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XIX

Die alte Blumenkleberin in der Neanderstraße hatte sich nicht wenig gewundert, als eines Tages ihre einstige Mieterin, die sie nur als große Dame kannte, in schlecht sitzendem Alpakafähnchen und giftgrün garniertem Sailorhut, um Aufnahme bittend, vor ihrer Tür aufgetaucht war.

Aber das möblierte Fräulein des Jahres hatte sich vor kurzem verheiratet, und die gute Stube mußte vermietet werden.

Darum geschah es, daß nun schon seit einer Woche Frau Laues feuerrote Plüschgarnitur wieder in Lillys Leben hineinglühte.

Die Bilder berühmter Mimen lächelten gönnerhaft auf sie hernieder, und bei der Morgentoilette ermahnte sie der Spruch:

»Willst Du gut gewaschen sein,
So halte Dein Gewissen rein.«

Konrad war rührend um sie besorgt gewesen, hatte sofort sein ganzes Vermögen – fünfhundert Mark ersparte Honorare – von der Bank geholt und in den Läden für sie eingekauft, was Zeug und Leder hielt. Denn in ihrem Aufzuge war sie ja außer stande gewesen, selber für sich zu sorgen.

Drollige Dinge hatte er sich von den Verkäuferinnen aufreden lassen. Es wäre zum Totlachen gewesen, hätte nicht ein großer Teil seines Geldes daran glauben müssen.

Zog sie den Trödel an, so kam sie sich wie maskiert vor, und um nichts in der Welt wäre sie zu bewegen gewesen, noch einmal darin auf die Straße zu gehen.

Frau Laue schüttelte bedenklich den Kopf.

»Mit den schönsten Staatskleidern und Broschen und Armbändern und allen möglichen Sachen sind Sie vor vier Jahren von mir weggezogen, und mit solchen Lappen kommen Sie wieder zurück. Das scheint mir nicht die richtige Karriere, Lillychen.«

Auch Konrad fand keine Gnade vor ihren Augen.

»Der ist zu jung für Sie,« sagte sie, »und auch nicht schick genug, 'ne ideale Gesinnung mag er ja haben – sonst würde er Ihnen was pfeifen – aber ich sag' Ihnen: Wo 'ne ideale Gesinnung is, da gibt's immer 'n Malheur.«

Lilly fand das Geschwätz der Alten höchst verabscheuenswert. Da sie aber den ganzen Tag über nichts zu tun hatte, – Konrad konnte immer erst am Abend kommen – so setzte sie sich aus alter Gewohnheit doch wieder neben sie und half ihr Blumensträuße zusammentippen wie in alten Zeiten. Dabei war ihr manchmal zu Mute, als sei sie niemals weggewesen.

An Adele hatte sie gleich am ersten Tage geschrieben, – ohne Angabe der Adresse natürlich – sie möchte um ihretwillen unbesorgt sein und die Wohnung bis zur Heimkehr des Herrn in der bisherigen Weise weiter verwalten.

Schwieriger gestaltete sich der Abschiedsbrief an ihren alten Freund.

Von Konrad erwähnte sie nichts – die Verlobung sollte bis auf weiteres geheim bleiben – und gab als Grund ihrer Flucht nur das unbezwingliche Verlangen an, endlich ein neues Leben zu beginnen. Auch daß sie niemandem bei der Ausgestaltung seiner Zukunft im Wege stehn wolle, ließ sie einfließen und fand zum Schlusse herzenswarme Worte, die der Trennung jede Bitternis nahmen.

Als sie den Brief überlas, kam ein richtiger Abschiedskummer über sie, dessen sie sich ein wenig schämte. – –

Die Tage gingen dahin.

Das neue Leben, das seit Jahren der Traum ihrer Träume gewesen war, hatte begonnen, und noch dazu mit so viel Glückszuversicht beladen, wie keine Phantasie sie je herbeizuwünschen gewagt hätte.

An der Seite des geliebten Mannes, dessen Besitz zu ersehnen, noch vor wenigen Tagen eine frevlerische Vermessenheit gewesen wäre, schritt sie entsühnt, gerettet, wiedergeboren in die bürgerliche Gesellschaft zurück, aus der sie für immer verstoßen gewesen.

