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XXI

Es war gegen Mittag, als Lilly glückselig erwachte.

Der Onkel gewonnen – die letzte Schwierigkeit aus dem Wege geräumt – die Zukunft als blühendes Fruchtland zu ihren Füßen.

Welch ein possierlicher Ulk war aus der Prüfung geworden, vor der sie so sehr gezittert hatte! Und welch ein mätzchenmachender Hampelmann aus dem alles durchschauenden Weltkenner, der Frauenschicksale zerkaut haben wollte wie Betelnüsse.

Dann, als sie die Erinnerungen des gestrigen Abends zu sichten und der Zeit nach aneinanderzureihen suchte, fiel es ihr mit leichtem Druck auf die Seele, daß zum Schlusse sich alles in einen lichten, von Singsang und Gelächter durchklungenen Nebel auflöste, gradeso wie es drüben – in dem andern Leben – gewesen war, wenn sie mit Richard und der Bande herumgetollt hatte.

Auch wie sie die Treppe herauf und in ihr Zimmer gekommen war, ließ sich nicht mehr enträtseln.

Als der Nebel sich ein wenig spaltete, sah sie daraus ein blasses, in schmerzlichem Staunen versteinertes Gesicht auftauchen, hörte einen Aufschrei, der wie ein Schluchzen oder Stöhnen klang, und sah sich selber schluchzend neben einem Knieenden, der sie mit den Händen von sich schob.

War das geschehen?

Oder war es geträumt?

Und sie hatte doch so schön gesungen und getanzt. Ihre höchsten Künste hatte sie entfaltet … Sollten die ihm etwa mißfallen haben? … War sie am Ende gar in ihrer Ausgelassenheit zu weit gegangen?

Die Sorge wuchs.

Sie sprang aus dem Bette, kleidete sich an und hatte nur den einen Gedanken: Zu ihm.

Um zwölf Uhr klingelte es.

Das war er, das mußte er sein!

Doch als sie zur Flurtür sprang, um sich ihm mit einem Jauchzen des Erlöstseins in die Arme zu werfen, stand sie statt seiner – dem Onkel gegenüber, der seinen Hut zwischen den ekligen Fingern drehte wie ein Bittsteller und mit einem schmalzigen und verkniffenen Lächeln zu ihr aufsah, das ihr nicht im mindesten gefiel.

»Soll die Prüfung vielleicht noch einmal losgehen?« fuhr es ihr durch den Kopf. »Oder soll sie am Ende gar recht eigentlich erst beginnen?«

Das »Willkommen« erstarb ihr in der Kehle.

Sie gab ihm schweigend den Weg frei und fühlte ein leises Übelbefinden, als müsse sie im nächsten Augenblicke quer durch die Wand in ihr Zimmer hineinfallen.

Statt ihrer öffnete der Alte die Tür.

Es war beinahe, als kenne er sie schon.

»Wo ist Konrad?«

»Konrad?« Er kratzte mit dem kleinen Finger den Seidenrand seiner Perücke. »Ja, mit Konrad ist das so 'ne Geschichte.«

Dann zog er den blanken Chronometer hervor, dessen goldene Kartoffelknollen sich klingend schüttelten, und studierte eifrig das Zifferblatt.

»Wir haben jetzt zehn Minuten über Zwölf … Da kann er schon auf dem Weg zum Bahnhof sein. Ah ja – das kann er schon.«

»Will – er – denn – verreisen?« fragte sie, während der Atem ihr zu fehlen begann.

