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V

Also, mein liebes Fräulein,« sagte Herr Doktor Pieper, der hervorragende Rechtsanwalt, »ich bin zu Ihrem Vormund bestellt worden und habe das Amt angenommen, weil ich es für meine Pflicht halte, – die Akten in Sachen Lemke kontra Militzky« – unterbrach er sich, dem eintretenden Bureauvorsteher zurufend, »ja, was wollte ich doch sagen? – richtig – weil ich es für meine Pflicht halte, trotzdem ich ein vielbeschäftigter Mann bin, den Witwen und Waisen nach meinen schwachen Kräften eine Stütze zu sein.«

Er strich sich mit der wohlgepflegten linken Hand über die spiegelnde Glatze und den strohigen Blondbart, unter dem der Lebemannsmund ein feinschmeckerisches Lächeln halb verbarg.

»Meine Mündel machen alle ihr Glück,« fuhr er fort. »Ich suche meinen Stolz darin, daß meine Mündel ihr Glück machen … Wie sie das anfangen, das ist meine Sache … das ist sozusagen Geschäftsgeheimnis, mein liebes Fräulein … Ich bin überzeugt, Sie werden auch Ihr Glück machen, sonst würde ich mich vielleicht weniger für Sie interessieren … Vor allem kommt es darauf an, daß man die jungen Damen richtig plaziert … Die häßlichen machen die meisten Schwierigkeiten … ausgenommen, wenn sie eine gewisse Dosis Selbstentäußerung besitzen … Es ist in solchen Fällen immer nützlich, wenn die jungen Damen sich an die sogenannten christlichen Tugenden halten … Sie gehören übrigens nicht zu den häßlichen, liebes Fräulein, ich muß Ihnen das sagen, – Sie werden es ja wohl auch selber wissen – damit Sie beizeiten lernen Ansprüche machen … Die Hauptkunst des Lebens besteht nämlich darin, die Grenzen zwischen den berechtigten und unberechtigten Ansprüchen abzumessen, das heißt ein Gefühl dafür zu haben, wie weit in jeglichem Falle die Macht reicht, die man besitzt. Bei jungen Mädchen wie Sie –«

Der Vorsteher, ein langes, dürrbeiniges Gestell, stand plötzlich neben ihm, ein Aktenbündel nach ihm hinschiebend.

Wortlos nahm er es ihm aus der Hand und legte es beiseite.

»Um fünf Uhr Ehescheidungssache Labischin, um fünfeinviertel Reimann, Akten Reimann kontra Faßbender … alles bereithalten und Boten stellen, der dieses Fräulein begleitet. In ihren Akten steht, wohin. Es ist gut.«

Der Bureauvorsteher verschwand.

»Also mein liebes Fräulein,« fuhr der Vormund fort, »die Zeit, die ich für Sie habe, ist gleich zu Ende. Daß Sie Ihre Studien nicht wieder aufnehmen können, versteht sich von selbst … Die Mittel sind eben nicht da … Und wenn sie da wären, wüßte ich nicht, ob ich um Ihrer ferneren Lebensaussichten willen gestatten könnte, – mein Gott, man kann ja auch als Gouvernante eine glänzende Heirat machen – es kommt vor – meistens allerdings in englischen Romanen … aber ebensosehr liegt da die Gefahr vor, daß man sich – verzeihen Sie das Wort, ich finde im Augenblick kein anderes, – es ist außerdem das richtige, – daß man sich – verplempert … Am liebsten hätte ich Sie als Empfangsdame in einem größeren photographischen Atelier gesehen, aber dazu sind Sie mir noch nicht sicher genug – dort muß man at first sight einen großen Eindruck machen, weil die Besteller selten wiederkehren … Ich habe daher mehr zum Zwecke einer Probezeit als zu längerem Verweilen eine Leihbibliothek herausgefunden, welche Ihnen genügend Gelegenheit geben wird, Ihr Licht in diskreter Weise nicht unter den Scheffel zu stellen … Die Bedingungen sind natürlich mäßig … Sie bekommen freie Station und zwanzig Mark monatlich und können Ihre junge – wie ich annehme – noch nicht abgebrauchte Phantasie in den Gefilden der Literaturen sämtlicher Völker nach Belieben spazieren führen. So, mein liebes Fräulein, und – mein Gott, warum weinen Sie denn?«