Wer hätte das jemals für denkbar gehalten?

Und doch war sie nicht im stande, sich zum Vollbewußtsein ihres unerhörten Glückes durchzuringen.

Sie mochte sich klar machen, soviel sie wollte, daß es sich in diesen Tagen um nichts als eine Übergangszeit handle, die in Bälde versunken sein würde, – was in dem fremd gewordenen Hause an Jämmerlichkeit und Geschmacksverirrung, an Armeleutsgeruch und seelischer Muffigkeit auf sie eindrang, das Fehlen geeigneter Kleidung, Geldmangel, schlechtes Essen, Bedienungslosigkeit, das alles wirkte stark genug auf ihr Gemüt, um sie der Einbildung verfallen zu lassen, daß sie, anstatt zu neuen Ehren emporzusteigen, plötzlich aus Glanz und Wonne in dumpfe Niedrigkeit hinabgestoßen sei.

Mochte sie sich noch soviel ob dieser undankbaren Stimmung schelten, die war da und ließ sich nicht wegwischen.

Und wie gar hing folgendes zusammen?

Vor fünf Jahren, als sie von den wirklichen Höhen des Lebens gekommen war, gepflegt, gehätschelt, an Prunk und Anspruchmachen gewöhnt, wie nicht viele Menschenkinder, hatte sie unter der Armseligkeit dieser Umgebung fast gar nicht gelitten, hatte sich zu Zeiten sogar leidlich geborgen darin gefühlt und war doch ganz ohne Hoffnung gewesen; – jetzt aber, da das träge Behagen einer sumpfigen Existenz glücklich hinter ihr lag, da der Geliebte an ihrer Seite schritt, bereit, die Tore zu einem nie geahnten Glücke weit vor ihr aufzureißen, vermochte sie zwischen den roten Plüschmöbeln nicht mehr zu atmen, grämte sich um Nichtigkeiten, und verlangte nach Badezimmer und Friseuse.

Irgend etwas mußte ihr in diesen Jahren abhanden gekommen sein. Sie sann und sann und fand nicht, was es war.

Zu allen diesen Kümmernissen kam noch die Sorge um Konrad.

Sie hatte ein ewiges Herzpochen, wenn sein Bild vor ihrer Seele stand. Wie heimliche Gewissensangst war es, wie ein Verlangen nach Sühne, wie ein niemals schweigender Vorwurf für sich und – wozu es verhehlen? – auch für ihn.

In jauchzender Sehnsucht wie sonst vermochte sie gar nicht mehr an ihn zu denken, und doch saß sie immer auf der Lauer, ob nicht mit der Rohrpost irgend eine Botschaft käme.

Schrieb er wirklich, so war es nicht genug, und schwieg er, so grollte sie. Dabei wußte sie ganz genau, daß er während des Tages kaum eine Sekunde für sie aussparen konnte, daß er schuften mußte wie nie bisher.

Abends zwischen acht und neun kam er endlich.

Und dann war er noch bepackt mit Blättern und Büchern aller Art. Er hatte Manuskripte zu lesen, Korrekturen durchzusehen und Briefe zu erledigen. Kaum zum Essen nahm er sich Zeit, und während er seine paar Bissen hinunterschlang, zuckten immerfort schmerzhafte Erinnerungen an Dinge, die er tagüber vergessen hatte, durch seinen abgehetzten Kopf.

An Liebesstunden wurde gar nicht mehr gedacht. Aber meistens schlief er mitten beim Arbeiten in seiner Sofaecke ein.

Dann konnte sie so recht erkennen, wie müde und abgefallen er war. Und pflegen tat er sich auch nicht mehr. Die Kleider hingen ungebügelt an ihm herum, und statt des samtblauen Schimmers auf den Backen, der immer ihr Entzücken gewesen war, starrten dunkle Wülste und blonde Stoppeln.

Für ihr Leben gern hätte sie erfahren, wie er im tiefsten Grunde seiner Seele über sie dachte. Aber es war nichts aus ihm herauszuholen. Schweigend flammten seine Augen sie an, und die Lippen lagen so schmal aufeinander gepreßt, als habe ein Messerschnitt sie getrennt.

