, da ist mir mit einemmal wieder die Sehnsucht nach Hause und meinem Mann gekommen. Ja, die kommt manchmal. Er hat plierige Augen und riecht immer nach Karbol … Ach, den ekligen Karbolgeruch – möchte ich doch zu gerne wieder riechen … Und mit dem Stethoskop darf er meinetwegen auch wieder nach mir schmeißen. Er hat ja auch geschrieben, ich soll zurückkommen. Wenn ich will, kann ich … Und ich bleibe doch hier … Und geh' unter … Ja, das Leben ist witzig.«
Sie stand auf und tastete nach Hut und Hutnadeln, die auf dem Tische liegen geblieben waren.
Lilly wollte sie so nicht ziehen lassen.
»Wenn Sie fühlen, daß Sie daran zu Grunde gehen, daß das ein Gift in Ihrem Blute ist, warum wehren Sie sich nicht? Warum merzen Sie es nicht aus? Der bloße Wille muß doch da schon helfen können.«
»Das habe ich mir auch oft gesagt,« erwiderte Frau Jula. »Bloß ich habe nie einen gehabt, mit dem ich davon habe reden können, der mir hätte beistehen können. Nun ich Sie gefunden habe, da wird es mir leichter werden. Nun fühle ich, ich könnt's. – Ja, ich könnt's.«
»Wollen Sie's mir versprechen?« fragte Lilly, ihr die Hand entgegenstreckend.
»Ja, ich versprech's,« rief sie und schlug freudig ein. »Ja, Sie werden meine Retterin werden. Sie sind es schon geworden, das fühl' ich. – Und zum Danke dafür will ich aufpassen wie ein Schießhund, daß man Sie mir nicht verdirbt. Sie sollen nicht werden wie ich oder eine der anderen.«
»Ach, ich werd' mich schon halten,« stammelte Lilly.
»Ja, das sagen Sie so! … Aber wenn erst die große Ode kommen wird … Und ›Er‹ wird immer fader, warten Sie man! … Zu sagen hat man sich schon lange nichts mehr … Und Kinder darf man auch nicht kriegen … Gottes willen! … Und wir kriegen sie ja auch nicht, denn die Mittel dagegen kennt jede. Sein Leben darf man auch nicht mit ihm teilen; da läßt er uns bloß so weit rein, als er muß … Und hinter allem fühlt man immer die Feindschaft der Verwandten, die uns für eine Art von Harpyien halten … Und dann die verfluchten Heiratspläne, die er uns immer auftischt, wenn er uns ärgern will … Na, und dann vor allem die Sehnsucht … Die ist wie ein ewiger leiser Zahnschmerz, ja, wie ein Zahnschmerz … Du willst nicht dran denken, tust es auch nicht … Aber wo du gehst und stehst, quält's dich … Denn so kann das Leben doch nicht zu Ende gehen! Irgend was muß sich doch noch ereignen. Das ist viel schlimmer als in der Ehe … Warten Sie man! … Warten Sie man!!«
Lilly wurde es von dem allen immer weher ums Herz. Eine wilde Trostlosigkeit wollte über sie herfallen.
»Hören Sie auf,« bat sie. »Wenn's kommen soll, kommt's zeitig genug. Ich will nicht daran denken.«
»Haben recht, mein Süßes,« sagte Frau Jula. »Es hilft ja auch nichts.«
Und sie nahm Abschied.
»Werden Sie sich auch an Ihr Versprechen erinnern?« fragte Lilly noch vor der Flurtür.
»Immer und immer. Das schwöre ich.« Und sie schlüpfte hinaus.
Mit wüstem Kopf kehrte Lilly in den dunkeln Salon zurück und lehnte sich traurig und gedankenlos zum offenen Fenster hinaus, um einen Atemzug frische Luft zu schöpfen.
Da sah sie die kleine Frau, die eben aus der Haustür getreten war, behend und zierlich den Bürgersteig entlang trippeln.
Ein Herr in Zylinder und Lackschuhen kam ihr entgegen, schritt an ihr vorüber, – stutzte, – machte halt – kehrte um – lüftete, als er neben ihr angelangt war, mit übermäßiger Höflichkeit den Hut – –
Lilly sah im Schein einer Laterne ihr Gesicht neugierig und zutunlich zu ihm emporlächeln – – – und dann gingen sie friedlich mitsammen weiter.