»Ja, ja, er will etwas verreisen. Ja … Wir haben uns das heute nacht – ja – ja, heute nacht haben wir uns das überlegt. – Und nu will er etwas verreisen, ja.«

»Das ist ja Blödsinn,« dachte sie. »Wie kann er ohne mich verreisen?«

Aber sie hielt an sich, und auf das Spiel eingehend, fragte sie, scheinbar ganz unbefangen: »Wohin will er denn mit einemmal?«

»Ach, bloß 'n kleinen Trip … Nicht der Rede wert. Es bot sich grade 'ne günstige Gelegenheit … In dem Steamer, der nämlich morgen nacht von – Dingsda – na, is egal, von wo – – abfährt, war grade noch 'ne gute Doppelkabine frei – 'ne Außenkabine – nach dem Promenadendeck zu – das sind immer die besten, wissen Sie – das Wasser planscht einem nicht 'rein – und Luftzug hat man auch … Dafür muß man sorgen, immer, besonders die vier Tage im Roten Meer – wissen Sie.«

Also doch! Der Verdacht von vorhin bestätigte sich rascher, als sie geglaubt hatte: die Prüfung ihres Charakters und ihrer Absichten sollte nun erst beginnen.

»Was macht man denn im Roten Meer, Onkelchen?« fragte sie mit ihrem unschuldigsten Lächeln.

»Ja, was macht man im Roten Meer, Kindchen? Das haben sicherlich vor viertausend Jahren die alten Juden genau so gefragt … Und das fragt heute noch jeder, wenn er da unten 'rumschwitzt … Aber wenn man nach Indien will, muß man durchs Rote Meer … Und ich will mal wieder nach Indien. Ich hab' schon lange genug hier auf alte Tontöppe gebuddelt … Und da unser Konrad doch sehr überarbeitet ist – das werden Sie doch zugeben, Kindchen, – so habe ich ihm eben zugeredet, 'n bißchen mitzufahren … Denn das halte ich in solchen Fällen für das einzig Richtige, – sehn Sie.«

Lilly war zu Mute, als ob sämtliche goldene Knollen von Onkels Uhr ihr in der Kehle säßen.

»Dieser Scherz ist keiner von den besten,« dachte sie, »aber weiß Gott, was er damit im Sinn hat.«

Ob man wollte oder nicht, man mußte auch weiter darauf eingehen.

»Dann hätte Konrad aber doch hübsch kommen müssen, Adieu sagen,« erwiderte sie, ein wenig schmollend, als handle es sich um eine Reise nach Dresden oder Potsdam.

»Nu ja, Kindchen, das hat er ja natürlich auch gewollt. Aber ich hab' zu ihm gesagt: ›Siehst du, Junge,‹ hab' ich gesagt, ›das gibt immer so schreckliche Aufregungen, da kann man rein das Schwarzwasserfieber von kriegen‹ … Und das hat er dann auch eingesehen und hat eben mich betraut, die Sache für ihn in Ordnung zu bringen.«

»Also bringen wir beide die Sache in Ordnung,« erwiderte sie mit dem herablassenden Lächeln, das diese ganze Farce allenfalls wert war.

»Wahrscheinlich sitzt er unten im Wagen,« dachte sie, »und wartet auf ein Signal.«

Der Onkel stellte seinen flotten Melonenhut neben sich auf die Erde, lehnte den kurzen Kadaver in Frau Laues Plüschpolster zurück und versuchte ein mitleidiges und gramvolles Gesicht zu machen.

Der alte Bajazzo, der er war!

Am meisten befremdete es sie, daß er die Duzfreundschaft des gestrigen Abends so rasch und so gründlich wieder vergessen hatte. Aber wahrscheinlich gehörte das mit zu dem prüfenden Spiel.

»Wenn's auf mich ankäme, Kindchen,« begann er, »ich kann Ihnen ruhig eingestehen: ich bin total vernarrt in Sie! – Wrapped up – wie ich schon gestern sagte. Ich kenne das Frauensvolk an allen Enden der Erde, und es ist mir klar wie Nußöl: die genteelste Betaklung und die flossigste Seide, die man als Material überhaupt haben kann, das sind Sie … Aber da gibt es Leute, die haben große Rosinen und große Illusionen, wissen Sie … Leute, ganz ohne Ahnung, wie aus 'm Menschlichen immer wieder Menschliches wird … Leute, die sich für was ganz Extras halten und darum vom Schicksal immer 'n Extrawallfisch gebraten haben wollen … Ach, diese Leute, sag' ich Ihnen, diese Leute! … Und da kommen denn natürlich die großen disappointments … Und Vorwürfe … Und Verzweiflung … Und Halstuchaufreißen … Weiß Gott, beinahe geprügelt hätt' er mich heut nacht.«

»Von wem sprechen Sie eigentlich?« fragte Lilly, der bei diesem Gerede immer banger wurde.