Freilich, an ihm zu zweifeln hatte sie kein Recht. Denn sie wußte ja, daß er in jeder Minute, die seine Berufstätigkeit ihm übrig ließ, an der Ausgestaltung der gemeinsamen Zukunft arbeitete.

In Buenos-Aires war die Stelle eines deutschen Gymnasiallehrers frei – in Caracas desgleichen – sogar Universitätsprofessor konnte er werden, – dort drüben, versteht sich, jenseits des großen Teiches, – er hatte nichts weiter nötig, als von berühmten Akademikern ein paar Empfehlungen beizubringen.

Alle diese Bemühungen galten nur für den Fall, daß der Onkel seine Einwilligung verweigerte und den unfolgsamen Erben fallen ließ.

Sagte er Ja, gab er die Mittel für den zu gründenden Hausstand, dann konnte man in selbstgewählter Einsamkeit leben, wo man wollte und wo das geliebte Werk am besten gedieh.

Konrad hatte ihn sofort von der Verlobung benachrichtigt und in herzbeweglichen Worten Lillys Lebensgang klargelegt. – Die Flecke, die an ihr hafteten, hatte er nicht vertuscht, doch die Vorzüge ihrer Natur, ihre innere Unberührtheit, ihren Seelenadel, ihren Geistesreichtum, die Fülle ihrer idealen Interessen umso heller leuchten lassen.

Einzelnes las er ihr nachträglich aus dem Entwurf des Briefes vor, der ein kühnes Zeugnis revolutionären Empfindens geworden war.

»Über die Enge pfahlbürgerlicher Lebensformen, über die Unbarmherzigkeit gesellschaftlicher Standgerichte, über das sittenhütende Pharisäertum, das mit dem Kodex verzopfter Familienhaftigkeit alles zu Boden schlägt, was nach freiem und hochgemutem Handeln drängt, weiß ich mich und – Gott sei Dank – auch Dich erhaben. – Du hast die Wandelbarkeit der Sittengesetze, den hohlen Anspruch eines jeden, als alleiniges, gottgewolltes Dogma zu gelten, und die heuchlerischen Schleichwege, auf denen man sich ihrer Herrschsucht zu entziehen versteht, in allen Weltteilen kennen gelernt; – und Du weißt, daß es auf moralischem Gebiete nur eines gibt, was Achtung und Verehrung unbedingt für sich verlangen darf: den Willen zur Kallokagathia, zu jener Lebensgestaltung, in der den Adelsmenschen aller Zeiten das Schöne und das Gute in eins zusammenfließt. – Ja, schön und gut, – so ist sie, so ist ihr Wollen und ihr Dulden, und so hat sie Hoheitsrecht und Morgensonnenleuchten in mein Leben gebracht.«

Wie war das herrlich und rührend gesagt!

Wer konnte stumpf genug sein, solchen Worten zu widerstehen!

Und damit tröstete sie ihn auch, wenn die Ungewißheit über die nächste Zukunft ihn zu Boden drücken wollte.

Fünf Tage dauerte es, ehe die Antwort kam, die ersehnte, die zweier Menschen Gedeihen oder Verkümmern in sich barg.

Wenn man sie las, sah man die schlauen Zwinkeraugen des Schreibtischbildes leibhaftig auf sich gerichtet.

 

»Mein lieber Junge!

Von »Kallokagathia« und ähnlichen Fremdwörtern verstehe ich ja nichts. Denn es ist bald ein halbes Jahrhundert her, seit ich aus der Schule gelaufen bin. Aber ich schmeichle mir, ein gutes Augenmaß zu besitzen und Menschengesichter halbwegs richtig zu taxieren, beim Produktenhandel wie auf der Yoshiwara, in den diversen Bulliers wie beim Baccarat. Was nicht hindert, daß ich unablässig ausgebeutelt worden bin, und daß insbesondere in Weibersachen mein Leben nur eine einzige Kette von Dummheiten gewesen ist. Einmal wollte ich mir durchaus eine junge Cirkassierin mitbringen, weil ihre Augenbrauen hübsch zusammengewachsen waren, ein anderes Mal wollte ich eine kleine Musme heiraten, weil sie mir die Füße so gut zu frottieren verstand und so weiter. Von den verschiedenen Seelenrettungen rede ich gar nicht erst, denn in diese Lage kommt jeder.