Lilly trocknete rasch die Tränen, die ihr über die Backen liefen: »Ich komme aus dem Krankenhause,« sagte sie, da ihr keine andere Entschuldigung einfiel, »ich bin noch ein bißchen – – verzeihen Sie.«

Der hervorragende Rechtsanwalt wiegte lächelnd das kahle Haupt, dessen blanker Schädel verwöhnt und verliebkost aussah, wie die Wange einer schönen Frau.

»Das Weinen müssen Sie sich auch noch abgewöhnen,« sagte er, »wenn Sie Ihr Glück machen wollen. Tränen sind erst später am Platz, wenn man settled ist … Richtig, noch etwas: Die Sachen, die Ihre arme Frau Mutter besaß, müssen verkauft werden, um aus dem Erlös einen kleinen Anlagegroschen für Sie sicher zu stellen. Ich lege Wert auf ein solches Kapital, möge es noch so winzig sein … Vorerst werden Sie in Begleitung meines Boten nach der Wohnung zurückkehren, – der Schlüssel ist auf meinem Bureau deponiert, – und für sich auswählen, was für Sie aus Gründen des Bedürfnisses oder sozusagen, –« er lächelte wieder, – »der Pietät von Bedeutung ist. Adieu, mein liebes Fräulein! … In einem halben Jahr sprechen Sie freundlichst wieder vor.«

Lilly fühlte eine kühle, weichliche Hand, die keines Druckes fähig schien, einen Augenblick in der ihren, dann wankte sie hinter einem trottelhaften Kanzlisten her, den sie mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand an der Tür vorgefunden hatte, die dunklen Treppen hinab.

Sie wollte reden, sie wollte fragen, sie wollte bitten, – – was? wußte sie selber nicht.

Der Kanzlist schwenkte seinen Schlüssel und sah sich nicht nach ihr um.

Als das dumpfige Wohnzimmer, dessen Dämmerung schmale Lichtbänder spielend durchfluteten, wie eine Gruft – die Gruft ihres Lebens, die Gruft ihrer Jugend – sich vor ihr auftat, da hatte sie ein Gefühl, als wäre nun alles zu Ende, als bliebe ihr nur eines, sich hier einzuschließen und zu sterben.

Der Kanzlist stieß die Läden auf und öffnete die Fenster.

Noch lagen die Kleider auf dem Bette, die Wäschestücke auf der Diele und dicht daneben dunkelten ein paar braune Flecke: das Blut, das aus ihrer Halswunde geflossen war … Auch das Messer lag noch da …

Sie wollte weinen, aber sie schämte sich vor dem Kanzlisten, der mit vorgeschobener Unterlippe stumpfsinnig vor sich hinblies.

Sie warf ihre Kleider in den Reisekorb, mit dem die Mutter in die neunzimmerige Etage hatte übersiedeln wollen, legte etliche Wäschestücke dazu, häufte wahllos ein paar Bücher, ein paar Hefte obenauf, dann schaute sie sich nach Erinnerungszeichen um.

Der Kopf nebelte ihr. Sie sah alles und erkannte nichts.

Dort aber auf dem Tisch, von Gummibändern zusammengehalten, mit ihrem Blute schwarz durchtränkt – dort lag unangetastet, weil niemand seines Wertes sich bewußt – das Hohe Lied.

Sie riß es an sich, klappte den Deckel des Reisekorbes zu, und mit der Notenrolle unter dem Arm schritt sie lebenshungrig ins neue Leben hinein.


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