»Als ob ich Sie zu dem kleinen overshooting verführt hätte! … Ne, ne … So was mach' ich nich … Menschenfallen leg' ich nich … Und das hab' ich ihm auch zehnmal gesagt … Aber das Malheur is: Wir beide haben uns zu gut verstanden … Wir sind aus demselben Geschäft, wir beide … Wie zwei alte Kabinenbrüder sind wir beide.«

»Wer ›wir beide‹? … Sie und ich?« fragte Lilly in eisigem Erstaunen.

»Ja, Sie und ich, Kindchen. Fall'n Sie man nich aus 'm Mastkorb. Sie und ich. Sie und ich. Sie sind zwar eine fünfundzwanzigjährige splendid beauty und ich ein verdammter alter Narr von Sechzig. Aber das Leben hat uns in gleicher Weise ausgebeutelt … Was soll ich Ihnen da viel erklären? … Haben Sie vielleicht mal zufällig Diamanten gesucht? Ich meine nich grade beim Juwelier … Den Weg werden Sie schon kennen … Also der Diamant – der liegt zwischen festem Gestein, sozusagen in Erdtrichtern, dem sogenannten blue ground … Wenn man so 'n blue ground-Trichter findet – können sich denken – denn da sitzen sie drin … Ich auch mal so losgegraben … Mit zwanzig Leuten – Tag und Nacht – Wochen und Wochen … Jawoll – der blue ground war da, aber die Diamanten waren weggewaschen. Verstehen Sie? … Der Nobelboden is auch bei uns noch da. Aber was ihn recht eigentlich dazu macht, das hat inzwischen der Deibel geholt.«

»Wozu erzählen Sie mir das alles?« fragte Lilly, der vor lauter Ratlosigkeit die Tränen in die Höhe stiegen, denn mit der bewußten Prüfung konnte das doch unmöglich etwas zu tun haben.

»Das will ich Ihnen sagen, Kindchen … Es gibt Leute, die meinen, wenn sie ihr Wort gegeben haben, dann is kein Zurück mehr für sie da … Sie müssen partout 'runterschlucken, was sie im Munde haben, und wenn's 'ne Strychninpille is … Und dagegen mein' ich: Wissentlich ins Unglück soll sich keiner stürzen. Sie nich und er nich … Und weil man die Wolle am besten gleich auf den Schafen wäscht, so bin ich zu Ihnen gekommen und möchte Ihnen eine kleine Proposition machen: Sehen Sie, hier is ein Scheckbuch … Das kennen Sie wohl … Rechts stehen untereinander gedruckt die Ziffern von fünfhundert bis – na, Sie sehn ja … Da schneidet man alles ab, was höher is als die ausgeschriebene Summe, damit ein kleiner Swindler nich auf die Idee kommt, sich mit 'nem kleinen Federstrich 'n kleines Hunderttausend zuzuswindeln … Und nu sehn Sie mal: Dieser Scheck is zwar mit Namen und Datum richtig unterzeichnet, aber die weitere Ausfüllung fehlt noch. Und auch von den Ziffern schneid' ich nichts ab. Denn ich würde mir nie erlauben, Ihnen irgend eine Summe anzubieten. Aber statt dessen ersuche ich Sie, selber zu bestimmen, wieviel Sie zur Weiterführung eines standesgemäßen Lebens nötig zu haben glauben.«

Damit riß er eines der Blättchen aus und legte es vor sie auf den Tisch.