Nichtsdestoweniger hat der Gott der alten Schufte und Junggesellen – bei Deinen klassischen Kenntnissen kannst Du mir vielleicht sagen, wie er heißt – mich bisher in Gnaden davor bewahrt, daß meine Pläne reif werden konnten.

Dein Fall scheint nun allerdings wesentlich anders zu liegen. Verhält es sich, wie Du erzählst, ist Deine Braut wirklich eine solche Musterkarte seelischer Vorzüge – vorkommen tut alles! – und insbesondere: posiert sie nicht auf die büßende Magdalena los, dann wird es mir ein Vergnügen sein, der Welt der Ehrbarkeit, die mir mein Leben lang ein Greuel gewesen ist, eine Nase zu drehen, indem ich Dir meinen klingenden Segen gebe. – Hat aber Deine Absicht eine gewisse Familienähnlichkeit mit meinen eigenen zarten Erinnerungen, dann verzeih mir, wenn ich die Verantwortung für das, was Du in diesem Falle noch ›Zukunft‹ nennst, nicht mehr tragen will und Dich notgedrungen ersuche, von einer ferneren Verbindung mit mir freundlichst absehen zu wollen.

Um hierüber nach bestem Vermögen ins klare zu kommen, werde ich übermorgen in Berlin sein und bitte Dich und Deine Braut, daß Ihr Euern Abend für den alten Onkel freihaltet. – Den Ort des Rendezvous – ich weiß nicht, wo man augenblicklich bei Euch am besten ißt und trinkt – werde ich Dir noch mitteilen.

Bis dahin

treulich
Onkel Rennschmidt.«

 

Zum erstenmal in dieser trüben Zeit sah Lilly ein Lächeln entspannender Seelenruhe auf Konrads Gesicht.

»Stellt er sich so, dann ist keine Gefahr,« sagte er. »Sein Mißtrauen muß er schon beim ersten Blicke fallen lassen … Und im übrigen: wer auf der Welt könnte dir widerstehen? Du brauchst bloß ein bißchen nett zu ihm zu sein und hast ihn schon zum Verehrer.«

Aber Lilly hegte ihre stillen Bedenken.

Ja, wäre sie im Besitz ihrer Garderobe gewesen, dann hätte sie vielleicht nach sorgfältigem Wählen und Ausproben des Bildes sicher sein können, das sie dem Onkel darbieten würde. Jetzt aber – mit den zwei lächerlichen Magazinkleidchen, die nur durch mühsames Stecken tragbar zu machen waren, ohne Schmuck und die sonstigen tausend Erfordernisse einer wohlgepflegten Erscheinung – wo sollte sie da das Selbstbewußtsein hernehmen, das den gewitzten alten Frauenkenner zum Kapitulieren zwang?

»Ich fürchte, ich werde mir von deinem Gelde noch irgend ein Abendkostüm besorgen müssen,« sagte sie zaghaft.

Mit Freuden stimmte er zu. Was ihr noch irgend fehlte, sollte sie haben. Auch einen Straußenfederhut und einen Spitzenumhang – grade so einen wie ihr voriger.

Alles für zweihundertsechzig Mark!

Das war die Summe, die er als Rest seiner Habe zu neuen Anschaffungen in ihre Hände gelegt hatte.

Was er sich von dem Schick der großen Welt wohl dachte, der gute Junge!

Als er fort war, ging sie mit sich zu Rate.

Während sie sich absorgte, um mit ihren unzureichenden Mitteln irgend ein Gschnas zusammenzustoppeln, hingen in den Schränken der alten Wohnung die herrlichsten Kleider dutzendweise, Kleider, die er zudem niemals im Leben gesehen hatte, denn sie waren ja nie gemeinsam auf einem Feste gewesen. Und der Spitzenumhang, der ein Vermögen gekostet hatte, war auch da. Und, weiß Gott, was sonst noch alles! Man wagte gar nicht, daran zu denken.

Aber mit aller Kraft warf sie die Lockung von sich. – Das Versprechen war beschworen und besiegelt.

Jeden andern mochte man betrügen, aber Konrad nicht.

Und darum beschloß sie, am nächsten Morgen sich auf die Wanderschaft zu begeben, um bei Gerson oder Wertheim – oder sonstwo – unter den zurückgesetzten Sachen irgend einen Glücksfund zu ergattern.

Aber in allen Magazinen kannte man sie und wußte, daß sie, mochte sie auch immer sparsam geblieben sein, doch nur das Beste vom Besten brauchen konnte. Was für Augen würden die Direktricen schon machen, wenn sie in ihrem Plunder vor ihnen auftauchte?

Nein, das war zu peinlich. So ging es beim besten Willen nicht.

Sie sann und sann, und immer wieder kehrten ihre Gedanken zu den Kleiderschränken zurück, wo ihre Schätze in hundert Abstufungen geschmackvoller Auswahl harrten.

Aber nirgends fand sich ein Hintertürchen, das gegebene Versprechen zu umgehen, nirgends ein Vorwand, das der Untat ihre Schwere nahm.

Trotz aller dieser Schmerzen war die folgende Nacht liebkosender Träume voll. Denn die neu aufgegangene Hoffnung leuchtete tröstlich hinein.

Und wie immer, wenn Lilly im Schlaf besonders wohl zu Mute war, fühlte sie sich von einem Reigen vertrauter Melodien friedlich eingewiegt. Die »Mondnacht« ließ sich erkennen und Griegs »Ung Birken« und mit den Rheintöchtermotiven zusammen das Hohe Lied.

Im Halbwachen klang es immer noch: »Laß uns wandern, Liebster, weit ins Feld –«

Aber dann plötzlich fuhr sie erschrocken mit einem Aufschrei im Bette empor.

Das Hohe Lied – die Notenrolle – ihr Kleinod – ihr Vatererbe – wo war es? –

Im Schreibtisch des Ecksalons lag es – vergraben, vergessen.

Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gedacht.

Nun gab es keine Möglichkeit mehr, an dem Versprechen festzuhalten. Hätte sie in jener großen Stunde ihren Kopf beisammen gehabt, sie würde es nie gegeben haben.

Um einen Vorwand war sie verlegen gewesen und hielt statt dessen eine Rechtfertigung in Händen.

Sie fühlte auch nicht die geringsten Gewissensbisse mehr. Es war ja eine heilige Sache, die sie verfocht. – –

Um acht früh trat sie schon aus der Haustür.

Der sonnendurchschienene Dunst des roten Augustmorgens wiegte sich zum veilchenfarbenen Himmel hinauf  … Von den vergilbten Krüppelbäumen sprühten rußige Tropfen … Die Drähte der elektrischen Bahnen sangen ihr heimliches Sturmlied.

In dem Menschenhäuflein der nächsten Haltestelle, das von Minute zu Minute sich sammelte und wieder hinschmolz, stand sie, auf den Wagen wartend, der sie nach dem fernen Westen führen sollte, und schaute beklommen nach rechts und nach links, ob nicht irgendwo Konrad zufällig daherkäme.

Dann – im Bahnwagen – hielt sie das Zeitungsblatt, das sie gekauft hatte, hoch vors Gesicht, und auf dem kurzen Kanalwege schlich sie von Baum zu Baum wie ein Deckung suchendes Wild.

Endlich landete sie vor ihrem Hause.

Der Portier, der wie allmorgendlich seinen Vorplatz fegte, empfing sie mit Hallo. Der Grünkramhändler lächelte ihr aus seinem Kellerloch ein spitzbübisches Willkommen zu, und seine beiden Göhren, die ab und zu einen Bonbon von ihr erhalten hatten, hingen sich jubelnd an ihr Kleid.

Man fühlte doch gleich, daß man in die Heimat kam.

Adele schlief noch.

Warum sollte sie nicht? Sie hatte ja nichts zu tun.

Aber dann, als sie geöffnet hatte, war die Freude auch umso größer. Sogar dicke, echte Tränen weinte sie, und Lilly wußte mit einemmal, was sie an ihr verloren hatte.

Alles lachte blitzblank im Morgensonnenlicht, und sogar die Blumen waren begossen.