»Gott sei gelobt,« dachte Lilly, »all mein Herzklopfen ist unnütz gewesen.«

Dieser plumpe Hinterhalt mußte ja selbst einem Blinden klar vor Augen führen, daß es sich hier um nichts weiter als eine Probe auf ihre Uneigennützigkeit handeln konnte.

Und darum warf sie den Alten nicht hinaus, wie sie es von Rechts wegen hätte tun müssen und – weiß der Himmel! – auch getan hätte, wenn ein solches Anerbieten im Ernst an sie herangetreten wäre, sondern nahm den Scheck lächelnd vom Tische auf, zerriß ihn sorgfältig in kleine Fetzen und schnippte mit dem Mittelfinger der Rechten ein Häuflein nach dem andern gegen sein Gesicht.

Er rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her.

»Erlauben Sie,« sagte er, »erlauben Sie.«

»Solche schmutzigen, kleinen Scherze erlaube ich durchaus nicht, Onkelchen,« erwiderte sie.

»Aber Sie schlagen ein Vermögen aus, Kindchen. Bedenken Sie mal … Wir haben Sie aus Ihrer Lebensstellung 'rausgerissen. Wir haben Sie sozusagen auf die Straße gesetzt. Wir sind verantwortlich dafür, daß die Sie nicht auffrißt. Und wenn Sie etwa glauben, daß Sie sich durch die Annahme in seinen Augen herabsetzen, so kann ich Ihnen schwören, er weiß gar nichts davon. Und daß er's nie erfahren soll, das schwör' ich Ihnen auch gleich.«

Sie lächelte nur.

Seine kleinen Zwinkeraugen wurden grell und blank. Eine kalte Drohung lag plötzlich darin.

»Oder – haben Sie etwa die Absicht, den guten Jungen gar nicht erst freizugeben? … Denken vielleicht, ihm aus seinem Wort einen Strick zu drehen? Sind Sie so eine – ja?«

»Nein – so eine bin ich nicht.«

Ihr Lächeln ging weit über ihn hinaus. – Es flog dem Geliebten entgegen, der nun bald, bald die Treppen emporstürmen mußte, denn lange konnte er's sicherlich in der Droschke unten nicht mehr aushalten.

»Sein Wort ist in seiner Hand … Er hat es mir nie gegeben. Und wenn er's hätte geben wollen, würde ich es niemals angenommen haben … Und selbst, wenn es wahr wäre, was Sie da sagen, so könnte er ruhig fahren … Auch ruhig wiederkommen könnte er … Es würde ihn von meiner Seite kein Brief und kein Begegnen dran mahnen, was er mir ist und was er mir bleiben wird, solange ich lebe … Aber ich weiß ja, es ist nicht wahr … Er liebt mich, und ich liebe ihn. Und nehmen Sie sich in acht, Onkelchen, daß Sie mit seiner künftigen Frau solchen schändlichen Unfug treiben wie mit Blankoschecks und dergleichen … Wenn ich ihm das wiedersage, dann sind Sie mit einemmal ein einsamer, alter Mann, der sein Vermögen einem Hundeasyl vermachen kann.«

Nun mußte er wohl einsehen, wie er sich verhauen hatte. Und so sehr ärgerte ihn sein Mißgriff, daß er mit einem ärgerlich schnalzenden »Ah!« aus dem Sessel emporsprang und stapfenden Schrittes und mit den Knollen spielend im Zimmer umherrannte.

Dabei murmelte er zwei-, dreimal etwas, das wie »Henkersarbeit« klang.

Aber sie mußte sich wohl verhört haben.

Dann endlich schien er irgend einen Entschluß zu fassen.