Und der Zeisig schlug grüßend mit den Flügeln, und Peterle wollte seine Gitterstäbe zerbrechen, um rascher auf ihre Schulter zu kommen.

Man wußte nicht, wohin vor lauter Fragen und vor lauter Liebe.

Drei Briefe lagen auf dem Servierteller und zwei Depeschen.

Die Briefe trugen Richards Handschrift, die Depeschen waren an Adele gerichtet und erkundigten sich dringend nach der Adresse der Verschwundenen.

Inzwischen aber habe der Herr alle seine Geschichten aufgegeben und sei längst wieder in Berlin. Er habe auch in den Zeitungen Aufrufe nach ihr erlassen und komme jeden Tag um die gewohnte Stunde, um nachzusehen, ob sie Erfolg gehabt hätten. Und dabei trinke er den Tee auf seinem alten Platze und sitze ganz still und rauche Zigaretten bis zur Kontorstunde.

Ob sie ihm von Konrad erzählt habe?

Was gnädige Frau sich wohl von ihr dächten? – Ob sie eine wäre, die für die Ehre ihrer Dame nicht einzustehen wüßte? Und das Beste würde schon sein, gnädige Frau käme wieder und täte, als ob nichts geschehen wäre. Das hätten ihre früheren Damen immer so gehandhabt.

Lilly bat sie, ihr den kleineren der beiden Lederkoffer vom Boden zu holen, sie wolle einiges mitnehmen, was von alters her ihr Eigentum sei.

Als Adele sich maulend hinausgeschoben hatte, holte sie zuerst Konrads Briefe aus ihrem Versteck hervor, dann lief sie eilends zum großen Toilettenschrank, riß die Kleider von den Bügeln und warf zur Auswahl übers Bett, was sie nur brauchen konnte.

Und endlich fiel auch das Hohe Lied ihr ein.

Sie öffnete den Schreibtisch.

Die Notenrolle, die im untersten Schubfach, an die Hinterwand gedrückt, seit Jahren ihr zweckloses Dasein verträumte, hatte ein ganz fremdes Gesicht bekommen.

Das Gummiband, das sie zusammenhielt, war rissig und aufgeweicht.

Als Lilly es lösen wollte, fiel es in klebrige Fetzen auseinander.

Die gekrümmten Bogen entglitten ihrer Hand und flogen einzeln über den Teppich.

Da lagen sie nun alle – die Arien und die Sprechgesänge, die Duos und die verbindenden Orchestersätze – bunt durcheinander geworfen und obenauf das Klarinettensolo der Turteltaube, das sie der Mutter schon nachgesungen hatte, als sie grade erst bis zum Lallen gediehen war.

Verwundert besah sie das wirre Häuflein.

Alles war vergilbt und stockig. An vielen Blättern klebte Blut, ihr eignes Blut, das einst unter dem Brotmesser der Mutter drüber hingeflossen war. Mit schwarzen und rotbraunen Flecken hatte es große Stellen übertüncht. Andere waren samt dem Papier darunter weggefressen. Das hatten auf Schloß Lischnitz die Mäuse getan.

Da war es nun also – ihr Hohes Lied!

Keine Hoffnung mehr. Kein Zukunftshort – kein treuer Eckart mehr durch Lebensnöte und kein Wegweiser zu goldenen Höhen! … Ein verwittertes Überbleibsel nur noch, ungenützt und abgenützt zugleich, – ein ehrwürdiger Ballast, den man mit sich schleppt, ohne zu wissen, warum, – ein Licht, das erloschen, eine Weisheit, die sinnlos geworden.

Achselzuckend kniete sie nieder, sammelte die vielen schmächtigen Rollen und versuchte, sie wieder zu einer einzigen großen ineinander zu fügen, achtlos und eilig, wie sie grade lagen.

»Ordnen kann ich die Stücke ja später einmal,« dachte sie, und ein leiser Zweifel stieg in ihr auf, ob sie es jemals tun würde.

Adele kam mit dem Koffer … Es hatte merkwürdig lange gedauert. Sie gab verworrene Antworten und sah heimlich nach der Uhr.

Dann öffnete sie den Deckel, und Lilly warf die Rolle auf den Boden hinab.

Der gähnende Schlund verlangte nach weiterem Füllsel. Die Kleider lagen ausgebreitet auf dem Bette. Die Schuhe standen neben dem Waschtisch … Hüte, Schleier, Blusen, Spitzenmantel und Seidenjupons – alles wartete und schien zu rufen: »Nimm mich mit.«

Für einen Augenblick schloß sie aufstöhnend die Augen, des Opfers gedenkend, des einzigen, das er von ihr gefordert hatte.

Aber es mußte ja sein.

Beider Zukunft hing daran.

»Die Laue versteckt mir's, die Laue kann's hernach auch behalten,« dachte sie.

Dann, einen raschen Entschluß fassend, stürzte sie auf die Kleider los und raffte blindlings zusammen, was ihr nur in die Hände fiel.

Auch die goldgekrönten Elfenbeinbürsten nahm sie an sich und den dreiteiligen Spiegel und Brompulver und den Aufbewahrungsschein für die Pelzsachen und noch tausenderlei Krimskrams.

Und auch den Schmuck vergaß sie nicht.

»Als Notgroschen für ihn,« dachte sie.

Derweilen sollte Adele eine Gepäckdroschke besorgen. Aber auch dieses Mal dauerte es Ewigkeiten, bis sie wiederkam.

Der Portier half den Koffer hinabtragen, die Hutschachteln schwenkte Adele in der freien Hand.

Noch ein Streicheln über des Zeisigs graugrüne Flügel, ein Kuß auf des Äffchens Samtschnauze, dann schloß sich die Tür für immer.

Ob gnädige Frau nicht eine Adresse angeben wolle.

Wie hinterhältig sie dreinschaute!

»Später, liebe Adele, schreibe ich Ihnen, und hoffentlich kommen wir noch einmal zusammen.«

Die liebe Adele antwortete nicht, sondern blickte nur erwartungsvoll die Straße hinunter. – –

Als Lilly eine Minute später am Kanal entlang fuhr, sah sie, zum Wagenschlag hinausschielend, ein blankes, gelbstreifiges Mietsauto mit stärkster Geschwindigkeit an sich vorübersausen.

Darin saß Richard. Im Fluge erkannte sie ihn.

Krebsrot, schiefköpfig stierte er mit wilden, suchenden Blicken an ihr vorbei nach der Richtung des Hauses hin, das sie soeben verlassen hatte.

Eilends ließ sie den Kutscher in eine Nebenstraße biegen, denn bevor nicht ihr Schicksal auch vor der Welt entschieden war, durfte sie ihm nicht begegnen.

Aber schon nach wenigen Minuten hörte sie hochklopfenden Herzens dasselbe Geknatter, das eben noch im Weiten verhallt war, hinter sich stärker und stärker werden.

Die gelbe Wand des Autos schoß halb an ihr vorbei – machte mit jähem Rucke Halt; – ein Zuruf erklang, der ihren Wagen gleichfalls zum Stillstehen brachte; – – und da erschien Richard auch schon dicht neben ihr, den aufgerissenen Wagenschlag in der zitternden Hand.

»Wo willst du hin?«

Seine Stimme gellte in weibischem Fistelton. Der Knoten seines Kehlkopfs glitt mit krampfhaftem Schlucken über dem hohen Kragen auf und nieder.

Sie fühlte sich jetzt ganz ruhig, ganz den Verhältnissen gewachsen.

Wie ein armer, hilfloser Schatten erschien er ihr, er, der so lange ihr Herr und Meister gewesen war.

»Ach, bitte, laß mich doch weiterfahren, Richard!« sagte sie. »Ich habe ja brieflich Abschied von dir genommen … Jetzt hab' ich mir noch ein paar Sachen geholt. Und damit sind wir auch fertig. Wozu sollen wir uns noch weiter herumquälen?«

»Kehr um!« knirschte er.

»Warum soll ich umkehren?«

»Kehr um, sag' ich! Du weißt, wo dein Zuhause ist … Ich lass' dich nicht länger in der Welt 'rumbummeln! … Weiß Gott, was dir da alles passiert! … Kutscher, umkehren!«

Der Kutscher wandte das rotbrandige Gesicht fragend zu seiner Dame hernieder.