Er hielt dicht vor ihr an, legte seine ekligen Hände auf ihre Schultern und sagte, plötzlich wieder zum Duzen übergehend: »Hör mal, Herzchen, Liebchen, Püppchen. Wir rücken ja nicht von der Stelle … So oder so – wir müssen zum Ende kommen … Ach, wenn ich nicht so 'n verdammter, räudiger alter pariah-dog wäre und nicht überdies Rücksicht zu nehmen hätte auf den Jungen, dann wär' die Sache ja höchst einfach. Dann würd' ich jetzt sagen: Kindchen, hast du Lust, so komm mit mir zum nächsten Standesamt. Aber fix, denn ich hab' nich mehr viel Zeit zu verlieren‹ … Sieh mich man nich so an … Jawohl, ich meine mit mir, – mit mir, – und du würd'st es sogar noch nich mal zu bereuen haben … Aber was den Konrad anbelangt, sieh mal, das mußt du dir doch selber sagen: Das geht nich … das stimmt nich … Das heißt vorn und hinten anspannen … Denn er is ein rising man … Er will in die Höhe … Er hat den seligen Glauben noch, und du hast keinen mehr … Du bist allzufrüh unter die große Fleischhackmaschine geraten, die aus uns allen schließlich einen vergnügten, breiigen Wurmfraß macht … Und du selber würd'st dich ja auch nich mal glücklich fühlen mit ihm. Würd'st nich mehr mitkönnen. Würd'st über ihm liegen als eine tote Fracht … Und würd'st es dazu noch immer wissen … Was ihm die Augen geöffnet hat gestern abend, darauf leg' ich nich mal so viel Wert, denn ins Schlingern kommen kann jeder … Ob ein Küstenstrich so aussieht oder so – Sand oder Palmen – ganz egal – aber das Hinterland – darauf kommt's an; – und da seh' ich Steppe – ausgebrannt – müder Boden … Da fliegt kein Vogel mehr … Und da wächst keine Zuversicht mehr … Kriech unter, wo du kannst, Kindchen … Halt dich an die, die dich so weit gebracht haben … Aber den Jungen laß ziehn … Für dich ist der nicht. – Sei aufrichtig, hast du dir das nicht längst selber gesagt?«

Also das war's!

Keine Prüfung war's …

Das Ende … Das Ende …

Sie starrte ins Leere. Ihr war, als höre sie Schritte sich entfernen. – Eine Stufe tiefer und noch eine und wieder eine – immer leiser werdend – immer leiser – wie früher, wenn er sich in der Morgendämmerung hinabgeschlichen hatte.

Bloß daß sie nie wiederkehren würden!

Sie fühlte eine kleine, wurmende Enttäuschung, die um die Herzgrube herum ihr Wesen trieb – mehr nicht. Das Schlimme würde erst kommen, – das wußte sie von früher her.

Und dann sah sie sich selber tanzend und johlend und schweinische Witze erzählend mit schiefgerücktem Hut und hochgehobenen Röcken, – eine betrunkene Dirne.

Sie, die Hoheitsvolle, die Heilige, – eine betrunkene Dirne und weiter nichts!

Nun wußte sie, warum er dagestanden hatte weiß wie der Kalk an der Wand, – warum jener schluchzende Notschrei seinem Munde entquollen war.

Und es war ebensosehr das Mitleid mit ihm wie die Scham über sich, was sie in dieser Sekunde wie mit kochenden Wassern übergoß.

»Wie trägt er's?« stammelte sie.

»Das kannst du dir ja denken,« erwiderte er. »Aber ich meine, ich bring' ihn schon drüber weg.«

»Onkelchen, – ich hab' ja – gar nicht – – wollen!« rief sie aufschluchzend.

»Ich weiß, Kindchen, ich weiß. Er hat mir alles gesagt.«

Für einen Augenblick zuckte der verwundete Stolz hoch in ihr auf. Sie bückte sich, sammelte ein paar der verstreuten Fetzen und zeigte sie ihm in der hohlen Hand.

»Und dann hast du mir das anbieten können?«

»Ja, was sollt' ich machen, Kindchen? Und was mach' ich noch jetzt mit dir?«

»Päh!« … Sie schlug mit beiden Händen nach ihm, und dann warf sie diese Hände um seinen Hals und weinte sich an seiner Schulter fest. War es doch die Stätte, an der vielleicht in dieser Nacht auch Konrads Antlitz weinend geruht hatte.