»Verzeih, Richard! Über diesen Wagen hab' ich allein zu verfügen – und über mein künftiges Leben auch … Gerade so, wie du über das deine verfügt hast.«

»Ach was, Blödsinn! Wenn du damit etwa auf die Amerikanerin anspielst, die kann mir schon lange gestohlen bleiben … Aber dumußt – zurück … Du mußt zurück … Du mußt zurück.«

Er griff mit beiden Fäusten nach ihrem Rocksaume, als wolle er sie am Kleide aus dem Wagen herauszerren.

»Ich verlang', daß du zurückkommst … Ich kann nicht mehr schlafen – ich kann nicht mehr arbeiten – – so gewöhnt hab' ich mich an dich … Ich wär' auch nach der Hochzeit gleich wieder dagewesen. Es hätte sich nicht 'n Jota zwischen uns geändert … Und bei dir steht alles noch, wie's war, das hast du ja eben gesehn … Und Peterle frißt gar nicht mehr, sagt Adele. Und Adele bangt sich auch … Und sie sagt, es geht einfach nicht ohne dich … Und ich setz' dir eine lebenslängliche Rente aus von zwanzig – ach Gott! – von dreißigtausend Mark pro Jahr. Was kommt's darauf an? … Mutter hat nichts dagegen. Mutter sieht, wie ich aushalte … Die weiß, daß ich nu doch nicht mehr heiraten werde, die wird dir nie mehr was tun … Aufs Kontor darfst du auch wieder kommen … Und statt des Monatswagens darfst du die Equipage mit benutzen … Ich schaff' dir auch 'n Telephon an zum Stall … Mutter fährt sowieso nicht mehr aus … Wenn du Lust hast, kauf' ich dir auch ein Auto – vieltausendmal schöner als dies.«

Das war der höchste Trumpf.

Ein Auto ließ sich nicht überbieten.

Darum schwieg er. Auf dem Trittbrette knieend, starrte er ihr weit vornübergebeugt ins Gesicht, den Erfolg seiner Rede abzuwarten.

Sie sah ein, daß sie sich nicht mehr von ihm befreien würde, ohne daß er die Wahrheit erfuhr.

Er tat ihr sehr leid, aber es mußte ja sein.

»Höre, Richard! Was du mir da bietest, ist nichts mehr für mich. Denn ich liebe jetzt – einen anderen Mann, – der mir – weit mehr – geben will als du.«

»Was? – Was? – Was ist denn das für ein junger Vanderbilt?« rief er in eifersüchtigem Hohne. »Sieh mal an! … Von der Seite hab' ich dich ja noch gar nicht kennen gelernt.«

»Er ist kein junger Vanderbilt, lieber Richard. Er ist im Gegenteil so arm, daß er noch nicht einmal weiß, wo er morgen sein Brot essen wird … Aber ich bin – seine – Braut … Und als seine Braut muß ich dich bitten, mir jetzt den Weg freizugeben.«

Sein Mund öffnete sich – sein Auge wurde rund und groß. – Er taumelte zurück – bis gegen die Hinterräder des gelbstreifigen Kastens.

»Weiterfahren!« rief Lilly dem Kutscher zu.

Dann lehnte sie sich in die Wagenecke zurück, tief aufatmend und doch mit leisem Schuldbewußtsein, als habe sie sich allzu leichten Kaufes von dem alten Geliebten losgemacht.

Während der ganzen Fahrt ließ hinter ihrem Rücken das dumpfe Puffen eines sehr langsam fahrenden Autos sich hören. Und als sie ausstieg, da stieg auch Richard aus, – in gemessener Entfernung zwar, doch nahe genug, daß sie einen Blick seines Auges auffangen konnte.

Es war der Blick eines traurigen Hundes.

Wie gehetzt rannte sie die vier Treppen empor, ohne sich um den Koffer zu kümmern, mit dem der Kutscher eine Weile später – aus eigenem Antriebe scheinbar – keuchend heraufkam.

Als sie ihm Geld geben wollte, wies er es zurück.

Der Herr, der unten stehe, habe schon alles bezahlt, sagte er.


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