Noch einmal hub er zu reden an und machte ihr Vorschläge, wie sie ihre Zukunft einrichten solle. Er wolle ihr helfen, ein neues Leben anzufangen, wolle ihr die Mittel geben, ihr großes Darstellungstalent weiterzubilden, wolle ihr den Weg zur Bühne ebnen oder zum Konzertsaal.

Aber sie schüttelte zu allem den Kopf.

»Zu spät, Onkelchen … Müder Boden, hast du selbst gesagt, – wo keine Zuversicht mehr wächst … Allenfalls bis zur Brettldiva könnt' ich's noch bringen. Aber, offen gesagt, das lohnt mir nicht.«

»Die verfluchten Hunde!« knirschte er.

»Was für verfluchte Hunde?«

»Na, du weißt schon, Kindchen.«

Sie dachte nach, wer da wohl in Betracht kommen konnte.

»Es war eigentlich nur einer,« meinte sie. »Nu ja – und doch – noch einer … Und dann eigentlich noch einer … Und dann noch ein paar, aber die zählen nicht.«

»Mir will scheinen, das is ganz genug, Kindchen.«

Mit einem guten Lächeln streichelte er ihre Backe, und sie fand seine Finger gar nicht so eklig mehr.

Sogar mitlächeln mußte sie. Aber dann kam das Weinen wieder.

Der Onkel rüstete sich zum Gehen. Sie umfaßte seine Schultern, sie wollte ihn nicht ziehen lassen. Denn er war ja die letzte Brücke, die ihr abtreibendes Lebensschiff mit dem Lande des Glückes verband.

»Was soll ich ihm bestellen?« fragte er.

Sie richtete sich auf. Ihre Augen weiteten sich. All ihr Jammer wollte sich ausströmen. Ihre verschandelte und weggeworfene Liebe suchte nach Worten, um neu gesühnt und neu geheiligt vor ihm dazustehen.

Aber sie fand keins.

Sie sah sich im Zimmer um, als ob von irgendwoher ihr Hilfe kommen müßte. Die Bilder der längst verstorbenen Mimen lächelten sie an; die einst so beredten waren stumm geworden, stumm wie die eigene Seele. Der eingerahmte Lampenschirm grüßte sie, als grüße sie die Zukunft, die ihr an Frau Laues Seite beschieden war.

»Ich weiß nichts,« stammelte sie.

Aber dann fiel ihr doch noch etwas ein: »Ja, ich lass' ihn fragen – ich lass' ihn fragen, – warum er nicht selber Abschied von mir genommen hat. Ich kenn' ihn doch. Feig ist er nicht.«

Der Onkel machte sein verzwicktestes Gesicht.

»Da du so überraschend vernünftig bist, Kindchen, werd' ich's dir anvertrauen … Gewiß will er Abschied nehmen. Ich hab' ihm sogar gesagt, ich will versuchen, ob ich dich nicht zum Bahnhof schleppen kann.«

Ohne Besinnen schoß sie auf ihren Strohhut los.

»Stop!«

Er hatte die Hand auf ihren Arm gelegt.

Die kleine, dicke Gestalt wuchs in die Höhe.

»Du wirst nicht gehen.«

»Was? Konni wartet auf mich – Konni will mich sprechen – und ich werde nicht gehen?«

» Duwirstnichtgehen, sage ich noch einmal. Wenn du das tapfere Mädel bist, für das ich dich halte, so wirst du das Opfer, das du bringst, nicht wieder zu Schanden machen. Denn das kannst du dir doch an den fünf Fingern abzählen: wenn er dich wiedersieht, dann bleibt ihr doch aneinander hängen.«

Der Strohhut entfiel ihren Fingern.

»Dann – – sag' ihm also, – daß ich ihn – lieben werde – immer – immer – und daß er mein letzter Gedanke sein wird auf Erden – und daß – – ja, mehr weiß ich nicht …«

Er drückte sich schweigend zur Tür hinaus.

Und dann erst brach sie zusammen.


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